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Der Kampf mit dem Drachen

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Vater Wilhelms Wesen änderte sich von Tag zu Tag. Johannas Tod hatte eine schmerzliche Lücke in seinem Leben hinterlassen. Er redete nicht mehr viel und griff häufiger zur Flasche. So ging das über Monate. Und als die Zeit der Trauer vorbei war, brachte er eines Tages eine Frau mit ins Haus: die Witwe Kaminski. Sie war klein, herrschsüchtig, und sie kniff die Augen zusammen, so als wollte sie jeden Moment die Augäpfel herausdrücken. Und mit ihr im Schlepptau kam diese kleine, dicke, aufgeblasene Kröte – das Gustäffchen.

Vater rief Willi, Kurt und Elisabeth in die Wohnstube. Dann sagte er ihnen, dass sie jetzt ihre Mutter sei und dass sie auf das zu hören hätten, was sie zu sagen habe. Und sie hatte einiges mitzuteilen. Als erstes kürzte sie die Essensrationen. Das Brot schloss sie weg. Der Vorratskeller wurde hermetisch abgeriegelt. Willi nannte sie nur »den Drachen.« Und dieser Drache, er hatte wahrlich Flügel, denn er war überall. Er war fortan da, wenn Willi überprüfen wollte, ob der Brotkasten verschlossen ist, und er befand sich in der Nähe, wenn er im Garten um die Erdbeerbeete und Obstbäume strich. Stets spürte er den Atem der Witwe in seinem Nacken. Der liebe Gott hatte diesem Drachen nicht nur Flügel verliehen, sondern auch Feuer. Und das spie er täglich bei jeder sich bietenden Gelegenheit: »Willi, hol die Kohlen aus dem Keller! Willi, kümmere dich um den Abwasch. Will, geh und hack das Holz!« Willi hier! Willi da! Kaum eine ruhige Minute gönnte sie ihm.

Und das Gustäffchen? Es redete kaum etwas und wenn, dann musste man angestrengt hinhören, um überhaupt etwas Verständliches erfahren zu können. Es brauchte im Haushalt so gut wie nie anzupacken und erwies sich als ein aufgeblähter Fresssack. Regelrecht mästen tat die Kaminski ihren Ableger, während Willi und seine Geschwister Hunger schieben mussten. Sprach Vater Wilhelm sie darauf an, dann war stets alles in Ordnung, und die Kinder täten nur mal wieder etwas übertreiben. Schließlich müsse doch an allem gespart werden, meinte sie. Es machte Willi fuchtig, wenn er auch nur daran dachte. Und sein knurrender Magen erinnerte ihn oft dran. Fortan war sein Alltag damit ausgefüllt, Essbares zu organisieren – egal in welcher Größe, egal in welcher Menge: Satt musste es ihn machen, und wenigstens ein bisschen fein sollte es schmecken. Und die Kaminski, dieses alte Weib? Einem Dudelsack gleich brummte sie zu jeder Tageszeit, denn sie hatte ständig etwas zu meckern.

Dann, eines Tages, geschah das, was Willi schon lange beabsichtigt hatte: Er lackierte dem Gustäffchen, nachdem dieses ihm beim Holzhacken die Zunge heraus gestreckt hatte, ordentlich eins auf die Nüschel. Dafür verordnete der Drache ihm eine ganze geschlagene Woche lang Hausarrest. Fortan war Willi schlauer: Was die Züchtigung der »kleinen aufgeblasenen Kröte« anbetraf, so gab er seinem Kumpel Paulchen eine Art Prokura. Ständig setzte es fortan durch den Erfüllungsgehilfen Hiebe. Für die »Kröte« war Paulchen der große Unbekannte, von dem das Gustäffchen fortan von Zeit zu Zeit voller Ehrfurcht am Essenstisch erzählte. Das kam so weit, dass er schließlich im Haus bleiben musste, um nicht dem unbekannten Rächer in die Hände zu fallen.

Willi hatte gerade mal wieder einige Tage Arrest abgesessen, als er Paul auf der Straße traf.

»Wo warst du denn so lange?«

»Ach, der Drachen hat wieder mal wieder Feuer gespuckt und mich nicht aus seiner Höhle gelassen.«

Paulchen wollte es genauer wissen.

»Haste wieder was angestellt?«

»Ja, ich habe ihr gesagt, dass man sie damals in Rössel vergessen hat.«

»Vergessen? Wieso vergessen? Und wieso ausgerechnet in Rössel?«

»Weißt du das nicht mehr? Das haben wir doch in der Schule gelernt: In Rössel wurde die letzte Hexe Europas verbrannt, weil sie zuvor die Stadt angezündet hatte.«

Paulchen musste grinsen.

»Sag mal, Willi, haben Hexen eigentlich Angst vor Nagetieren?«

»Warum willst du das denn wissen?«, fragte Willi, der neugierig geworden war.

