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Die Welt nach Alexander

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Alexander starb am 10. Juni 323 v. Chr. in Babylon. Er hatte in den zehn Jahren, die seit seinem ersten großen Sieg über den Perserkönig Dareios vergangen waren, dessen Reich vernichtet; er hatte den Oxos in Zentralasien überschritten, war über den Hindukusch gezogen und durch die Wälder Indiens; er hatte seine Soldaten auf den Todesmarsch durch die Gedrosische Wüste geschickt und Pläne für die Eroberung der Arabischen Halbinsel, vielleicht sogar Italiens geschmiedet. Alexander war der Zerstörer eines Weltreiches, aber er hatte kein neues Imperium errichtet. Das „Alexanderreich“ hat nie existiert. Es ist eine Erfindung der Nachwelt. Neue Imperien auf den Trümmern des alten aufzubauen, überließ er seinen Nachfolgern, denen er auf dem Sterbebett einen epischen Kampf um sein Erbe vorhergesagt hatte. Auf die Frage, wem er es hinterlasse, soll er geantwortet haben, „dem Stärksten“.34

Eine volle Generation dauerte es, bis sich die territorialen Besitzstände in der Welt, die zuerst der Historiker Johann Gustav Droysen (1808–1884) die „hellenistische“ genannt hat, halbwegs konsolidiert hatten. Drei große Reiche gingen aus den blutigen Kämpfen hervor, die nach Alexanders Tod entbrannten: das Antigonidenreich im Mutterland Makedonien, das Seleukidenreich in Asien und das Ptolemaierreich in Ägypten. Dazu kam eine Handvoll mittelgroßer Staaten, die durch Lavieren zwischen den Großmächten zu überleben versuchten: Rhodos, Pergamon, der Aitolerbund und der Achaiische Bund in Griechenland und die alten Poleis Athen und Sparta, deren Kräfte sich allerdings weitgehend erschöpft hatten.

Vor allem zwischen den Großmächten herrschte nahezu permanenter „Kalter Krieg“, der sich immer wieder in heißen Waffengängen entlud. Umkämpfter Zankapfel zwischen Seleukiden und Ptolemaiern war Syrien. Es ging um Prestige, aber auch um handfeste ökonomische Interessen. Wer Syrien besaß, kontrollierte Phönizien und die Karawanenwege ins Hinterland. Die Küste der Levante bildete noch immer das Drehkreuz des mediterranen Fernhandels, die entscheidende kommerzielle Schnittstelle zwischen dem Mittelmeer und Vorderasien. Wichtig war Syrien vor allem deshalb, weil der Fernhandel im Hellenismus enormen Auftrieb erhalten hatte. Statt kleiner Stadt- und Stammesstaaten waren jetzt Imperien zur milieuprägenden politischen Struktur im östlichen Mittelmeer geworden. Die großen Reiche unterhielten Höfe und verfügten über Eliten, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellten. In Metropolen wie Alexandreia, dem syrischen Antiocheia oder dem babylonischen Seleukeia konzentrierte sich eine Kaufkraft, die selbst große Poleis wie Athen oder Korinth nie besessen hatten.

Die Mächtigen und Reichen verlangte es beständig nach neuen Luxusgütern.35 Womit ließ sich Status besser demonstrieren als mit Dingen, die unerschwinglich teuer waren? Und was war teurer als das, was selten und exotisch war? Exotisch waren Perlen, Juwelen, Elfenbein, Gewürze – all das kam aus Ländern, die weit entfernt lagen vom Mittelmeer, aus Indien oder dem Innern Afrikas. Am allerexotischsten war Seide, die im fernen China hergestellt wurde und mit der Griechen und Makedonen durch Alexander und womöglich vor ihm schon über die Perser in Berührung gekommen waren. Seide wurde über mehrere Zwischenstationen über Indien in den Westen verhandelt. Die Westküste des indischen Subkontinents war eine einzige Einkaufsmeile des Luxus: Hafenstadt reihte sich hier an Hafenstadt, und überall gab es die Güter, die Händlern im fernen Westen förmlich aus der Hand gerissen wurden.36 Dass es möglich wurde, sie auf dem Seeweg ins Mittelmeer zu transportieren, verdankte sich dem immensen Zuwachs an geographischem Wissen und insbesondere der Nutzung der Monsunwinde, deren Bedeutung bereits Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. der in persischen Diensten stehende griechische Geograph Skylax entdeckt hatte. Der ptolemaiische Admiral Philon hatte um 300 v. Chr. die Küsten des Roten Meeres systematisch erkundet. 277 v. Chr. war der Nauarch Pythagoras die Küste Arabiens entlanggesegelt. Währenddessen erarbeiteten in Alexandreia die berühmtesten Gelehrten ihrer Zeit ein ganz neues Bild des Planeten Erde: Eratosthenes von Kyrene bewies im späten 3. Jahrhundert v. Chr. nicht nur die Kugelgestalt des Globus, dessen Umfang er – wenn auch nicht präzise – berechnete; er war auch der Schöpfer einer neuen Weltkarte auf mathematischer Grundlage, in der er zugleich das seit Alexander dem Großen erheblich vermehrte Wissen um die physische Gestalt ferner Länder einarbeitete. Damit stand ein Großteil des theoretischen Wissens zur Verfügung, das den Sprung über den Indischen Ozean für Seefahrer und Kaufleute erlaubte.37

