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Schlittschuhlaufen auf dem Elbing-Fluss

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Die Wochen gingen ins Land. Alles im Hause Steinky nahm seinen geregelten Lauf. Doch es war merklich kälter geworden. Willi musste sich an manchen Tagen auf dem Weg zur Schule schon seine dicke Winterjacke überziehen. Und dann kam der Tag, auf den er so lange sehnlichst gewartet hatte: Das Thermometer fiel unter Null. Und was für Willi noch viel wichtiger war: Dort blieb es auch stehen. Der Frost kam an den Elbing-Fluss und mit ihm das Eis. Die Zeit der Schlittschuhläufer hatte begonnen.

Der Leierkastenmann spielte schon seit Stunden immer die gleichen Melodien, als Johanna und Willi an jenem späten Nachmittag den Fluss erreichten. Schon häufig war Johanna an kalten Wintertagen hierher gekommen, schon damals als junges Mädchen, viele Jahre vor ihrer Heirat mit Wilhelm, hatte sich die Schlittschuhe geschnürt und dort ihre Runden gedreht. Jetzt wollte sie dabei sein, wenn Willi die ersten Gehversuche mit den schnellen Kufen auf dem Eis unternahm. Die Dämmerung war angebrochen.

Eigentlich die schönste Zeit hier am Fluss, fand Johanna. Sie genoss diese Momente, wenn die Lichter auf dem Eis die Nacht erhellten und die Eiskristalle glitzern. Doch seit Tagen schon hatte sie ständig diesen Husten und einen stechenden Schmerz in der Brust verspürt. Dazu leichtes Fieber. Die Schritte fielen ihr schwerer als sonst. All dies wollte sie auf dem Eis vergessen. Sie wollte einfach nur dahingleiten. Abgeschirmt von der Welt. Von den Schmerzen, den Sorgen, die sie seit Tagen begleiteten wie ein lästiger Gast. Ihrem Mann hatte sie nichts von diesem Ausflug erzählt. Heimlich war sie mit Willi zum vereisten Fluss aufgebrochen.

»Du musst vorsichtig sein, wenn du auf das Eis gehst, Willi. Und bleib immer nah bei mir. Am besten gibst du mir die Hand«, mahnte Johanna besorgt.

»Mach ich, Mutter. Aber mach dir keine Sorgen. Es passiert schon nichts. Ich passe schon auf.«

Willi hatte die neuen Schlittschuhe bereits angezogen und mit ein paar Schritten Besitz vom eisigen Parkett ergriffen. Er wackelte und schlotterte in den Beinen. Mit einigen seltsam anzusehenden Armbewegungen gelang es ihm immer wieder, das Gleichgewicht zu erlangen. Die meisten Kinder waren schon gegangen, doch ein paar Unermüdliche drehten noch immer ihre Runden. Willi warf einen flüchtigen Blick zu ihnen hinüber. Zu seinem Glück war niemand dabei, den er kannte. Sicher würde er noch eine recht unglückliche Figur machen. Und manch einer der Schlittschuhläufer schoss, was Willi sichtlich einiges Unbehagen bereitete, auf schnellen Kufen von Zeit zu Zeit dicht an ihm vorbei. Hoffentlich würde es ihm nicht so ergehen wie der Heiligen Lidwina, dachte er. Mutter hatte ihm von ihrer Legende erzählt. Eine überlieferte Geschichte berichtete, dass die damals 15-jährige Lidwina im Jahr 1395 beim Schlittschuhlaufen so heftig mit einem anderen Läufer zusammenstieß, dass sie sich schwer verletzte. Nach der Genesung ging sie in ein Kloster und widmete sich bis zu ihrem Tod 1443 der Religiosität. Wegen des Unfalls wurde sie zur Schutzheiligen der Schlittschuhläufer. Nein, ein Schutzheiliger wollte Willi nicht werden. Und er brauchte es auch nicht, denn keiner der Burschen kam ihm lebensbedrohend nahe oder nahm auch nur annähernd Notiz von ihm und seinen ersten Gehversuchen auf dem Eis.

