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Eine Bahn mit vertrautem Namen

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Hier in Hallein startet die Salzburg-Tiroler-Bahn, die auch «Erzherzogin-Gisela-Bahn» heisst. Natürlich kennen Luise und Leopold diese Gisela, welche die zweite Tochter von Kaiser Franz Joseph I. und Kaiserin Elisabeth, besser bekannt als Sisi oder Sissi, ist. Gisela trägt den Titel einer Erzherzogin von Österreich und einer Prinzessin von Bayern, sie ist damit eine Verwandte von Luise und Leopold, denn sie – die Flüchtigen – sind ebenfalls Habsburger Hochadlige, nur eben von einem anderen Stamm, von jenem der Toskaner. Dennoch kennt man sich von royalen Empfängen, Festtafeln und Banketten. Während Gisela einen bayrischen Adligen heiratete, mit dessen Zweig sie mütterlicherseits verwandt ist, musste auch Luise standesgemäss und taktisch klug heiraten, nämlich den sächsischen Thronfolger Friedrich August III. Das Einheiraten ins Königreich Sachsen passte politisch ins Konzept, so wurde sie mit 21 Jahren die Gattin von Kronprinz Friedrich August III. und damit Kronprinzessin von Sachsen, auch wenn sie ihren Mann nie liebte. So liegt die Vermutung nahe, dass Luise in der kalten Nacht auf dem Bahnhof Hallein mit ihrem Bruder über das Leben am Hof in Dresden sprach. Wie kontrolliert sie sich vom Hofstaat fühlte. Wie ihr Schwiegervater sie ständig kritisierte.

Dass sie ihre Kinder nicht stillen durfte.

Ihr das Radfahren untersagt war.

Sie nicht selbst einkaufen durfte.

Sie ständig zu hören bekam:

«Das gehört sich nicht für eine Kronprinzessin.»

Sie beklagte wohl die fehlende Unterstützung seitens ihres Gatten Friedrich August. Und vielleicht schwärmte sie, die 32-Jährige, auch von André Giron, dem 24-jährigen Sprachlehrer ihrer ältesten Kinder, einem schnauztragenden Schönling, in den sie sich so sehr verliebt hat. Weil ihr alles zu eng war, aber auch seinetwegen, hat sie Dresden verlassen – und damit auch den königlichen Hof, ihre Stellung, ihren Ehemann und ihre fünf Kinder.

Was die Geschichte noch brisanter macht: Mit dem sechsten Kind ist Luise bereits schwanger. Hätte sie in Sachsen die Wahrheit über ihre neue Liebe preisgegeben, Schwiegervater König Georg hätte sie mit Sicherheit in ein Irrenhaus eingewiesen. Oder in ein Kloster gesteckt.

Die Wahl zwischen Irrenhaus und Kloster war keine; so hat sie sich zur Flucht entschieden. Das reale Leben als Kronprinzessin kann sich so sehr von den Idealvorstellungen in den Märchen unterscheiden!

Bevor der Rauch ausstossende Dampfzug eingefahren ist, hat vielleicht auch Leopold von seinen Fluchtgründen gesprochen. Auch er ist des höfischen Zeremoniells längst überdrüssig. Seit er sich in Wilhelmine Adamovic verliebt hat, stehen die Zeichen im Hause Habsburg auf Sturm. Er nennt sie eine «Künstlerin», dabei ist sie eine staatlich registrierte Prostituierte. Als Habsburger darf man nur jemanden heiraten, der dem Hochadel angehört; das wird einem ungeschriebenen Familiengesetz gemäss so bemessen, dass vier Generationen zuvor ausschliesslich blaues Blut aufweisen müssen, 16 Vorfahren also müssen vollständig adelig sein. Es gibt etliche in Leopolds Verwandtschaft, die sich nicht an diese Regel hielten und beispielsweise zwar eine Adlige, aber keine Hochadlige ehelichten – mit der Konsequenz, dass die Angeheirateten und deren Kinder nicht erbberechtigt und von der Thronfolge ausgeschlossen sind.