Die neuen Möglichkeiten, die sich der Weitung des geographischen Wissens verdankten, dokumentiert ein einzigartiger Text, der in seiner jetzt vorliegenden Form wohl aus der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. stammt, seinem Kern nach aber wesentlich älter ist und auf das 2. Jahrhundert v. Chr. zurückgehen dürfte, als der Seeweg nach Indien noch entlang den Küsten Arabiens und Persiens führte. Der sogenannte Periplus Maris Erythraei ist ein Handbuch für seefahrende Kaufleute und, wie sein Titel besagt, ein Wegweiser zur „Umsegelung“ (periplus) des Indischen Ozeans (mare Erythraeum). Penibel listet es die Häfen an den Küsten von Rotem Meer und Indischem Ozean,38 die dort erhältlichen und nachgefragten Waren sowie die Entfernungen auf, die an den Küsten Arabiens, Indiens und Afrikas entlangsegelnde Schiffe jeweils von Hafen zu Hafen zurückzulegen hatten. Außerdem erfährt der interessierte Kaufmann Wissenswertes über Botanik und Fauna. Unverzichtbar sind ethnographische Informationen, denn selbstverständlich will der Leser wissen, wo er eine unfreundliche Aufnahme zu erwarten hat. Im Besitz von Informationen konnten Händler gezielt die Häfen ansteuern, wo sie ihre Waren absetzen und die sie interessierenden Güter ererben konnten. Das Einzugsgebiet des Periplus ist erstaunlich weit gespannt: Es reicht von Ägypten ausgehend im Süden entlang der Ostküste Afrikas bis in das heutige Tansania; im Osten bis zur Südspitze Indiens und sogar darüber hinaus, bis zum Mündungsgebiet des Ganges.39

An der Wende zum 2. Jahrhundert v. Chr. verloren die Ptolemaier Syrien endgültig an die Seleukiden – und damit ihren Fuß in der Tür des landgestützten transeurasischen Fernhandels. Die neue geostrategische Lage veranlasste Alexandreia, angestrengt nach Alternativen Ausschau zu halten. Um 150 v. Chr. war man im Westen ziemlich genau über die Südausdehnung des indischen Subkontinents im Bilde, eine wichtige Voraussetzung dafür, dass man die Fahrt quer über den Ozean wagen konnte, ohne befürchten zu müssen, an Indien vorbeizusegeln. Wenig später gelang auch die Wiederentdeckung der Monsunpassage. Gegen Ende des Jahrhunderts befuhr Eudoxos von Kyzikos den Seeweg vom Roten Meer um die Arabische Halbinsel und auf dem direkten Seeweg bis nach Indien und gab sein Wissen vermutlich an einen gewissen Hippalos weiter, der bei Plinius als Entdecker des direkten Seewegs nach Indien gilt.40 Vor dem Monsun konnten Schiffe im Spätsommer in gut zwei Monaten nach Indien segeln; die Rückfahrt trat man im Dezember an, wenn der Monsun aus Osten wehte. Im Jahresrhythmus segelte so eine ganze Flotte von Handelsschiffen nach Indien und zurück, Menschen mit mediterranem Migrationshintergrund ließen sich in den Hafenstädten der indischen Westküste nieder und Güter von unschätzbarem Wert fanden ihren Weg über den Indischen Ozean.41

