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Kapitel 3 Pferdelords 12 – Teil 1

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Das Land des Ostens war einst fruchtbar gewesen, bevor das große Schlachten es verwüstete. Seitdem waren Jahrtausende vergangen und die Natur hatte sich zum großen Teil erholt. Es gab noch immer Wüstenregionen. Im Nordosten die der Ebene von Cantarim und im Südosten die von Cemenghil. Ihre heißen und trockenen Bereiche wurden von den Orks besonders geschätzt, denn sie waren die Hitze von ihren unterirdischen Bruthöhlen gewohnt und Kälte setzte ihnen zu. Im Winter, wenn die Flocken des weißen Totentuches vom Himmel sanken, harrten sie daher in ihren Festungen aus. Dann mussten sie von den Vorräten leben, die während der warmen Jahreszeit gesammelt worden waren. Nur wenige wagten sich in dick gefütterten Rüstungen in die Kälte, wenn der Dienst am Schwarzen Lord dies verlangte.

Um die Wüsten herum war das Land neu erblüht. Es gab fruchtbare Ebenen und weite Wälder, die denen im Westen ähnelten. Das Volk von Rumak beherrschte nicht nur die Schmiedekunst, sondern auch den Ackerbau und die Viehzucht und trug wesentlich dazu bei, die Festungen und Bruthöhlen mit dem Erforderlichen zu versorgen und so die Macht des Herrschers wachsen zu lassen. Orks und Rumaki mochten Verbündete sein, dennoch mieden sie einander, wo es nur ging, denn ihre Bedürfnisse unterschieden sich gewaltig. Für die Rundohren und Spitzohren aus den Bruthöhlen waren die Wiesen, Felder und Wälder nichts als stinkende und modrige Notwendigkeiten, die sie nur deshalb akzeptierten, weil sie der Nahrungsbeschaffung dienten.

Und sie brauchten viel Nahrung.

Immer mehr, denn ihre Zahl wuchs und in den Schmieden der Ork-Festungen und denen der Rumaki entstanden jene Waffen und Rüstungen, die endlich den Sieg bringen sollten. Immer mehr Truppen sammelten sich in den Legionslagern entlang der natürlichen Grenzen, welche die Gebirge bildeten. In den Festungen an den Pässen wartete man auf den Befehl zum Angriff.

Doch dieser ließ auf sich warten.

Den kleinen Spitzohren der Orks, die nicht gerade für ihre Tapferkeit gerühmt wurden, war dies nur recht, doch bei ihren großen Brüdern, den Rundohren, wuchs die Ungeduld, sich endlich bewähren und einen Namen machen zu können.

Doch der Befehl kam nicht.

So lag eine immense Anspannung über den Legionen. Aller Blicke waren gen Antas-Nataar gerichtet, jenem Ort, an dem der Schwarze Lord über alles gebot.

Der schwarze Turm von Antas-Nataar lag im Zentrum des Reiches, dort, wo die fruchtbare Ebene von Ciritharn begann. Es war ein mächtiges Bauwerk, welches zu unglaublicher Höhe aufragte und dessen Silhouette von Weitem zu erkennen war. Das Gebilde bestand aus glattem grauem Stein, der von feinen weißen Adern durchzogen schien, und verdankte seine Bezeichnung „schwarzer Turm“ ausschließlich der Tatsache, dass hier der Schwarze Lord residierte. Der Turm besaß die Form eines spitzen Kegels, der mit der Basis auf dem Boden stand und sich nach oben zu einer schlanken Nadel verjüngte. Diese wurde von einer Kugel gekrönt. Teile des Magierturms waren mit fremdartigen Symbolen verziert, die sich in einem intensiven Blau vom Mauerwerk abhoben.