»Deshalb, mein Lieber!«

Paulchen griff in die Hosentasche und zog etwas hervor, das klein war und das unentwegt und aufgeregt zappelte. Was sein Kumpel in seinen Händen hielt, das war unverkennbar eine Maus.

»Wo haste die denn her?«

»Die habe ich bei uns im Keller gefangen«, grinste Paulchen.

»Was willste denn mit dem kleinen Nagertierchen?«, fragte Willi neugierig.

»Ja, eine Idee, die hätte ich schon: Also, was meinst du, Willi: Haben Hexen nun Angst vor Mäusen? Oder haben sie keine?«

Jetzt musste auch Willi lachen.

»Weiß nuscht. Wir sollten es probieren. Dann wissen wir es«, meinte er, während seine Lachmuskeln immer noch sehr beansprucht wurden.

Gemeinsam schlichen sie ins Haus. Der Drache saß im Wohnzimmer und gab mal wieder Audienz für die befreundete Damenrunde. Alle hatten sich gründlich gepudert und sich in die Ausgehgarderobe gezwängt. Kaffee hatte der Drache in der Stadt besorgt, und das ganze Haus roch danach. Und wenn es Kaffee gab, dann war zumeist die Schokoladentorte nicht weit entfernt. Für Willi und seine Geschwister war sie tabu. Überhaupt hatte er seit dem Tod seiner Mutter nie wieder ein Stück davon verdrücken dürfen.

Vorsichtig schlichen sich Willi und Paulchen ins elterliche Schlafzimmer. Willi wusste, dass der Drache sich mittags von Zeit zu Zeit zu einem kleinen Schläfchen niederlegte, wenn sich die ehrenwerte Kaffeegesellschaft wieder verabschiedet hatte.

»Wo legen wir das Mäuschen denn hin?«, fragte Paulchen.

»Lass sie uns in die Bettdecke packen.«

Vorsichtig schlug Willi die Decke zurück, während Paulchen in die Hosentasche griff und das putzige Tierchen, dessen kleines Herz heftig in seiner Hand pochte, herausholte und kurz anschaute.

»So Mäuschen, dann mach mir die Alte mal so richtig meschugge!«

Willi musste fast laut loslachen.

»Die wird vielleicht ihr blaues Wunder erleben!«

Paulchen griff in den Überbezug der Decke und legte das Mäuslein hinein. Das Ende verschlug er derart, dass das Tierchen auch ja keinen Ausgang finden und sich vorzeitig vor dem Finale aus dem Staube machen konnte.

»So, erledigt! Komm wir gehen noch etwas raus. Vor vier Uhr legt sich der Drache eh nicht hin.«

Willi und Paulchen verließen das Haus, um sich in der Nachbarschaft mit Tante Frieda zu unterhalten, die just in diesem Moment die Ärmel aufgelehnt am Fenster hockte, um nach jemandem Ausschau zu halten, dem sie ein mehr oder minder interessantes Gespräch aufnötigen konnte. Und weil ihnen in diesem Moment nichts Besseres einfiel, plauderten sie mit ihr darüber, ob Mäuse nun auch nützliche Haustiere sein können oder nicht. Sie kamen dabei auf keinen gemeinsamen Nenner, und so gingen sie ein halbes Stündchen später wieder zurück zum Haus. Das Kaffeekränzchen hatte sich zwischenzeitlich aufgelöst.

Kurz drauf watschelte der Drache in Hausschuhen ins Schlafzimmer. Die vielen Tortenstückchen hatten die Witwe Kaminski schläfrig werden lassen. Sie entledigte sich ihrer Kleider, schlüpfte in ein Nachthemd und legte sich zur Mittagsruhe. Es dauerte wiederum auch nicht lang, bis es sich letztlich bewahrheiten sollte: Drachen haben durchaus Angst vor kleinen Nagern. Und was für eine Angst! Sie haben ganz offenbar derart Angst davor, dass sie am helllichten Tag im Nachtgewand schreiend durch die Straße des Wohnviertels laufen und der gesamten Nachbarschaft zu einer völlig unverhofften und kurzweiligen Unterhaltung verhelfen können.

Paulchen und Willi hatten das Spektakel vom Küchenfenster aus beobachtet.

»Ich mach mir vor Lachen fast in die Hose«, triumphierte Paulchen.

»Komm!«, drängte Willi.

»Wo willst du hin?«, fragte Paulchen.

»Noch mal ins Schlafzimmer. Ich brauche eine Uhr.«

»Eine Uhr, was willst du denn damit?«

»Die brauche ich eben!«, herrschte Willi ihn an.

Die beiden rannten ins Schlafzimmer. Willi griff in die Schublade neben dem Bett seines Vaters und fischte eine Taschenuhr heraus.

»Komm weiter!«

»Was ist?«, wollte Paulchen wissen.

»Ich muss noch in die Küche. Ich brauche noch etwas Proviant.«

»Proviant? Wofür brauchst du den denn?«

»Erzähl ich dir später. Komm!«, knurrte Willi.