Von Ausdehnung und Volumen des bis vor Kurzem noch grandios unterschätzten Warenverkehrs zwischen Indien und dem Westen künden nicht nur unzählige Schiffswracks und die stetig wachsende Anzahl der Funde aus Indien selbst, sondern auch ein weiteres Textdokument, das allerdings nicht aus der hellenistischen, sondern bereits der römischen Epoche stammt. Es handelt sich um einen Darlehensvertrag, der im 2. Jahrhundert n. Chr. in der indischen Hafenstadt Muziris abgeschlossen wurde. Solche „Seedarlehen“ waren gängige Praxis, weil kaum ein Kaufmann genügend Kapital besaß, um in größerem Umfang Fernhandelsgüter vorzufinanzieren. Auf der Vorderseite des Muziris-Papyrus sind die Bedingungen verzeichnet, zu denen das Darlehen gewährt wird: außer einer Sicherheitsklausel vor allem ein genaues Itinerar, von dem allerdings nur der letzte Teil erhalten ist, der den Weg vom Roten Meer durch die Wüste zum Nil und von dort stromabwärts bis Alexandreia beschreibt. Noch instruktiver ist die Rückseite, auf der die Waren und ihr Wert verzeichnet sind: Der Kaufmann transportiert auf seinem Schiff Narde, eine zur Herstellung von Ölen und Salben genutzte Heilpflanze aus dem Himalaja, Elfenbein und Textilien sowie vermutlich, des hohen Preises wegen, Seide. Die Ladung hatte einen Gesamtwert von über 1150 Talenten; umgerechnet nicht weniger als sieben Millionen Denare. Bedenkt man, dass der Jahressold eines Legionärs im 2. Jahrhundert n. Chr. bei maximal 500 Denaren lag, wird ersichtlich, was für schwindelerregende Werte ein einziges Schiff über den Indischen Ozean bewegte. Deutlich wird auch, wer alles an dem Handel mitverdiente: Bankiers, Agenten, Seeleute, Kameltreiber, Stammeshäuptlinge, durch deren Gebiet die Karawanen zogen, und nicht zuletzt Vater Staat. Stolze 25 Prozent des Warenwerts schöpfte die kaiserliche Finanzverwaltung in Alexandreia in Form von Zöllen ab.42

Der Text ist ein einzigartiges Dokument für die bis in die römische Kaiserzeit rapide vorangeschrittene Verflechtung zwischen so unterschiedlichen Räumen wie dem Mittelmeer und dem indischen Subkontinent. Der Indische Ozean war längst keine trennende Wasserwüste mehr, sondern zur Drehscheibe eines Fernhandels geworden, der den gesamten eurasischen Großkontinent erfasst und seine Ränder miteinander vernetzt hatte. Der Muziris-Papyrus liefert uns zwar nur eine Momentaufnahme aus der römischen Kaiserzeit, aber die Zeugnisse insgesamt lassen erkennen, dass Alexanders Eroberung des Orients zu einem qualitativen Durchbruch für die Verflechtung des Mittelmeerraumes mit der weiten Welt Eurasiens führte und die folgenden drei Jahrhunderte jeweils weitere bedeutende quantitative Zuwächse brachten. Diese Entwicklung fand ihr Echo auch im Mittelmeer selbst, wo das Volumen des Seehandels stetig anwuchs, wie die Funde von Schiffswracks dokumentieren: Die Schiffswrack-Datenbank des Oxford Roman Economy Project weist für das östliche Mittelmeer für die Zeit um 200 v. Chr. einen steilen Anstieg aus. Bis in die römische Kaiserzeit blieb das sich in den Wracks niederschlagende Volumen des Schiffsverkehrs in dem Seegebiet hoch.43


Anzahl der gefundenen Schiffswracks im östlichen Mittelmeerraum, 2000 v. Chr. bis 1500 n. Chr.

Die Welt nach Alexander dem Großen unterschied sich grundlegend von der vor ihm: Europa war nicht länger lediglich der Wurmfortsatz eines zivilisatorisch, ökonomisch und militärisch haushoch überlegenen Vorderen Orients, sondern vielfältig eingebettet in ein eurasisches System, dessen zwei Flanken, das Mittelmeer und der Ferne Osten, über Indien und den Indischen Ozean miteinander verflochten waren. Sozio-politische Umwälzungen an einem Rand des Systems – wie der Siegeszug großer Territorialmonarchien in der Nachfolge Alexanders – zeitigten messbare Folgen am entgegengesetzten Ende: in diesem Fall im China der Han-Kaiser, wo die proto-industrielle Produktion von Seide ab dem späten 3. Jahrhundert v. Chr. einem ersten Höhepunkt zustrebte.44 Den Schlüssel zu den Reichtümern des Orients hielt vorerst Ägypten in Händen, von dessen Rotmeerhäfen der Seehandel über den Indischen Ozean abgewickelt wurde, zuerst entlang den Küsten, später auf der Monsunpassage quer über den Ozean. Vorderasien, und mit ihm Syrien, spielten im Hellenismus bestenfalls eine Nebenrolle.

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