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Kaffeetrinken bei den Wójciks

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Albert hatte sich sein bestes Hemd aus dem Koffer genommen und angezogen, als er am frühen Nachmittag vor dem Auto stand.

»Wo bleibst du denn?«

Ungeduldig, aber doch scherzhaft trommelte Albert mit den Fingern auf das Dach des Fahrzeuges.

»Mach langsam! Ein alter Mann ist keine Lokomotive nuscht«, lachte Heinrich.

Albert hatte für Danuta einen Blumenstrauß besorgt, den er stolz in Händen hielt. Noch vor dem Mittagessen war er in die Stadt gegangen und hatte ihrem Vater ein Pfeifenset gekauft. Bei seiner jüngsten Visite war ihm nicht entgangen, dass sich der alte Wójcik gerne mal ein gefülltes Pfeifchen gönnte. Für die kleine Patrycja erwarb er im Kaufhaus am Hohen Tor ein kleines Modeschmucktäschchen mit Armreifen, Ohrringen und einer bunt schillernden Halskette.

Albert zog an seiner Krawatte und rückte die Hemdsärmel gerade.

»Was meinst du, kann ich so gehen?«

»Siehst gut aus, fast so, als wolltest du zu deiner eigenen Kommunion«, flachste Heinrich und deutete auf die Beifahrertür: »Komm, steig ein. Du hast’s doch eilig!«

Heinrich nahm den kürzesten Weg nach Klutajny, der über Wernegitten, vorbei an der stattlichen Holzkirche, dem Wahrzeichen der kleinen Gemeinde, führte. Nach zehn Minuten Fahrt erreichten sie das ehemalige Elternhaus. Danuta und Patrycja saßen auf einer Bank vor der Tür, so als hätten sie den Besuch schon erwartet.

Die Begrüßung war herzlich. Albert vermisste den alten Herrn Wójcik.

»Wo ist Ihr Vater?«, fragte er Danuta und schaute hilfesuchend zu Heinrich.

»Er ist beim Bauern gegenüber, wollte schnell noch was holen«, übersetzte Heinrich, der in Windeseile wieder in die Rolle des Dolmetschers schlüpfte.

Nachdem Danuta sie herein bat, gingen sie gemeinsam ins Haus.

»Sie haben die Stube gemütlich eingerichtet.«

Albert machte Komplimente, was bei ihm eigentlich höchst selten vorkam. Sichtlich gut gelaunt fragte er danach, wie alt Patrycja jetzt sei, wo sie zur Schule gehe und was sie später einmal werden wolle. Dann kam ihr Großvater durch die Tür.

Als Wójcik die Gäste erblickte, zog er freudig mit einer Hand seine Mütze vom Kopf. Mit der anderen Hand hielt er etwas fest, was Albert an ein Fotoalbum erinnerte. Dem Umschlag nach zu urteilen, musste es schon ziemlich alt sein. Der Alte reichte es Heinrich und redete kurz mit ihm. Dann begrüßte er die Gäste per Handschlag, während Heinrich mit dem Übersetzen begann.

»Herr Wójcik sagt, dass dies ein Fotoalbum ist, das der Bauer aus der Nachbarschaft nach dem Krieg in dem ihm zugeteilten Haus gefunden habe. Darin befänden sich viele Fotos von den damaligen deutschen Bewohnern des Dorfes aus der Zeit vor 1945.«

Alberts Herz schlug schneller. Das war ja fantastisch. Es musste ein altes Fotoalbum der Lipowskis sein, die früher in Klotainen den Bauernhof gegenüber bewirtschafteten. Ihre Tochter Olga lebte mit ihrer Familie lange Jahre nicht weit ihm von entfernt im Westerwald. Leider war sie vor ein paar Jahren verstorben.

»Darf ist es sehen?«

Heinrich reichte Albert das Album herüber.

»Herr Wójcik bittet uns, dass wir uns doch an den Tisch setzen möchten. Er möchte uns gerne einen Kaffee anbieten.«

Albert legte das Album zur Seite. Alle nahmen Platz am Tisch. Er war liebevoll mit einem blumenverzierten Kaffeeservice gedeckt. In der Mitte der Tafel standen ein Käsekuchen und eine Schokoladentorte. Der alte Wójcik sprach ein paar Worte und deutete auf seine Tochter und die Enkelin.

»Den Kuchen, den haben Danuta und Patrycja gebacken«, dolmetschte Heinrich.

»Meine Mutter konnte auch immer eine vorzügliche Schokoladentorte backen«, erinnerte sich Albert und freute sich auf das erste Stück.

Danuta war in die Küche gegangen, um den Kaffee zu holen.

»Sagen Sie, Herr Wójcik, woher stammen Sie eigentlich?«

Albert war neugierig geworden, seit er diese Leute kennen gelernt hatte.

Der alte Pole rückte den Stuhl, auf dem er saß, näher an den Tisch. Dann begann er zu erzählen.

»Herr Wójcik stammt aus der Region Kresy«, übersetzte Heinrich. »Seine Eltern besaßen dort einen großen Bauernhof, den sie leider verlassen mussten, als man seine Familie von dort umsiedelte. Eines Morgens stand da jemand vor der Tür, erzählte, dass die Familie wegmüsse und was sie mitnehmen durften. Mit einem Pferdewagen wurde alles zum Abtransport an den Bahnhof gebracht. Seine Eltern erhielten einen Hof in Ostpreußen unweit entfernt von Allenstein zugewiesen. Der verfiel jedoch zusehends, weil die Wójciks nicht die geeigneten Gerätschaften besaßen, um das Land zu bewirtschaften.«

Dieses Land zu bewirtschaften, das war nie einfach, das wussten auch Albert und Heinrich. Dafür bedurfte es der Erfahrungen von Generationen. In manchen Landstrichen konnte man mit Maschinen nichts ausrichten, das ging nur mit Pferden.