Sie rannten in die Küche.

Willi griff nach dem verbliebenen Rest der Schokoladentorte und packte sie in einen Karton. Er griff nach allem, was sich ihm an Essbarem bot: Äpfel, Brot, Kartoffeln.

Dann rannten sie auf die Straße. Paulchen platzte fast vor Neugierde.

»Jetzt sag mir doch mal um Himmelswillen, was hast du denn nun vor?«

»Was ich vorhabe? Ich haue ab, ich wandere aus!«

»Du willst auswandern! Ja um Gotteswillen, wohin denn?«, fragte Paulchen fassungslos.

»Nach dem Amerika, ich wandere aus nach dem Amerika!«

»Wo willst du hin! Nach dem Amerika?«

Willi wusste, dass er – was Stiefmutter Kaminski betraf – den Bogen überspannt hatte. Bevor sich alles noch zum Schlimmeren wenden könnte, machte er sich lieber aus dem Staub. Amerika lag zwar weit irgendwo hinter Danzig, das war ihm bekannt, mit einem Boot aber, so dachte er bei sich, würde der Kontinent schon schnell in Sichtweite rücken. Und so groß könne ein Großer Teich nun auch nicht sein! Schließlich war der Teich in Kaufmann Ullmanns Garten auch groß, doch den hätte man locker mit einem tüchtigen Boot überqueren können.

»Was willst du denn in Amerika, Willi?«

»Ein besseres Leben führen. Dort ist es allemal besser als hier in Elbing mit dem Drachen unter einem Dach!«

Paulchen blickte ihn mit großen Augen fragend an.

»Und wie willst du dahin kommen?«

»Mit einem Boot natürlich.«

»Und wo willst du das Boot herbekommen?«

»Das bauen wir uns zusammen. Unten am Elbing-Fluss, da liegen schon die Bretter und was wir sonst noch so brauchen. Kommst du mit, Paul, hilfst du mir das Boot zu bauen?«

»Klar helfe ich dir«, pflichtete Paulchen ihm bei und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schultern. »Und wenn es da in diesem Amerika besser ist als hier in Elbing, dann komme ich eben mit.«

Nach einem anstrengenden Fußmarsch erreichten sie das Ufer des Flusses. In einem dichten Gebüsch hatte Willi schon seit Wochen alles für den Schiffsbau gebunkert. Alles war bis ins Detail durchgeplant. Sogar an die Schiffstaufe hatte er gedacht. Statt Sekt gab’s jedoch ein kühles Blondes von der Brauerei Englisch Brunnen.

»Mensch Willi, wo haste denn das alles her?«, wunderte sich Paulchen.

»Organisiert!«, antwortete Willi nicht ganz ohne Stolz.

Das Holz stammte von Kisten der Zigarrenfabrik Loeser & Wolff. Durch ein Loch im Zaun des Alteisenhändlers Schlemper hatte er sich mit Nägeln versorgt. Hammer und Fuchsschwanz waren aus Vaters Werkstatt geborgt. Und das Wichtigste stammte ebenfalls aus dem Besitz von Wilhelm Steinky Senior: seine Taschenuhr. Sie sollte dem Navigator, und das war kein geringerer als Willi selbst, als Kompass dienen. Die Taschenuhr würde ihm, mit Hilfe der Sterne, geradewegs den Weg nach Amerika weisen. Sie war schier unerlässlich für die riskante Überfahrt über den Großen Teich. Deshalb hatte er sie aus der Nachttischschublade seines Vaters gefischt.

Die Schiffswerft nahm unter Hochbetrieb ihre Arbeit auf. Willi und Paulchen werkelten bis in die Dämmerung hinein. Dann ließen sie das Boot zu Wasser und stachen in See. Doch schon nach kurzer Fahrt leistete sich der Navigator einen schicksalshaften Fehler, den auch Vater Steinkys Taschenuhr nicht verhindern konnte. Willi hatte das Boot zu hart Backbord genommen, woraufhin das Ruder zerbrach. Das stolze Schiff schlug an einen Pfeiler der großen Eisenbahnbrücke und strandete unterhalb der Schleuse. Im Winter war nicht weit davon entfernt ein Junge beim Schlittschuhlaufen ertrunken. Obwohl man das Eis überall aufgehackt hatte, wurde der Leichnam lange Zeit nicht gefunden. Ein solch ähnlich tragisches Ende sollte Willi und Paulchen gottlob erspart bleiben. Beide konnten sich mit einem beherzten Sprung ans nahe Ufer retten.

Immer wieder kehrten sie in den nächsten Tagen zum Schiffswrack zurück. Tapfer schaukelte es, umkreist von alten Dosen und etwas Treibholz, hin nun her, bis es eines Tages schließlich gänzlich verschwunden war. »Vielleicht«, so meinte Willi, und da war er sich beinahe sicher, »vielleicht ist es ja jetzt auf dem Weg nach dem Amerika!«

Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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