Vor zwei Jahren war die feuerwerfende Faust des Allerhöchsten durch einen wagemutigen Angriff des Pferdevolkes vernichtet worden. Viele der Grauen Wesen, deren magische Kräfte dem Schwarzen Lord dienten, waren damals umgekommen. Jene hatten auch den Turm bewacht und nun, da es nur noch wenige von ihnen gab, waren einige Kohorten der Rundohren an ihre Stelle getreten. Die unmittelbare Nähe des Herrschers bereitete selbst diesen tapferen Kriegern Unbehagen, umso mehr, da ihnen zugleich der Gestank des „Grünzeugs“ in die Nase stieg. Der Turm von Antas-Nataar befand sich inmitten einer parkähnlichen Anlage, deren Harmonie und betäubende Düfte Übelkeit bei den Orks hervorriefen. Viele versuchten sich zu schützen, indem sie ihre Geruchsöffnungen mit allerlei Hilfsmitteln verstopften.

Die Rundohren gehörten zu den Eisenbrüsten, welche die neuen Rüstungen trugen. Harnische, die nach vorne die Form eines spitzen Keils aufwiesen und an denen ein frontaler Stoß und auch jedes Geschoss abprallen musste. Die Panzerungen waren schwer und unhandlich und doch trugen die Legionäre sie mit Stolz. Während es den kleinen Spitzohren zur gefährlichen Pflicht gehörte, dem Allerhöchsten zu dienen, war es für die Kämpfer der Rundohren auch eine Frage ihrer Ehre. Seit die ersten Exemplare der beiden so verschiedenen Ork-Arten aus ihren Brutbeuteln geschlüpft waren, gab es Rivalität zwischen ihnen. Die Rundohren verachteten die Feigheit der Spitzohren, welche diese hingegen als kluge Zurückhaltung und Überlebensstrategie erachteten.

So tat sich die Ehrenwache am Turm noch immer schwer damit, zu begreifen, dass vor Jahren ausgerechnet eines der Spitzohren den Aufstieg zum Legionsoberführer geschafft hatte. Ein Spitzohr, und zudem eines, dessen Ruf unter den Rundohren noch weitaus schlechter als ohnehin üblich war. Zusätzlich erboste es sie, dass diese schmächtige Kreatur eine Rüstung trug, welche jener der Rundohren nachempfunden war. Für die Krieger symbolisierte Einohr, wie besagtes Spitzohr hieß, ein Subjekt ihres nur mühsam unterdrückten Hasses, die anderen seiner Art sahen in ihm hingegen ein Zeichen des Triumphes, denn die mächtigen Kämpfer mussten einem der Ihren Respekt zollen.

Im Augenblick schritt besagter Einohr den mit Steinplatten ausgelegten Weg entlang, der von der nahen Siedlung durch den Park hindurch zum Eingang des schwarzen Turms führte. Der Legionsoberführer trug seine auf Hochglanz polierte Rüstung und den Helm mit den drei grellroten Querkämmen, die seinen hohen Rang verdeutlichten. An der Seite hing die Nachbildung eines Schlagschwertes der Rundohren, in Größe und Gewicht dem Spitzohr angepasst. Im Gegensatz zu den Kriegern, deren metallene Kampfstiefel die Zehen frei ließen, trug Einohr allerdings weiche Lederstiefel, wie sie bei seiner Art beliebt waren.

„Ich sage dir, eine lange Phase der Finsternis und eine stille Ecke, und ich schlachte dieses aufgeblasene Spitzohr“, knurrte eine der Wachen, deren rötlich gelbe Augen unter dem Helm kaum zu erkennen waren. „Er hat uns mehr tapfere Rundohren gekostet als alle Kämpfe gegen das Pferdevolk.“

„Er versteht sich darauf, zu überleben“, stimmte der andere zu. „Auf Kosten anderer.“

„Ihm ist es gleich, wie viele unserer Kämpfer sterben, Hauptsache, er selbst bleibt am Leben.“

