Читать книгу Palmyra - Michael Sommer - Страница 9

Vexierbilder

Оглавление

In der jüngeren Forschung stehen einander im Wesentlichen zwei vollkommen gegensätzliche Palmyra-Bilder gegenüber, die sich am besten als „okzidentalistisch“ und „orientalistisch“ bezeichnen lassen: Die okzidentalistische Schule der Palmyra-Forschung betont die enge Verwandtschaft, wenn nicht Identität, Palmyras mit den Städten der griechisch-römischen Welt. Für sie ist die Gesellschaft, die sich ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. in der Oase entwickelte, das Produkt einer mit dem hellenistischen Osten und dem römischen Imperium geteilten Geschichte; Kultur und Institutionen seien aus dem Mittelbeerbecken in die Oase gleichsam diffundiert; durch konsequente Hellenisierung und Romanisierung habe Palmyra in rund hundert Jahren den Weg von der Oasensiedlung zur „griechischen Stadt“ zurückgelegt.18 Die okzidentalistische Hypothese ist im Kern ein Evolutionsmodell, das die stetige Verwandlung einer nach griechischen und römischen Begriffen fremden in eine mit diesen Kategorien kommensurable Gesellschaft meint beobachten zu können.

Demgegenüber betont die orientalistische Hypothese die Andersartigkeit Palmyras im Vergleich zu Hellas und Rom, in nahezu jeder Beziehung. Im Mittelpunkt steht hier nicht Identität, sondern Alterität. In ihrer reinsten Ausprägung findet sich die orientalistische Deutung bei dem Archäologen Warwick Ball, der zwar das Einströmen einer „westlichen“ Formensprache in die materielle Kultur nicht nur Palmyras, sondern des gesamten römischen Ostens anerkennt, den Gebrauch dieses Vokabulars aber für reinen Firnis hält: Im römischen Nahen Osten sei es möglich gewesen, eine iranische Tempelcella mit einer korinthischen Kolonnade zu versehen und die dort verehrten Götter statt Melqart, Dušara und Atargatis Zeus zu nennen oder Artemis. Man habe die gleiche Kolonnade um einen Hofhaustempel mesopotamischer Tradition stellen können und die eigentliche kultische Funktion des Gebäudes oberflächlich tarnen können. Durch solchen Zierrat sei der Tempel aber nicht der Substanz nach römisch geworden, sondern das geblieben, was ein Heiligtum im Nahen Osten stets war: anders.19

Beide Extrempositionen münden letztlich in Aporien, die darin begründet liegen, dass sie mit essenzialistischen, im Kern obsoleten Kulturbegriffen operieren. Okzidentalisten wie Orientalisten ist gemeinsam, dass sie an „reine“, von fremden Einflüssen freie und im Prinzip freizuhaltende Kulturen glauben. Allenfalls können solche Kulturen durch Elemente, die von außen übernommen werden, kontaminiert werden – wie die architektonische Formensprache griechisch-römischer Provenienz, die für Balls Palmyrener nur als „Zierrat“ Bedeutung hatte. Akkulturationsprozesse reduzieren sich für sie auf die Extreme: Widerstand versus Überwältigung, Kontinuität versus totale Rekonfigurierung.

Weder Okzidentalisten noch Orientalisten vermögen die eruptive Energie der politischen Supernova Palmyra zu erklären. Wäre Palmyra, wie die Okzidentalisten nicht müde werden zu betonen, eine „griechische Stadt“ wie jede andere gewesen, dann hätte sie weder die personellen noch die materiellen Ressourcen besessen, um im Krisenjahr 260 n. Chr., nach Valerians Niederlage gegen die Perser, das Machtvakuum im Orient zu füllen. Ihre Institutionen hätten den Aufstieg eines Odainat zu monarchischer Herrschaftsgewalt ebenso wenig zugelassen wie die dynastische Verfestigung seines Charismas. Ein Odainat wäre im römischen Athen oder Mailand, in Karthago oder Milet schlechterdings nicht vorstellbar. Aber er war es in Palmyra, und das kann nur daran liegen, dass diese Stadt ein fundamental anderes Milieu vorzuweisen hatte als Mailand und Milet.