Doch Leopold will noch weiter gehen: Seine Wilhelmine ist nicht nur eine Bürgerliche, sondern ein Strassenmädchen, eine Liebesdienerin oder, wie man in Wien sagte, eine «Hübschlerin» oder, wenn sie am Wiener Gürtel anschaffte, «a Gürtlschnalle». Regelmässigen Umgang mit solchen Frauen zu haben, war unter Adligen durchaus beliebt und auch toleriert. Aber eine solche Frau zu ehelichen, das kam niemals infrage. Zuerst schickte Kaiser Franz Joseph, als er von der Beziehung erfuhr, seinen Verwandten Leopold ins Exil, darauf in ein Irrenhaus, damit er zur Besinnung komme. Es half nichts, seine Liebe zu Wilhelmine blieb, sodass er jetzt fest entschlossen ist, das Imperium der Habsburger mit all seinen Annehmlichkeiten für immer zu verlassen.

Als Reiseziel der nächtlichen Flucht haben Luise und Leopold die Schweiz auserkoren; nicht, weil der Stammsitz der Habsburger in der Schweiz liegt. Sondern weil sich die Schweiz neutral und vergleichsweise liberal gibt, weil sie «das Land der Freiheit, der Arbeit und des persönlichen Kampfes ist», wie Leopold es später einem Journalisten diktiert.

Deshalb setzen sich die Geschwister in dieser Nacht in die Eisenbahn und fahren quer durch Österreich in die Schweiz. Als Flüchtige fürchten sie sich davor, dass österreichische Beamte sie unterwegs entdecken und zurückschicken könnten. Ironischerweise hat Luise bereits zwei Jahre zuvor das Gedicht «Auf der Flucht» des bayrischen Dichters Karl Stieler vertont. Darin flieht eines Nachts ein Mönch.

«Sie setzen ihm nach; er wich und wich

Bis an den frühen Morgen,

Schon sind sie ihm nah’ – da hat er sich

In einem Gezweig verborgen.

Und drunten jagten die Reiter vorbei

Und schalten in lautem Grimme!

‹Den geben wir nimmer sein Lebtag frei!›

Und dann – verklang ihre Stimme.

Er sprach: ‹Weiss Gott, wo ich weiter Welt

Noch mein Obdach finde –

Nun flink! – Leb wohl, du grünes Gezelt,

hab Dank, du getreue Linde!›»

Hatte sie damals schon eine Ahnung davon, was kommen würde? Und dass sie dereinst selbst «auf der Flucht» sein würde? Allerdings müssen sich die fliehenden Geschwister nicht unter einen Baum ducken, sondern reisen komfortabel mit der Eisenbahn. Zwischen Schaan und Buchs überqueren sie die Schweizer Grenze. Sie werden erleichtert sein, dass sie kein Österreicher aufgehalten hat, denn die Arme der Habsburgerdynastie und ihrer Geheimpolizei reichen weit. Entlang des Zürichsees liegt dichter Nebel, je nach Überlieferung treffen Luise und Leopold um die Mittagszeit oder um 17 Uhr an ihrem vorläufigen Ziel Zürich ein. Am Hauptbahnhof fühlt sich Luise unwohl. In ihren Memoiren notiert sie dazu: «Für mich war kein Empfang bereit, kein roter Teppich und keine Freunde oder Verwandte, die auf mich warteten.»

Dazu muss man wissen: Luise war zuerst Erzherzogin, dann Kronprinzessin, sie war ständig verwöhnt, verzärtelt und auf Händen getragen. Doch hier im geschäftigen Zürich bemerkt zunächst niemand, dass es sich bei den Reisenden um zwei echte Royals handelt. Damit erfährt die Prinzessin sogleich eine der Grundeigenschaften der Neutralität und der demokratischen Gesellschaft der Schweiz: Hier sind alle gleich!