„Auch darin stimme ich dir zu. Er ist eine nutzlose Made und sollte in den Nährschlamm der Bruthöhlen wandern.“ Die zweite Wache fingerte an ihrem Schlagschwert. „Aber der Allerhöchste wird seinen Grund haben, ausgerechnet diese Kreatur zum Oberbefehlshaber erwählt zu haben.“

„Er hat in der Öde von Rushaan versagt und unsere Legionen ins Verderben geführt. Und zuvor ließ er bei der Schlacht von Merdonan seine Legion im Stich, um seine Haut zu retten.“

Der Wachführer der kleinen Gruppe kam heran. Er hatte die letzten Worte gehört, warf einen kurzen Blick zu Einohr, um abzuschätzen, ob die empfindlichen Ohren des Spitzohrs seine Worte wohl vernehmen konnten, und kam zu der beruhigenden Feststellung, dass dies noch nicht der Fall war. „Ich verlor Krieger aus meinem Wurf in der Winterschlacht bei Merdoret. Damals wollte Einohr gegen den Abtrünnigen Fangschlag im Zweikampf antreten und versuchte seine Chancen zu erhöhen, indem er Fangschlag vergiften ließ. Ja, ihr habt recht, Legionäre, es ist eine Schande, diesem Wesen gehorchen zu müssen, doch es ist der Wille des Allerhöchsten. Er lenkt unsere Geschicke seit vielen Jahrtausendwenden und weiß, was zu tun ist.“

„Der Plan“, knurrte eine Wache. „Der lange Plan.“ Der Ork spuckte angewidert aus. „In jeder Legion gibt es Gerüchte über den langen Plan … Bah, unsere Legionen werden immer zahlreicher, wir haben neue Rüstungen und in den Schmieden von Rumak ersinnt man neue Waffen ... Wozu das alles? Wir sind bereit und dem Feind weit überlegen. Worauf wartet der Allerhöchste noch?“

„Halte die Zunge zwischen deinen Lefzen!“, zischte der Wachführer. „Es steht uns nicht zu, die Entscheidungen des Schwarzen Lords infrage zu stellen. Wir folgen seinen Befehlen, das ist der Zweck unseres Daseins. Und nun nehmt Haltung an, der Legionsoberführer ist fast heran.“

Mochten sie Einohr auch verachten, so respektierten sie doch den Rang, den er innehatte. Die Halbkohorte bildete eine perfekte Doppelreihe, das rechte Bein wurde leicht angewinkelt und dann in perfektem Gleichmaß mit dem Fuß auf die Erde gestampft. Gleichzeitig glitten die Schlagschwerter quer vor die Brust. Der Wachführer schlug dröhnend gegen seinen Harnisch und senkte kurz den Kopf.

Einohr, Herr über alle Legionen, wenigstens solange er dem Willen des Allerhöchsten gehorchte, genoss den ihm erwiesenen Respekt. Er war nicht nur verschlagen, sondern auch klug genug, um die wahren Gefühle der Rundohren zu kennen. Lange Jahre hatte er sich unter ihnen ducken müssen, hatte intrigiert und gemordet, um sich allmählich emporzuarbeiten, indem er die Fehler anderer hervorhob und seine eigenen schmälerte. Der Fügung des Schicksals hatte er seinen Aufstieg zu verdanken. Zum Legionsführer und schließlich zum Legionsoberführer. Ein Rang, an den kein anderes Spitzohr zu denken wagte und um den man ihn beneidete. Ja, er wusste, dass er nicht beliebt war und dass die Rundohren darauf hofften, er werde einen baldigen und möglichst qualvollen Tod erleiden, aber der Schwarze Lord hielt seine schützende Hand über ihn.

