Читать книгу Das Mädchen mit den Schlittschuhen - Michael W. Caden - Страница 17
Der alte Karton
ОглавлениеAm nächsten Morgen wurde Albert im Hotelrestaurant schon erwartet.
»Sie haben Besuch, Herr Steinky!«
»Was? Ich? Besuch?«
Albert schaute den Hotelier verwundert an.
»Ja, zwei junge Damen. Sie sitzen dort am Tisch.«
Der Hotelier, den Albert eigentlich nur unter seinem Vornamen Janusz kannte, deutete zum Tisch hinten in der Ecke neben dem Haupteingang. Albert war an diesem Morgen als erster am Frühstückstisch eingetroffen, Heinrich würde ihm sicherlich in wenigen Minuten folgen.
»Sind Sie sich sicher? Die beiden dort wollen wirklich zu mir?«
Albert blickte ungläubig zum Tisch, an dem eine junge Frau und ein etwa zehn Jahre altes Mädchen Platz genommen hatten. Den Kopf der Frau zierte ein blonder Haarzopf. Sie war etwa Mitte 40 und hübsch anzusehen. Sie hatte sich in eine enge, helle Jeans gepresst.
»Das kann nicht sein. Die verwechseln mich bestimmt«, war sich Albert sicher.
»Nein, sie haben gesagt, dass sie zu Ihnen wollen, Herr Steinky. Sie sagten, dass sie aus Klutajny kommen, aus dem Dorf, in dem Sie früher einmal gewohnt hätten. Und sie wollten den Mann sprechen, der kürzlich bei ihnen zu Hause zu Besuch war.«
Albert überlegte einen kurzen Moment.
»Ja, das ist richtig, da habe ich kürzlich eine Familie besucht.«
Der Hotelier wurde etwas ungeduldig, konnte dies aber gekonnt überspielen.
»Ach wissen Sie, Herr Steinky, ich hole die beiden einmal an Ihren Tisch. Ich stelle mich auch gerne als Dolmetscher zur Verfügung. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Natürlich. Warum nicht? Gerne!«
So ganz wohl war Albert nicht in seiner Haut. Er hatte zwar nicht abgelehnt. Doch was wollten die beiden von ihm? Und woher kannten sie ihn?
Der Hotelier ging zu den Besucherinnen, sprach kurz mit den beiden und kehrte mit ihnen zurück an Alberts Tisch.
»Herr Steinky, darf ich vorstellen, das sind Danuta Laski, die Tochter von Herrn Wójcik, und ihre Tochter Patrycja.«
»Angenehm, Albert Steinky!«
Albert stand auf, machte eine leichte Verbeugung und reichte den beiden die Hand.
»Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Janusz redete mit den Besucherinnen einige Sätze auf Polnisch. Dann wandte er sich Albert zu.
»Frau Laski sagt, dass sie und ihre Tochter es schade finden, dass Sie jüngst nicht zum Kaffee bleiben konnten«, dolmetschte der Hotelier.
»Ja, es tut mit leid. Wir mussten an diesem Tag leider noch weiter«, log Albert, fühlte sich gleichzeitig aber etwas unwohl dabei.
Die Frau, die sich als Danuta Laski vorgestellt hatte, wandte sich erneut dem Hotelier zu.
»Frau Laski sagt, dass sie und ihr Vater das gerne nachholen würden und Sie heute zum Kaffeetrinken einladen möchten«, erklärte Janusz.
»Ja, danke. Sagen Sie ihnen bitte, dass mein Aufenthalt in Heilsberg knapp bemessen ist und wir leider nur wenig Zeit haben«, sagte Albert und hatte Angst, dass man ihm die erneute Lüge an der Nasenspitze ansehen könnte.
»Frau Laski sagt, wenn Sie zu Besuch kommen, könnten Sie vielleicht ein bisschen über Ihr Leben in dem Dorf erzählen und über das, was ihre Tochter Patrycja Ihnen gerne zurückgeben möchte.«
Das Kind wollte ihm etwas überreichen? Damit hatte Albert nicht gerechnet. Er blickte zu dem Mädchen mit dem blau-gelb-gestreiften Kleid und den blonden Zöpfen. Die Kleine lächelte. Albert sah, wie sie einen Karton hervorzog, den sie die ganze Zeit mit den Händen hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte.
Albert blickte in dieses zierliche Gesicht, während sich das Kind angeregt mit Janusz unterhielt. Es kam ihm so vertraut vor. Hatte er das Mädchen zuvor schon einmal gesehen? Es konnte nicht sein! Oder doch? Albert erinnerte sich nicht, so sehr er sich auch bemühte.
Das polnische Mädchen legte das kleine Paket auf den Tisch. Sie tat dies so behutsam, als könne jeden Augenblick etwas darin zerbrechen.
»Patrycja sagt, dass sich in dem Karton etwas befindet, was Sie an früher erinnern würde und was Sie sicherlich schon lange vermisst hätten«, übersetzte Janusz.