Doch auch die orientalistische Hypothese vermag nicht zu überzeugen. Zunächst sprechen historische Fakten gegen die von den Orientalisten behauptete ungebrochene Kontinuität zwischen dem vorhellenistischen Orient und dem „klassischen“ Palmyra. Palmyra war, den jüngsten Funden in der hellenistischen Stadt zum Trotz, eine junge Siedlung. Wenn sich in der Oase mesopotamische Einflüsse bemerkbar machten, dann können sie nur auf indirektem Weg dorthin gelangt sein, über den Fernhandel, genau wie der angebliche griechisch-römische „Firnis“. Tatsächlich unterhielt das hellenistische Palmyra enge Handelskontakte nach Ost wie West.20 Schwerer wiegt, dass das Orientalismusmodell angesichts der traumwandlerischen Sicherheit versagt, mit der sich die Palmyrener in ihrer Stadt wie in der großen weiten Welt des Imperiums bewegen. Die Zweisprachigkeit der Inschriften war alles andere als Firnis, sondern steht sinnbildhaft für das Grenzgängertum der Palmyrener.21

Erst allmählich werden Pfade jenseits der Extreme Okzidentalismus und Orientalismus erkundet. Eine stattliche Reihe historischer Spezialuntersuchungen hat in den zurückliegenden Jahrzehnten Licht ins Dunkel vieler der Probleme gebracht, die lange diesem Verständnis im Wege standen.22 Das ist Segen und Fluch zugleich. Denn während sich die Palmyra-Forschung zunehmend auf immer solidere Daten stützen kann, entwickelte sich das Feld allmählich zum Reservat von Fachgelehrten, die sich – anders als Mommsen, Rostovtzeff und noch Millar – ausschließlich mit dem römischen und allenfalls noch hellenistischen Orient beschäftigen. So verfestigten sich Hypothesen im Laufe der Zeit zu Gewissheiten, der relativierende Maßstab übergreifenden Wissens kam abhanden. Lange krankte die Forschung zum hellenistisch-römischen Orient an einem eklatanten Theoriedefizit und an entsprechend unscharfen Kategorien. Die relative Beständigkeit überlebter Deutungsmuster in der Forschung zu Palmyra und allgemein zum römischen Orient ist leicht zu erklären: Das Feld stellt erhebliche philologische Anforderungen – wer sich mit Palmyra beschäftigt, muss sich auf Textquellen sehr unterschiedlicher Gattungen einlassen und daneben auf ein breites Spektrum an materiellen Zeugnissen. Der Beschäftigung mit dem römischen Orient haftet, trotz Fergus Millars epochalem Grundlagenwerk von 1993,23 noch immer etwas Hermetisches an.

Inzwischen gibt es allerdings eine ganze Reihe von Studien, die nach Sinnzusammenhängen für Palmyra suchen, vor Theorieangeboten nicht zurückschrecken und im Begriff sind, einen dritten Weg zwischen Orientalismus und Okzidentalismus zu weisen: Paul Veyne, der Nestor der französischen Althistorie, begreift Palmyra als multikulturellen Kosmos, in dem unterschiedlichste Einflüsse wirksam wurden und eine hybride Identität schufen, die mehr war als ein bloßes Amalgam aus Ost und West. Andrew M. Smith greift in seiner an der University of Maryland verteidigten Dissertation die Thesen von Greg Woolf zur Romanisierung der westlichen Provinzen auf und gelangt zu durchaus ähnlichen Ergebnissen wie Veyne. Und Nathanael M. Andrade, Althistoriker an der University of Oregon, hat unlängst darauf hingewiesen, dass die kulturellen Universen, die einander in Palmyra begegneten, eng miteinander verflochten waren und dass die Palmyrener sich griechischer Praktiken und griechischer Formen bedienten, um ihren Platz in griechisch definierten Netzwerken und Sinnwelten zu behaupten.24

Palmyra

Подняться наверх