So mächtig dieser Schutz auch sein mochte, so besaß er dennoch seine Schattenseite. Einohr zählte nicht zu den gewöhnlichen Legionären, die in der Masse der anderen nicht auffielen, sondern er stand im direkten Blickfeld des Herrschers. Eines Wesens, welches nicht für seine Langmut bekannt war und das grausame Strafen kannte. Seitdem der Allerhöchste den größten Teil seiner grauen Magier eingebüßt hatte, war Einohr sich der verstärkten Aufmerksamkeit des Schwarzen Lords gewiss. Jeder Besuch in dessen Turm erfüllte den Legionsoberführer mit nagenden Zweifeln. Welchen Grund gab es für die Aufforderung, heute nach Antas-Nataar zu kommen? Wartete ein neuer gefährlicher Auftrag auf ihn oder war er gar in Ungnade gefallen?

Einohr verstand sich wie kaum ein anderer Ork darauf, Verantwortung zu delegieren. Nicht, weil er auf die Fähigkeiten anderer vertraute, sondern weil er so die Schuld abwälzen konnte, wenn nicht alles nach dem Wunsch des Gebieters verlief. So, wie es vor zwei Jahren bei der Faust geschehen war. Einohr hatte nur durch seine Erfahrung und Schläue überlebt und war unendlich erleichtert, dass der Herrscher ihm keine Schuld an dem Desaster gab. Das Spitzohr schrieb dies einer gewissen Naivität des Allerhöchsten zu. Er mochte ein überaus mächtiges Wesen sein, doch sein Handeln war oft unerklärlich und, zumindest in Einohrs Augen, keineswegs immer klug. Andererseits verfügte ein unsterbliches Wesen vielleicht auch über Wissen, welches einem Spitzohr verborgen blieb.

Einohr schien ganz in Gedanken versunken und reagierte kaum auf die Respektbezeugung der Wache, während er an ihrer Front entlangschritt und mit düsterer Miene zum Eingang des Turms blickte, wo ihn einer der wenigen überlebenden Grauen erwartete.

Auf die Entfernung hatte man den Eindruck, als stehe dort ein ungewöhnlich großer Menschenmann, eingehüllt in eine lange rote Robe, deren Kapuze den Kopf verbarg. Das Gesicht lag tief im Schatten. Doch sobald sich die Gestalt bewegte, war ihre Andersartigkeit offensichtlich. Dann wurde der Schwanz eines schuppigen Reptils sichtbar.

Einohr waren die Grauen Wesen, wie man die Magier des Allerhöchsten nannte, stets unheimlich und bedrohlich vorgekommen und diese Empfindungen teilte er wohl mit nahezu allen Wesen im Reich der Orks. Diese Kreaturen beherrschten mächtige Zauber und konnten ihre Gestalt verändern. Der Schwarze Lord hatte sie immer als seine direkten Stellvertreter in den Bruthöhlen und den Legionsfestungen eingesetzt. Doch all ihre Macht hatte die langlebigen Grauen nicht vor einem gewaltsamen Tod bewahren können.

Der kleine Legionsoberführer kannte das Wesen, welches sein Antlitz noch vor ihm verhüllte. Es war Bar´Ses, das einzige Graue Wesen, welches die katastrophale Zerstörung der Faust überlebt hatte. Nun griff es mit den krallenbewehrten Händen an die Kapuze und schlug sie zurück. Der schlanke Schädel mit der lang gestreckten Schnauze wurde sichtbar. Grünbraun gesprenkelte Schuppen bedeckten den Leib. In den gelben Augen schimmerten schwarze geschlitzte Pupillen. Bar´Ses war stets der Mächtigste der Grauen gewesen und galt als Augen und Ohren des Schwarzen Lords. Einohr wusste aus Erfahrung, dass ihm der gefährliche Reptilier nicht wohlgesinnt war.

„Er erwartet uns“, sagte Bar´Ses mit dem typischen leichten Zischen in seiner Stimme anstelle einer formellen Begrüßung. „Er ist ungeduldig.“

„Er ist immer ungeduldig“, murrte Einohr. Darin lag verborgene Kritik am allerhöchsten Gebieter, doch dem schlauen Legionsoberführer war sehr wohl aufgefallen, dass Bar´Ses ganz offensichtlich auf ihn gewartet hatte. Scheinbar scheute sich der Magier davor, alleine vor den Herrscher zu treten, und dies zeigte an, dass das Graue Wesen unsicher und sogar verletzlich war. Einohr hatte in all den Jahren seines Aufstiegs ein Gespür für solche Dinge entwickelt.

