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Eine nächtliche Flucht

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Nach Mitternacht, vom 11. auf den 12. Dezember 1902, schleichen zwei Gestalten auf Socken durch die Salzburger Residenz. In diesem Schloss bewegt man sich für gewöhnlich selbstbewusst, sodass die Absätze klackend durch die Gänge hallen, schliesslich handelt es sich um eine repräsentative Palastanlage für Österreichs Hochadel.

Das nächtliche Herumschleichen ereignet sich im Toskanertrakt, im Anbau gegen Norden, wo der Habsburger Zweig der sogenannten Toskaner wohnt und wirkt, der bis vor wenigen Jahrzehnten in Florenz lebte und bis 1859 die Toskana regierte. Die zwei Gestalten eilen wie Nachtgespenster durch die langen Gänge; nur stecken sie nicht unter Leintüchern, sondern tragen bequeme Reisekleidung, in der einen Hand einen kleinen Koffer, in der anderen ihre Schuhe.

Das sieht nicht nach Einbrechern oder Kindern beim Gespensterspielen aus, sondern nach einem Wegschleichen, das keiner bemerken soll. Keine Kammerzofe, kein Obersthofmeister, kein Minister, kein Hofrat, kein Hofmeister, kein Geheimrat, kein Kämmerer, keine Palastdame, kein Edelknabe, kein Herzog – niemand nimmt Notiz von den beiden. Es handelt sich um die Flucht von zwei erwachsenen, gestandenen Persönlichkeiten, die nicht anders können, als auf diese Weise Reissaus zu nehmen. Die zwei Fliehenden sind unsere Protagonisten Luise und Leopold, das später so bekannte Geschwisterpaar: Erzherzogin Luise von Österreich-Toskana und Kronprinzessin von Sachsen und Erzherzog Leopold Ferdinand von Österreich-Toskana. Sie ist zum Zeitpunkt des Geschehens 32 Jahre alt, er 34. Eigentlich tragen sie die adelsüblichen Namenskaskaden: Sie hat nicht weniger als elf Vornamen, nämlich Luise Antonia Maria Theresia Josepha Johanna Leopoldine Karolina Ferdinande Alice Ernestina; er bringt es sogar auf zwölf Vornamen, mit vollem Namen heisst er Leopold Ferdinand Marie Joseph Johann Baptist Zenobius Ruprecht Ludwig Karl Jacob Vivian.



Leopold und Luise in jungen Jahren: Sie sorgen für den Skandal des Jahres.

Luise und Leopold, um ihre üblichen Kurznamen zu verwenden, haben in aller Heimlichkeit ihre Koffer mit den allernötigsten Kleidern gepackt, sie hat auch noch ihren Schmuck mitgenommen – als Angehörige des Habsburger Hochadels, die für gewöhnlich mit unzähligen Koffern und Kisten, Taschen und Schachteln reisen, bedeutet das eine grosse Umstellung und zeigt die Not, in welcher sich die beiden befinden. Bald versetzen sie den Adel in Aufruhr und werden in ganz Europa bekannt.

Ja, sogar darüber hinaus. Selbst der New York Herald wird über sie und ihre klandestine Flucht berichten.

Es ist nachts um halb ein Uhr, als Luise und Leopold über eine Bedienstetentreppe vom Palast in den Schlosshof und in die kalte Winternacht gelangen; das Thermometer zeigt in dieser klaren Mondnacht eisige 16 Grad unter null. Die fliehenden Geschwister steigen vor der Salzburger Residenz in eine geschlossene Kutsche, an die zwei Araberpferde geschirrt sind. Luise trägt ein warmes, schwarzes Kleid aus Serge-Gewebe, diesem robusten Wollstoff, dazu eine Boa um den Hals und einen Pelzmuff, um die Hände darin warmzuhalten. Miteinander besteigen sie die heimlich bestellte Kutsche, die rund eine Stunde für die Fahrt von Salzburg zum Bahnhof Hallein benötigt. (Dass Luise später in ihren Memoiren von einer dreistündigen Kutschenfahrt berichtet, ist wohl dem subjektiven Empfinden geschuldet.)

Vor zwei Uhr nachts treffen die Geschwister am nächtlich verlassenen Bahnhof ein. Der Zug fährt erst um 3.45 Uhr, deshalb setzen sie sich in den einzigen geöffneten Raum zu dieser Stunde, in einen Wartesaal dritter Klasse, mit Holzbänken ohne Rückenlehnen, dort haben sie sich zuvor wohl noch nie aufgehalten. Leopold ist gross gewachsen, er ist ein stattlicher Mann; das in die Länge gezogene Gesicht und die hohe Stirn mit den Geheimratsecken, in der Mitte der grosse Schnauz an dessen Enden, die sorgfältig nach oben gezwirbelt sind, fingert er jetzt vielleicht nervös herum. Luise zeigt in jeder Situation Kontrolle im Körper, sie hat eine bewusste Haltung, streckt Rücken und Nacken durch, sodass man ihr die Aristokratin ansieht; sie hat ein freundliches, rundes Gesicht mit wachen Augen und wird, um ihre Aufregung in dieser kalten Nacht zu überdecken, die Hände im Muff gerieben haben.

Vielleicht haben sich Luise und Leopold nochmals ihre persönlichen Fluchtgründe erzählt, sie redeten womöglich über ihre unglücklichen, nicht gesellschaftskonformen Lieben, die sie ins Unglück stürzten und die auf komplettes Unverständnis der näheren und weiteren Umgebung stiessen, wie wir noch sehen werden.

Luise und Leopold

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