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Das Geburtstagsgeschenk
Оглавление»Es hat geschneet, Mutter! Es hat geschneet!«
Der Anblick der weißen Pracht hatte Willi in helle Verzückung geraten lassen. Über Nacht war plötzlich die Temperatur gefallen, und der Frost hatte ein dünnes pulvriges Kleid über Elbing gelegt. Man schrieb den 15. Oktober des Jahres 1922, und eigentlich war es noch viel zu früh für einen Wintereinbruch. Willi blickte auf seinen 12. Geburtstag, und draußen lag Schnee. War das nicht ein Zeichen des Himmels? Nichts hatte er sich sehnlicher gewünscht, als ein Paar Schlittschuhe, mit denen er auf der zugefrorenen Hommel oder dem Elbing-Fluss im Winter seine Runden drehen konnte. Willi hatte die Schlittschuhe vergangenes Jahr in der Vorweihnachtszeit in den großen Schaufensterauslagen eines Kaufhauses entdeckt.
»Na, Willichen, haste Geburtstag heut?«
Mutter Johanna tat so, als habe sie mit dem Geburtsdatum ihres Sohnes gewisse Zweifel.
Willi nickte. Was für eine Frage? Er befand sich sozusagen in einem Zustand freudiger Erwartung und seine Mutter machte Scherze. Mutter Johanna hatte mit Elisabeth bereits am Frühstückstisch Platz genommen. Der kleine Kurt schlief nebenan. In der Mitte des Tisches stand eine prächtige Schokoladentorte, darauf waren zwölf kleine Kerzen eingesteckt.
»Ich wünsche dir alles Gute zu deinem 12. Geburtstag, mein Schatz.«
Johanna presste Willi fest an sich und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Stirn.
»Ich wünsche dir auch alles Gute«, gratulierte Elisabeth, seine ältere Schwester. Vater Wilhelm würde sich den guten Wünschen am Abend anschließen. Er war schon in aller Frühe zur Arbeit aus dem Haus gegangen.
»Du weißt ja, wenn du die Kerzen nicht mit einem Male ausbläst, dann bringt das Unglück«, frotzelte Elisabeth.
»Ach sei still, Elisabeth«, mahnte Mutter Johanna. »Erzähl dem Jungen doch nicht so ein dummes Zeug.«
Es war Tradition im Hause Steinky, dass das Geburtstagskind am Morgen die Kerzen ausblasen musste. Dann durfte es sich ein großes Stück von der Torte nehmen und alle schauten zu, wie es die süße Portion in einem Gefühl von Glückseligkeit verspachtelte. Der Rest der Torte wurde weggestellt, und am Nachmittag machte sich dann die ganze Geburtsgesellschaft genüsslich darüber her. Warum das so war, das wusste keiner. Es war halt schon immer so.
Willi visierte die Kerzen auf dem Kuchen an und holte kräftig Luft, so als wolle er den ganzen Tisch umpusten. Er blies und blies, und als er fertig war, da war das eingetreten, was nicht geschehen sollte: Eine Kerze war nicht erloschen. Sie leuchtete trotzend in hellem Licht, so als wollte sie die ganze Küche ausleuchten.
Willi blickte ängstlich zu seiner Mutter.
»Wird jetzt was Schlimmes passieren?«
»Ach was, Willi. Geh, iss deine Schokoladentorte. Nichts wird passieren!«
Obwohl die Worte seiner Mutter ihn zunächst zu beruhigen schienen, musste Willi unentwegt auf die Kerze blicken. Er ließ sie nicht aus den Augen und hatte sie schon eine ganze Weile fixiert, als er schließlich mit einem Satz aufsprang, den Kopf über den Tisch beugte und auch dieser letzten Kerze das Licht auslöschte.
»So«, meinte Willi. »Damit auch gar nuscht Schlimmes nuscht wird passieren können.«
Genüsslich machte er sich sodann über das Tortenstück her. Ach, wie genoss er es. Nie im Leben würde er vergessen, wie fein Mutters ostpreußische Schokoladentorte schmeckte. Nie im Leben. Doch seine Gedanken kreisten in diesem Augenblick nicht nur um die Torte. Gab es zum Geburtstag nicht auch immer noch ein Geschenk? Hastig schlang er die süße Köstlichkeit hinunter. Als das letzte Stückchen vertilgt war, fasste Mutter Johanna hinter die Kommode und fischte ein kleines Päckchen hervor.
»Hier Willi, für dich.«
Willi stutzte. Misstrauisch beäugte er das Paket. Schon rein äußerlich erweckte es nicht den Anschein, als könnten darin ein Paar Schlittschuhe verborgen sein. Willi bedankte sich und öffnete das Geschenk. Zum Vorschein kamen Wollsocken und Handschuhe. Stinknormales, hundsgemeines Strickwerk, nichts, was das Herz eines zwölfjährigen Jungen hätte höher schlagen lassen können.