Sie traten in den Eingang und fanden sich übergangslos in einem Raum wieder, der zweifellos innerhalb der Kugel, an der Spitze des Turms, lag. Beide kannten dieses Phänomen inzwischen und hatten aufgegeben, darüber nachzudenken, welche Magie damit verbunden sein mochte. Der Turm von Antas-Nataar war das ureigene Refugium des Gebieters und würde wohl so manches Geheimnis seines Herrn bewahren.

Die runde Wand, wenn man sie denn so nennen mochte, schien aus einer einzigen Scheibe Klarstein zu bestehen und bot einen außergewöhnlichen Ausblick über das Herrschaftsgebiet des Allerhöchsten. Aus dieser Höhe konnte man das Meer sehen und ebenso die Ausläufer der Gebirge des Uma´Roll und des Noren-Brak. Bei solch einem Blick verloren sich die Details, doch der Gesamteindruck war atemberaubend. Einohr mied die Nähe des Klarsteins, denn wenn er in die Tiefe sah, so empfand er schieres Entsetzen und ihm wurde schwindlig. Er war dankbar für den festen Boden unter seinen Füßen.

Die Einrichtung des sehr großen Raumes war karg: ein paar farbige Säulen aus Kristall, ein Tisch aus feinstem Klarstein und ein paar filigrane Sitzmöbel, die, in ihrer feinen Ausführung und Schnitzkunst, an die Arbeiten des elfischen Volkes erinnerten. Diese hölzernen Möbel und ein frei stehendes Regal waren die einzigen Gegenstände, die für Einohr vertraut wirkten.

In der Mitte befand sich die große Karte. Sie bestand aus einem riesigen Tisch von sechseckiger Grundform, auf dem alle bekannten Örtlichkeiten und geografischen Gegebenheiten sorgfältig modelliert worden waren.

Hier stand der Schwarze Lord.

Er hatte die äußerliche Form eines Menschenmannes und auch dessen Größe, doch davon ließ Einohr sich nicht täuschen. Die Gestalt schien von den Stiefeln bis zu ihrem Helm aus schwarzem Kristall zu bestehen. Die Oberfläche schimmerte seidig und war vollkommen glatt und doch erkannte man jede Falte oder Naht der Bekleidung. Auch das Gesicht und die Augen waren schwarz, wobei Letztere ein furchteinflößendes Funkeln erkennen ließen. Es erinnerte ein wenig an den Anblick des nächtlichen Sternenhimmels und wer in diesen hineinsah, drohte darin zu versinken. Manchmal wechselten die Augen ihre Farbe und niemand vermochte wirklich zu deuten, ob dies die Stimmung des Herrschers widerspiegelte.

Der Schwarze Lord stand über den Kartentisch gebeugt. Einohr und Bar´Ses fühlten sich gleichermaßen unsicher, ob sie sich bemerkbar machen sollten. Sicher hatte das übermächtige Wesen sie ohnehin längst bemerkt, doch im Augenblick galten seine Gedanken wohl anderen Dingen und so war es angemessen, abzuwarten, bis sich der Gebieter ihnen zuwandte.

„Gemessen an seiner Bedeutung wirkt seine Gestalt so menschlich und klein“, raunte Bar´Ses.