»Komm, Willi! Schlaf nicht!«

Mutter Johanna nahm ihn mit einem Ruck an ihre Seite, und sie glitten gemeinsam über das Eis.

»Siehst du, wie gut das schon klappt!«

Willi taumelte leicht, konnte seinen Körper aber wieder ausbalancieren. Mit jedem Schritt hielt er sich etwas sicherer auf den Beinen. Ein-, zweimal musste Johanna ihn fest an der Hand nehmen, um einen Sturz zu vermeiden.

Runde für Runde drehten sie gemeinsam auf dem großen Fluss. Langsam kroch der Nebel den Fluss hinauf. Willi ließ die Hand seiner Mutter los und zog in zwei, drei Schritten in einer kleinen Bahn im Kreis um sie herum.

»Werde ja nicht übermütig!«, mahnte Johanna ihren Sprössling. Der Stolz einer Mutter über die ersten gelungenen Gehversuche ihres Sohnes auf dem Eis hatte sich in ihre Gesichtszüge geschrieben.

Eine Frau, circa Mitte 50, mit einem dicken Fuchspelz um den Hals gewunden, beobachtete das Schauspiel von einer Bank aus. Sie spendete verhalten Beifall.

»Wissen Sie, das sind heute seine ersten Runden auf dem Eis«, rief ihr Johanna hinüber.

»Dafür klappt’s aber schon ganz gut«, machte die Frau dem Jungen Mut.

Johanna wollte ihr noch etwas zurufen, doch in diesem Augenblick versagte ihr die Stimme. Was um Himmelswillen war das? Ein stechender Schmerz durchdrang ihre Brust. Sie musste husten. Und es nahm kein Ende. Es zog ihr fast die Beine weg. Der Arzt hatte sie gewarnt. Möglicherweise könnte es sich um den Anfang einer Lungenentzündung handeln, hatte er diagnostiziert. Doch Johanna wollte es nicht wahrhaben. Ach, das wird mich schon nicht umhauen, hatte sie die Befürchtungen des Doktors abgetan.

»Willi, ich glaub’, wir müssen runter vom Eis. Ich glaube, mir geht es nicht gut. Ich bekomme schlecht Luft. Komm, wir gehen morgen wieder hierher!«

»Ja, ist gut Mutter.«

Johanna und Willi verließen das Eis und nahmen eine Zeit lang auf der Bank neben der Frau mit dem Fuchspelz Platz.

»Ist Ihnen nicht gut, junge Frau?«

»Ach, es geht schon wieder«, wiegelte Johanna ab. »Ich habe wohl eine hartnäckige Erkältung.«

Die drei auf der Bank beobachteten, wie die Lichter auf dem Eis erloschen. Sie warteten, bis sich Johanna etwas besser fühlte. Auch der Leierkastenmann hatte seit einigen Minuten sein Spiel beendet. Von der Straße fiel nur noch ein schwacher Laternenschein hinüber. Der Nebel war noch dichter geworden. Zwischen den Brücken kauerte stumm die Nacht. Nur der eisige Wind drehte hier bei Frost und Kälte noch seine einsamen Runden. Die Frau von der Bank begleitete Johanna und Willi bis zur nächsten Straßenbahn, dann verabschiedete sie sich.

»Ich hoffe, junges Frauchen, dass es Ihnen recht schnell wieder besser geht.«

Die guten Wünsche der Frau im Fuchspelz sollten sich nicht erfüllen. Den nächsten Morgen sollte Johanna Steinky nicht mehr erleben. Sie starb noch in der Nacht. Auf ihrem Totenschein, den Willi einige Tage später auf dem Küchentisch liegend vorfand, war vermerkt: Todeszeitpunkt: 2.38 Uhr. Alter der Person: 34 Jahre. Geschlecht: weiblich. Name: Johanna Steinky, geborene Karau. Es war der zweite Advent 1921. Und dort stand ein Wort, das Willi noch nie zuvor gehört hatte und das er fortan sein Leben lang nicht mehr vergessen würde: Tuberkulose.

Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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