»Damit du es im Winter immer warm hast. Die haben Elisabeth und ich für dich gestrickt.«
»Ja, das haben wir«, fügte Elisabeth bei und hielt ein weiteres kleines Päckchen in Händen, das sie kurz zuvor ebenfalls hinter der Kommode herausgefischt hatte.
»Und das gehört auch noch dazu. Die habe ich alleine gemacht.«
Willi öffnete auch diese Gabe. Zum Vorschein kamen eine Mütze und ein Schal.
»Freuste dich?«
»Ja Mutter, das tue ich«, flunkerte Willi. Ihm war klar, dass jeder am Tisch spüren musste, in welch einem Dilemma er sich gerade befand. Sein Seelenzustand musste ihm ins Gesicht geschrieben sein. »Ich bin todtraurig, denn ich habe keine Schlittschuhe bekommen«, stand dort für jeden sichtbar in dicken Buchstaben zu lesen.
Johanna sah ihren Sohn an und lächelte.
»Ach, fast hätte ich es vergessen. Da müsste ja noch was unter dem Küchenschrank liegen, ganz hinten, da wo wir nicht hinkommen. Aber vielleicht schaffst du es ja.«
Noch was unterm Küchenschrank? Willi blickte ungläubig zu seiner Mutter hinüber. Hatte sie gerade »noch was« gesagt? Mit einem Satz hechtete er Richtung Schrank, streckte sich flach wie ein Brett auf den Boden und verschwand im nächsten Augenblick mit dem halben Kopf unter dem massiven Möbelstück. So als würde er irgendwelche Schwimmübungen vollziehen, ruderte er mit beiden Händen nach vorne. Willi erkannte, dass da noch etwas in der hintersten Ecke lag. Möglicherweise ein Karton – oder nicht? Doch ergreifen konnte er ihn nicht.
»Probier es doch mal damit!«
Willi rutschte ein Stück zurück. Er schlug fast mit dem Kopf gegen den Schrankboden und griff nach einem großen Kochlöffel, den seine Mutter ihm reichte.
»Ja, damit müsste es klappen!«
Willi verschwand mit dem Werkzeug wieder zur Hälfte unter dem Schrank. Mit beiden Händen setzte er den Kochlöffel an dem Päckchen an, um es mit einem gewaltigen Ruck nach vorne in Richtung Tisch zu befördern. Und dann kam es mit einem Male unterem Schrank hervor gesaust. Willi rutschte auf dem Hosenboden zur Seite und saß jetzt vor diesem verschnürten Paket wie das Karnickel vor der Schlange.
»Darf ich es aufmachen?«
»Natürlich!«, lachte Johanna. »Schließlich ist es ist doch dein Päckchen.«
Hastig zog Willi an den dünnen Schnüren. Dann entfernte er das Geschenkpapier. Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Zum Vorschein kam ein Karton mit einer maschinellen Aufschrift. »Hergestellt in Hamburg« stand darauf geschrieben und direkt daneben, da waren … ja, da waren ein Paar Schlittschuhe abgebildet.
»Mama, das ist ja fantastisch!«
Willi verschlug es fast die Sprache. Wie sehr hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Eigentlich schon ab dem Moment, als er diese Schlittschuhe zum ersten Mal beim Kaufhaus am Elbing-Fluss in der Auslage entdeckt und verspürt hatte, dass er sie unbedingt haben musste. Mit einem schnellen Ruck entfernte er den Deckel, griff in das Paket, und im nächsten Moment hielt er sie auch schon in Händen: seine nagelneuen, funkelnden Schlittschuhe. Die besten Schlittschuhe der Welt. Seine Schlittschuhe!
»Ja, das sind jetzt deine.«
»Das ist ja prima, Mutter. Vielen, vielen Dank.«
Willis Freude kannte keine Grenzen. Er fiel seiner Mutter in die Arme, die ihn fest an sich presste. Er wusste sehr wohl, dass diese Schuhe nicht ganz billig gewesen waren. Was er jedoch nicht ahnte, war, dass Johanna sie mühsam verdient hatte. Ein ganzes Jahr lang war sie zwei- bis dreimal die Woche stundenweise zur Zigarrenfabrik Loeser & Wolff gegangen und hatte dort für einen geringen Stundenlohn Zigarren verpackt und Etiketten angebracht – Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Solange bis sie das Geld zusammen hatte.
»Na Willichen, freuste dich?«
Natürlich freute sich Willi. Und wie er sich freute. Es war für ihn der schönste Tag in seinem noch jungen Leben. Und jetzt fehlte zu seinem Glück nur noch eins: das Eis. Doch auf das würde er noch eine Weile warten müssen. Als Willi am nächsten Morgen aufwachte und aus dem Fenster schaute, war der Schnee verschwunden und das Thermometer über Nacht wieder nach oben geklettert.