„Lass dich dadurch nicht täuschen, Graues Wesen.“ Einohr leckte sich nervös über die Lefzen. „Einst besuchte der Herrscher die Festung von Cantarim und seine Gestalt ragte in der Ferne gut zehn Längen auf. Ein Gigant, der erst zu normaler Größe schrumpfte, als er uns wartenden Legionären immer näher kam. Ich kann dir sagen, dass es ein furchteinflößender Anblick war. Selbst von den tapferen Rundohren sind manche in Ohnmacht gefallen.“

Bar´Ses sah ihn an und verzog seine schmalen Lippen zu einem Lächeln. „Und wie erging es den weit weniger tapferen Spitzohren?“

„Ich fiel jedenfalls nicht in Ohnmacht“, erwiderte Einohr triumphierend und verschwieg dem Magier wohlweislich, dass er damals vor Entsetzen unter sich gemacht hatte.

„Ich war selbst in Cantarim dabei“, knurrte der Reptilier. „Damals war ich dort Brutmeister und auch für die Waffenschmiede verantwortlich.“ Er lächelte kalt. „Du musst das noch sehr gut wissen, nicht wahr?“

„Die Ferntöter, ja“, murmelte Einohr. Er wurde nicht gerne an dieses Kapitel seiner Geschichte erinnert.

Vor vielen Jahren war Einohr der Kommandeur der neuen Ferntöter, die man in der Festung Cantarim baute. Damals hatte noch der verhasste Fangschlag den Posten des Legionsoberführers innegehabt. Es herrschte großer Mangel an Eisenerz, denn es war die Zeit vor dem großen Erderzittern, welches die neuen Erzadern an die Oberfläche gehoben hatte. In jenen Tagen versprach die nördliche Öde des einstigen Menschenreiches Rushaan stattliche Beute und der Allerhöchste wollte seine Legionen entsenden, um sich die Rohstoffe zu sichern und auch einen neuen Weg ins Reich der freien Völker zu erkunden. Doch die Öde war nicht so herrenlos gewesen, wie man glaubte. Die Paladine Rushaans und das verfluchte Pferdevolk waren über die Legionen hergefallen und die verdammten Zwerge hatten ebenfalls noch mitgemischt. Die Legionen waren vernichtet worden und Einohr hatte nur mit Mühe entwischen können. Er war klug genug gewesen, die Batterie seiner Ferntöter und ein paar Kohorten der Rundohren, die sie schützten, den Pferdelords zum Fraß vorzuwerfen. Das verschaffte ihm die Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, und zugleich die Feindschaft Fangschlags. Das Rundohr war von den Menschen gefangen worden und kämpfte nun an deren Seite. Einohr wusste nur zu gut, was den Abtrünnigen antrieb – der innige Wunsch, ihn zu töten. Als die Faust vernichtet wurde, wäre es dem Rundohr beinahe gelungen und Einohr war wieder einmal nur mit knapper Not entkommen.

„Kommt näher.“

Die Laute schienen im Raum zu hängen. Ein sanftes Vibrieren, das alles erfüllte.

Einohr und Bar´Ses senkten rasch das Haupt, um dem Allerhöchsten ihren Respekt zu zollen, dann beeilten sie sich, seiner Aufforderung nachzukommen. Die schwarze Gestalt streckte einen Finger aus. Auf der Karte gleißte plötzlich eine winzige blaue Flamme. Im ersten Augenblick glaubte Einohr, das Modell werde zu brennen anfangen, doch das Feuer schwebte über einer ganz bestimmten Stelle und brannte mit ruhiger Flamme.

„Der Hammerturm an den Furten des Eisen, im Reich des Pferdevolkes.“ Eine zweite Flamme erschien. „Der Turm von Lemaria im vergangenen Reich von Jalanne.“ Ein drittes Aufglühen. „Antas-Nataar.“ Plötzlich weiteten sich die Flammen zu dünnen Linien und auf der Karte entstand ein nahezu perfektes Dreieck. „Die drei Türme der Weißen Magier hielten das Gleichgewicht aufrecht. Sie ließen die freien Reiche ihre einstige Macht vergessen. Und ihre Gehilfen, die Grauen Magier, unterbanden jeden erneuten Fortschritt. Sie brachten den heimlichen Tod und nahmen jene mit sich, die geeignet erschienen, einst selbst zu Grauen Wesen zu werden. Doch dann erlosch die Macht des Hammerturms.“