Albert schaute etwas genauer auf das Mitbringsel. Er schluckte. Ja, er kannte diesen alten vergilbten Karton. Allein der Gedanke daran, was sich darin verbergen könnte, ließ sein Herz schneller schlagen. Konnte das möglich sein? Konnte es wirklich sein? Während Albert in einer gewissen Bewegungsstarre verharrte, hob das Mädchen vorsichtig den Deckel an, griff bedächtig mit einer Hand in die Schachtel und legte sie im nächsten Augenblick mit einem Lächeln in Alberts Schoß: Vaters alte Elbinger Schlittschuhe.
Albert verschlug es die Sprache. Er war ergriffen vom Anblick. Er rang um Worte. Kein Wort wollte aus ihm heraus, nicht eine Silbe. Albert konnte seine Gefühle nicht mehr verbergen. Sie waren zu stark, alles war zu emotional. Er, der im Leben gelernt hatte, mit Gefühlen hinter dem Berg zu halten, ließ seinen Tränen freien Lauf. Sie kamen wie ein tosender wilder Strom über ihn, der alles, was sich ihm in den Weg stellte, mitreißen wollte.
Albert wandte den Blick zum Fenster. Draußen war ein strahlend blauer Himmel – ein Bilderbuchtag. Er sah, wie ein Arbeiter damit begonnen hatte, die Hecke zu schneiden. Doch er nahm es kaum wahr. Er weinte vor Freude – und er weinte vor Scham. Nach mehr als 60 Jahren konnte er diese geliebten Schlittschuhe in seinen Händen halten, die Schlittschuhe, die ihm, die seinem Vater Willi zu Lebzeiten so viel bedeutet hatten, die er gehütet hatte wie seinen Augapfel und die er doch bei der Flucht zurücklassen musste. Er empfand aber auch Scham darüber, dass er sich dem alten Polen gegenüber so misstrauisch verhalten und dessen Gastfreundschaft so barsch abgewiesen hatte. Fast zärtlich strich er jetzt über den kalten Stahl der Kufen und lächelte dabei das kleine Mädchen an. Er hielt die Schlittschuhe fest in den Händen, so als wollte er sie nie wieder loslassen.
Albert zog ein Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich. Dann wandte er sich Janusz zu.
»Sagen Sie den beiden Damen bitte, dass ich mich unendlich über dieses Geschenk freue und dass ich Ihre Einladung zum Kaffee gerne, sehr gerne annehme.«
Janusz übersetzte, während Albert, Danuta und Patrycja die Stühle rückten und Platz am Tisch nahmen.
»Wenn Sie meinen Gästen bitte etwas zu trinken anbieten würden, Janusz.«
»Ja, gerne.«
Danuta bestellte sich einen Kaffee, Patrycja einen Kakao. Mittlerweile kam auch Heinrich hinzu.
Albert schob den Stuhl zurück und erhob sich.
»Guten Morgen, Heinrich. Du glaubst ja gar nicht, was hier gerade geschehen ist.«
Albert war noch immer gerührt. Heinrich blickte fragend zu ihm hinüber.
»Dieses kleine Mädchen dort.« Albert deutete auf Patrycja. »Dieses kleine Mädchen hat mir soeben Vaters alte Schlittschuhe gebracht.«
»Was? Wirklich? Das gibt es doch gar nicht!«
Darauf war auch Heinrich nicht gefasst.
»Woher hat sie die Schuhe?«
»Das habe ich sie noch nicht fragen können.«
Janusz brachte die bestellten Getränke. Dann nahm er ebenfalls wieder Platz am Tisch. Jetzt dolmetschte Heinrich. Er unterhielt sich eine ganze Weile mit Patrycja. Das Mädchen antwortete lebhaft auf alle Fragen, wedelte aufgeregt mit den Armen und schaute immer wieder zu Albert hinüber. Dabei lächelte sie unentwegt, und ihre hellblauen Augen strahlten.
»Sie sagt, sie hat die Schlittschuhe zufällig beim Spielen in einem alten Schrank auf dem Dachboden gefunden. Ihre Mutter und der Großvater hätten nichts davon gewusst. Sie habe ihnen auch nichts gesagt, weil sie nicht wollten, dass sie im Winter auf den zugefrorenen See geht. Deshalb hat sie es heimlich getan. Die Schuhe hat sie anschließend wieder in dem Schrank auf dem Dachboden versteckt. Nur letzten Winter nicht, da hat sie es vergessen und seitdem hätten die Schlittschuhe unter ihrem Bett gelegen. «
Albert, Heinrich, Janusz, Danuta und Patrycja sprachen noch eine geschlagene Stunde miteinander. Dann brachten Albert und Heinrich die beiden Gäste zum Wagen, den Danuta vor dem Gebäude geparkt hatte. Sie verabschiedeten sich. Als das Auto die Hoteleinfahrt langsam verließ, winkten Albert und Heinrich ihnen noch lang hinterher.
»Ist das nicht eine unglaubliche Geschichte, Heinrich?«
»Ja, das ist es wirklich, Albert.«
Beide warteten noch, bis das Auto dem Blickfeld entschwunden war, und bewegten sich dann wieder zum Hoteleingang.
»So, Albert, was haste denn nach der Überraschung heute so geplant?«, fragte Heinrich schon fast routinemäßig.
»Da fragst du noch, Heinrich? Heute fahren wir zum Kaffeetrinken zu den Wójciks! Wir fahren zum Kaffeetrinken, Heinrich!«