Leopold hat das Hotel ausgewählt, damals eines der besten in Zürich: das Grandhotel Bellevue. Es steht im Strassendreieck am südlichen Ende des Limmatquais und hat dem benachbarten Bellevueplatz den Namen gegeben: Denn vom Hotel mit seinen vier Etagen und den markanten drei Türmchen aus hat man tatsächlich eine «belle vue» auf den See und die Berge – viel besser als vom Platz aus, der heute noch den Namen mit der schönen Aussicht trägt.

Im Grandhotel folgt die nächste Überraschung. Die noblen Geschwister treffen auf eine Frau, von deren Anwesenheit Luise nichts wusste. Dafür freut sich Leopold umso mehr, denn es handelt sich um seine Geliebte Wilhelmine Adamovic.


Im Strassendreieck gelegen: das wuchtige Grandhotel Bellevue in Zürich.

Luise zeigt sich perplex, weil er sie nicht darüber informiert hat. Als Wilhelmine freudigen Schrittes auf Luise zugeht und sie überschwänglich begrüsst, ist Luise irritiert und schreibt später von einem «Paar madonnenhaft schöner, dunkler Augen, die aus einem regelmässigen Gesicht, das von dichtem, prachtvollem und tizianrotem Haar eingerahmt war, leuchteten». Der schönen Erscheinung zum Trotz mag Luise die wie aus dem Nichts aufgetauchte Frau überhaupt nicht: «Die Neuangekommene gehörte sicher nicht in meine Welt», da sie ganz offensichtlich weder eine Ahnung habe von einer gepflegten Konversation unter Damen noch von den einfachsten Anstandsregeln zu Tisch. Eine (ehemalige) Prostituierte benimmt sich eben ganz anders als eine (geflohene) Kronprinzessin.

Leopold hingegen ist in Gesellschaft seiner Geliebten Wilhelmine voller Glücksgefühle. Sein Übermut zeigt sich, als er sich etwas verwegen als verheiratetes Ehepaar ins Fremdenbuch einträgt, nämlich als «Herr und Frau Wölfling». Luise lässt mehr Vorsicht walten und benützt den Decknamen «Frau von Oppen».

Sie fühlt sich schlecht: Als sie in ihr Hotelzimmer geht, lässt sie sich nach der aufregenden Nacht und der Eisenbahnfahrt auf das Bett fallen und weint in ihr Kissen. Sie empfindet alles als schrecklich fremdartig, «keine Kammerfrau, die mir alles herzurichten gewohnt war, kein seidenes Hausgewand, damit ich nur hineinzuschlüpfen brauchte, keine Kristall- und Silberflaschen voll duftender Essenzen» – die verzogene Prinzessin hat nur mitnehmen können, was in ihrem Handkoffer Platz fand. Dass sie ihre Kinder vermisst oder von der Flucht mit allen Konsequenzen überfordert ist, erwähnt sie mit keinem Wort.

Später kehrt das Trio vielleicht im hoteleigenen Café de la Terrasse ein, dem Treffpunkt der Reichen und Schönen im damaligen Zürich. Überliefert ist, dass sie das Hotel verlassen, um die Stadt Zürich zu erkunden und noch ein paar Weihnachtsgeschenke zu kaufen: Wilhelmine und Leopold sind übermütig aufgrund ihrer Wiedervereinigung, während Luise sich unsicher fühlt, ob das alles gut geht. An diesem Freitagabend im Dezember dunkelt es früh ein, dennoch tummeln sich viele Leute auf Zürichs Strassen. Denn der Tag trägt das magische Datum 12.12., was den Zürcher Postämtern Bevölkerungsaufmärsche unbekannten Ausmasses beschert. Unzählige Menschen mit einer Schwäche für Zahlenmagie oder Aberglauben wollen Briefmarken mit dem Datumsstempel versehen haben, dafür stehen sie bis auf die Strasse hinaus vor den Postschaltern Schlange. Bald wird sich auch Leopold bei einem Postamt einreihen müssen.

Luise und Leopold

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