„Das Pferdevolk ist ein mächtiger Feind“, warf Einohr ein. „Mit seinen Pferden …“

„Schweig, du Narr.“ Die Stimme hatte einen drohenden Unterton und die gesunde grüne Gesichtsfarbe des kleinen Orks wurde fahl. „Die Pferdelords hatten damit nichts zu schaffen. Der Weiße Zauberer war betrunken und stürzte vom Turm. Ein Narr, dessen Dummheit die geeinte Macht der Magie schwächte.“ Das flammende Dreieck erlosch. Stattdessen breiteten sich zwei Feuerkreise aus, deren Zentren die beiden verbliebenen Türme waren. Sie überschnitten sich, dennoch bewirkte der Wegfall des Hammerturms eine deutliche Lücke. „Doch du hast nicht ganz unrecht, Einohr, denn der Magierturm von Jalanne kam zu Fall, als die Pferdelords und die Gardereiter Alnoas ihn bestürmten.“ Ein ausgestreckter Finger wies nun auf Einohr, der befürchtete, jeden Augenblick selbst in Flammen zu stehen. „Zwei Namen sind mit dem Fall der Magier von Lemaria verbunden … Nedeam und Fangschlag.“

„Fangschlag.“ Der Hass in Einohrs Stimme war nicht zu überhören.

„Eure Feindschaft ist mir wohl bekannt.“ Eine amüsierte Schwingung füllte den Raum. „Manchmal frage ich mich, was wohl stärker sein mag: dein Hass auf Fangschlag oder deine Furcht, zu sterben. Es wird interessant sein, dies zu beobachten.“

Die schwarz funkelnden Augen richteten sich auf den Reptilier. „Kaum eine Handvoll deiner Art ist mir geblieben, nun, da die Entscheidung naht.“

„Sie naht schon eine ganze Weile, die Entscheidung.“ Es war Einohr einfach so herausgerutscht und als ihm bewusst wurde, was er da gesagt hatte, verlor sein fahles Gesicht nahezu alle Farbe. „Die Rundohren“, fügte er hastig hinzu. „Sie sind ungeduldig.“

„Ja, sie sind bereit, zu kämpfen“, stimmte der Allerhöchste zur Erleichterung des Orks zu. „Dafür wurden sie geschaffen. Doch alles braucht den richtigen Zeitpunkt.“

„Doch erlaubt mir die Frage, allerhöchster Gebieter … Wann ist dieser Zeitpunkt gekommen?“ Bar´Ses trat ohne Scheu näher an den Allerhöchsten heran. „Versteht mich nicht falsch, Gebieter, ich gehöre gewiss nicht zu jenen, die vorschnell in einen Kampf ziehen, aber die Festungen sind voller Legionäre. Zusätzliche Lager müssen errichtet werden, um sie alle aufzunehmen. Die Versorgungslage wird schwieriger, je mehr Truppen bereitstehen. Viel Nahrung muss über weite Wege herangeschafft werden. Ihr wisst, Allerhöchster, vor allem die Rundohren sind außerordentlich verfressen.“

„Sprich ruhig, Bar´Ses. Du gehörst zu jenen, die ihre Worte bedenken.“

„Herr, wir haben in den vergangenen Jahreswenden manche Schlacht und auch kleinere Kämpfe mit den Menschen und den Zwergen ausgetragen. Nie warfen wir unsere gesamte Macht in die Waagschale, stets nur einen geringen Teil. Ich soll sagen, was ich denke, und so tue ich dies auch: Wir erlitten Niederlage um Niederlage, da wir unsere wahre Stärke niemals zeigten.“

Fraglos stellte der Reptilier die strategischen Fähigkeiten des Oberherrn infrage. Einohr wartete darauf, dass sich das Graue Wesen nun in Asche verwandelte, doch stattdessen nickte der Schwarze Lord.

