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Ein nicht standesgemässes Verhältnis

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Der nächste Tag in diesem Dezember 1902 ist Freitag, der Vierzehnte. Nach dem Frühstück fährt die Dreiergruppe zum Hauptbahnhof Zürich, um André Giron abzuholen – Luise freut sich ausserordentlich, dass ihr Liebhaber mit einem Tag Verspätung doch noch nach Zürich gefunden hat.

Der junge Belgier ist seit Anfang 1902 Sprachlehrer von Luises Kindern am Hof in Dresden. Sein Unterricht interessierte Luise, und er gab ihr ausgesprochen höflich und sympathisch über den behandelten Stoff und die Lernfortschritte der Kinder Auskunft. Dieser 24-jährige Lehrer verhielt sich so anders als Luises Ehemann Friedrich August, der schroff und abweisend wirkte und weder Interesse für seine Frau noch für die Kinder zeigte und lieber tagelang durch seine Jagdreviere streifte.

So sahen sich Luise und der Privatlehrer jeden Tag, die Gespräche nahmen an Intensität, Verbindlichkeit und Vertraulichkeit zu. Als dann im Mai die royale Familie vom weitläufigen Taschenbergpalais in Dresden gewohnheitsmässig in die Villa Wachwitz umzog, kam auch André Giron mit, und der Kontakt zu Luise gestaltete sich noch familiärer. So geschah es, dass sich Luise von Sachsen und André Giron ineinander verliebten. Wie sie später zugaben, kamen sie sich in diesem Mai auch körperlich näher.

Zunächst konnten sie das komplett unschickliche Verhältnis geheim halten, doch irgendwann im Herbst tuschelten die Hofangestellten so sehr, dass Oberhofmeisterin Henriette Florentine Freifrau von Fritsch von dieser Beziehung erfuhr und gleich mit grösstmöglicher Empörung dem Kronprinzen Friedrich August III. Bericht erstattete.

Dieser reagierte erstaunlich gelassen und betrachtete die angebliche Affäre als eine weitere Laune seiner Frau, die sicher bald vorübergehe. Das Gerede erschien ihm wenig glaubhaft, schliesslich sei Giron acht Jahre jünger als seine Frau und erst noch ein eitler Geck, den er nicht ernst nehmen könne – eine kolossale Fehleinschätzung, die sich nun rächt, da seine Frau mit genau diesem Giron sogar ins Ausland getürmt ist, bis nach Zürich.

Jetzt ist das Quartett vollständig: der unverheiratete Erzherzog Leopold mit seiner Geliebten Wilhelmine, der «Künstlerin», sowie Sachsens Kronprinzessin Luise mit ihrem Geliebten, dem Privatlehrer ihrer Kinder, die sie in Dresden zurückgelassen hat. Auch wenn sie sich in Zürich frei bewegen können, nehmen Journalisten ihre Anwesenheit wahr und schreiben über sie: «Eine zweifelhafte Ehre ist der Stadt Zürich dadurch zu teil geworden», urteilen beispielsweise die Neuen Zürcher Nachrichten.

Vor dem Hauptbahnhof besteigen Luise, Leopold und ihre Begleiter einen Pferde-Omnibus (also einen Buswagen, der von einem Pferd gezogen wird). Der Zufall oder das Pech will es, dass sie ausgerechnet jenen Pferde-Omnibus wählen, der an diesem Nachmittag mit einem Tramwagen zusammenstösst. Auch das noch! Ein komplett unnötiger Unfall. Aufgrund der niedrigen Geschwindigkeit kann das Unglück den Fahrgästen nichts anhaben. Doch müssen die königlichen Hoheiten das letzte Wegstück zum Hotel zu Fuss zurücklegen.

Um den Aufenthalt in Zürich zu vertuschen, greift die aussergewöhnliche Reisegruppe zu einer ausgeklügelten Finte. André Giron hat einem Freund den Auftrag gegeben, im Namen von Luise in Brüssel ein Telegramm aufzugeben. Darin benachrichtigt sie – angeblich! – den sächsischen Hof ihres verlassenen Gattens, dass sie definitiv nicht mehr nach Dresden zurückkehren wolle.

Der Inhalt des gefälschten Telegramms verbreitet sich in ganz Europa und schlägt – gemäss der sonst um Zurückhaltung bemühten Neuen Zürcher Zeitung – ein «wie eine Bombe»; denn bislang vermutete man Luise noch immer in Salzburg und bestimmt nicht in Brüssel, wo ihr Liebhaber André Giron herkommt.

Thronfolger Friedrich August schickt seine Leute sofort nach Belgien: Für die delikate Mission bestimmt er Hofmarschall Wolf Ferdinand von Tümpling, den Kammerherrn Luises, zudem Baronin von Fritsch, die Oberhofmeisterin, und den sächsischen Kriminalkommissar Arthur Schwarz. Sie sollen seine Frau möglichst diskret zur Umkehr bewegen und einen grösseren Skandal verhindern.

Doch in Brüssel sind die Geflohenen nicht zu finden. Um ihre Spuren noch besser zu verwischen, entscheiden Luise, Leopold und ihre Begleiter, nach Genf weiterzureisen. Zuvor erkunden sie nochmals die Stadt Zürich. Vielleicht haben Luise und André, Leopold und Wilhelmine etwas gegessen und dann das nahe Stadt-Theater besucht, das heutige Opernhaus; dort wird an diesem Abend die Oper «Zar und Zimmermann» gespielt. Diese hätte ausgezeichnet zu ihrer momentanen Situation gepasst, denn in der Oper verstellt sich der mächtige Zar Peter I. und gibt sich als einfacher Zimmermannsgeselle aus, was ihm mal besser, mal weniger gut gelingt.

Luise und Leopold steht ebenfalls ein Leben fernab royaler Höfe bevor. Sie sprechen beispielsweise darüber, in der Schweiz ein Kinderheim zu eröffnen; die Oper mit dem verbürgerlichten Zaren wäre also eine Inspirationsquelle gewesen.

Luise und Leopold

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