Heinrich hielt kurz inne. Dann fuhr er mit dem Übersetzen fort.

»Als Wójciks Eltern starben, verfiel der Hof gänzlich. Er bekam später mit seiner Frau diese Haushälfte in Klotainen zugewiesen, die sie noch immer bewohnen. Er werde wohl auch hier sterben, meinte Herr Wójcik, wenn es ihn nicht gerade draußen bei der Gartenarbeit erwischt.«

Zwischenzeitlich kehrte Danuta mit dem Kaffee aus der Küche zurück. Sie schenkte ein, dann stellte sie die Kanne auf den Tisch und gesellte sich zu der Runde.

»Was darf ich Ihnen anbieten?«, fragte sie auf Polnisch und deutete auf den Kuchen.

Albert verstand sofort und zeigte auf den Käsekuchen.

Danuta nahm seinen Teller entgegen und platzierte ein großes Stück Kuchen darauf.

»Sagen Sie, Herr Wójcik, wer hat das Haus eigentlich vor Ihnen bewohnt? Also direkt nach dem Krieg«, fragte Albert.

Heinrich übersetzte Wort für Wort und hörte, was der alte Pole zu sagen hatte.

»Unser Gastgeber sagt, dass er das nicht so genau weiß. Diese Haushälfte hat wohl auch eine Zeit lang leer gestanden.«

»Wie schmeckt Ihnen unser Kuchen?«, wollte Danuta wissen.

»Vorzüglich«, lobte Albert. Er drehte sich kurz zur Anrichte und griff nach dem Fotoalbum, das er zuvor dorthin gelegt hatte.

»Wollen wir doch mal sehen, was dieses alte Büchlein so zu erzählen hat.«

Vorsichtig klappte Albert das Deckblatt zur Seite. Die ersten Fotografien, die er sah, waren alt, sehr alt. Es handelte sich um Hochzeitsfotos, entstanden vermutlich um das Jahr 1900.

»Das sind höchstwahrscheinlich die Eltern der alten Lipowskis!«, mutmaßte Albert, während Heinrich weiter dolmetschte.

Alle am Tisch warteten gespannt darauf, was Albert ihnen zu erzählen hatte. Auch die kleine Patrycia blickte ihn mit großen, wissbegierigen Augen an.

»Schau, und das hier, dass sind sie als Kinder. Das Foto entstand da drüben vor dem alten Kastanienbaum.«

Albert deutete mit dem Zeigefinger zum Fenster.

»Und hier, das ist ihr Hochzeitsbild mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft auf dem gepflasterten Innenhof.«

»Ja, das waren damals große Gesellschaften, wenn jemand heiratete«, sprudelte es aus Albert heraus. »Meine Mutter, die war eine gelernte Köchin. Sie hat häufig bei Feierlichkeiten im Dorf in der Küche geholfen. Gefeiert wurde meistens im Freien, im Herbst, dann, wenn die Felder bestellt waren.«

Albert blätterte weiter. Er blickte auf ein Foto, das ein kleines Backsteingebäude zeigte.

»Das hier, das sind Fotos, die in den 1930er- und 1940er-Jahren in Klotainen gemacht wurden. Da kann ich mich noch gut dran erinnern. Das da, das war unsere Schule.«

Albert schob das Album näher an Patrycja heran.

»Schau Patrycja, hier bin ich zur Schule gegangen. Ach Gott, und das da auf diesem Foto, das ist unsere alte Klasse.«

Albert war gerührt.

»Hier, Patrycja, das da in der zweiten Reihe auf dem Foto, siehst du, der Lange dort, der mit dem breiten Grinsen im Gesicht, das da, das bin ich.«

Das kleine blonde Mädchen schaute sich das Foto etwas genauer an. Dann blickte es Albert an und nickte.

»Und das hier, das ist unser Haus, wie es früher ausschaute.«

Auch die anderen am Tisch erkannten das Anwesen auf Anhieb. Lipowskis hatten offenbar auch das Nachbarhaus fotografiert.

»Und hier, hier sind sie gerade alle bei der Heuernte. Das Bild ist auf den Wiesen in Richtung Siegfriedswalde gemacht worden.«

Albert sprach jetzt so schnell, dass Heinrich seine wahre Mühe hatte, mit dem Übersetzen hinterher zu kommen.

»Schau, Patrycja, dieses Foto zeigt die Leute beim Torfstechen. Jedes Frühjahr sind wir nach Blumenau und haben von dort den Torf als Brennmaterial für den Kachelofen nach Hause gebracht. Getrocknet brannte der besser als jedes Stück Holz«, erinnerte sich Albert und blickte aus dem Fenster hinüber zu dem alten Kastanienbaum, der in voller Blüte stand.

»Ich weiß noch genau, als ich, es muss im Frühjahr 1941 gewesen sein, dort mit einigen Männern aus dem Dorf an der Arbeit war. Karl, mein kleiner Bruder, kam wild gestikulierend den Hügel hinunter gerannt…«

Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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