„Du hast recht, Bar´Ses, doch das hat seinen guten Grund. Ein entscheidendes Zeichen fehlt noch, um den langen Plan endlich vollenden zu können.“

„Doch was für ein Zeichen ist das, Gebieter?“ Der Graue Magier deutete in einer ausholenden Geste um sich. „Alles ist für den großen Sturm der Vernichtung bereit. Wann wird das Zeichen kommen? Wann werdet Ihr uns den Befehl zur Auslöschung der Feinde geben?“

„Der Zeitpunkt ist näher, als ihr denken mögt.“ Die schwarz schimmernde Gestalt trat vom Kartentisch zurück und schritt zu der großen Panoramascheibe. In einer sehr menschlich wirkenden Geste legte sie ihre Hände auf dem Rücken ineinander.

Einohr und Bar´Ses warteten auf eine weitere Erklärung, doch diese folgte nicht. Unschlüssig standen sie eine Weile am Kartentisch. Sollten sie sich entfernen oder noch warten, ob der Gebieter sich erneut an sie wenden würde? Einohr begann unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Der Allerhöchste wandte sich ihm zu. „Du darfst dich entfernen, Spitzohr. Ich kenne die Geschwätzigkeit deiner Art und was ich noch zu sagen habe, ist nur für Bar´Ses´ Ohren bestimmt.“

Der kleine Ork leckte sich über die Lippen. Er fragte sich, wozu er in den Turm befohlen worden war, denn der Allerhöchste hatte ihm nichts Neues eröffnet. Aber die Weisung war deutlich und so verneigte er sich leicht. Schon im nächsten Augenblick fand er sich vor dem Eingang des Turms wieder.

Der Herrscher wandte sich jetzt dem Grauen Wesen zu. „Wie ich es sagte, Bar´Ses, mir sind nur wenige Graue Wesen geblieben. Eure Fähigkeiten sind mir wertvoll und ich will eure Existenz nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Dennoch habe ich eine Aufgabe für dich, die deinen Tod bedeuten kann.“

„Mein Dasein für Euch, Gebieter.“

„Es geht um Merdonan, die Hauptstadt der Ostmark des Pferdevolkes, und darum, mir ein paar Informationen zu beschaffen.“

„Dann braucht Ihr meine gestaltwandlerische Fähigkeit, Allerhöchster.“ Es war eine schlichte Feststellung.

„Ich brauche Wissen, wie es nur die Vertrauten des Pferdefürsten der Ostmark besitzen. Kein Rumaki der Bruderschaft des Kreuzes könnte in diese Kreise vordringen. Das Pferdevolk achtet sehr genau auf die verräterischen Tätowierungen.“

„Wissen welcher Art, Allerhöchster?“

„Kenntnisse, wie sie nur die Vertrauten des Pferdefürsten der Ostmark besitzen. Du musst einen von ihnen töten und seinen Platz einnehmen und mir verschaffen, was ich noch benötige. Danach kehre zu mir zurück. Achte darauf, dass niemand dein Handeln erkennt.“

„Welches Wissen benötigt Ihr?“, hakte der Graue nach. Als der Schwarze Lord es ihm erklärte, rundeten sich die Schlitzpupillen des Reptiliers überrascht. Er wollte erneut eine Frage stellen, doch eine Geste gebot ihm, zu schweigen. „Die Zeichen mehren sich, Bar´Ses, und die Entscheidung steht bevor. Doch ehe es zur Vernichtung kommt, muss ich mit ihm sprechen.“

„Doch warum ausgerechnet mit dem Pferdefürsten der Hochmark?“

„Nedeam ist von großer Bedeutung für die Verwirklichung des langen Plans.“


Die Pferdelords 12 - Der Ritt zu den goldenen Wolken

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