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Am See

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Als Albert am Morgen aufwachte, grüßte ihn von draußen Vogelgezwitscher. Er hatte am Abend vergessen, das Fenster zu schließen. Es stand auf Kipp. Es war ein herrlicher Tag, der Himmel strahlend blau. Albert brachte seine Morgentoilette hinter sich. Er verließ das Zimmer, schloss die Tür hinter sich und ging die Treppe hinunter ins Restaurant. Dort traf er auf Heinrich, seinen Begleiter, der sich bereits Kaffee eingegossen hatte. Es war erst kurz nach acht. Albert belegte zwei Brötchen mit Wurst und Käse, dazu nahm er ein gebackenes Ei und zwei leckere Pfannkuchen. Er schüttete sich Kaffee ein. Heinrich mochte es eher herzhaft, er blieb bei der polnischen Leberwurst.

»Wo geht es heute hin, Albert?«, fragte Heinrich, während er genüsslich an der zweiten Tasse Kaffee schlürfte.

Albert brauchte nicht lange zu überlegen. Er hatte sich seinen Tagesplan schon zurechtgelegt.

»Ich dachte, wir fahren als erstes zum See, der liegt auf dem Weg. Dann machen wir einen Abstecher nach Klotainen und schließlich, wenn die Zeit noch reicht, sollten wir der Kirche in Siegfriedswalde noch einen Besuch abstatten.«

Heinrich wischte sich zufrieden den Mund mit einer Serviette ab, faltete sie und legte sie auf den leeren Teller.

»Bevor es losgeht, müssen wir den Wagen noch betanken«, meinte Heinrich. »Wir haben kaum noch Sprit. Ein paar Meter weiter Richtung Stadtmitte befindet sich eine Tankstelle.«

Die Rucksäcke hatten sie nach dem Aufstehen bereits gepackt und noch vor dem Frühstück im Kofferraum verstaut. Sie gingen zum Auto. Heinrich entriegelte mit der Fernbedienung die Wagentüren.

»So, jetzt kann das Abenteuer losgehen«, zwinkerte er Albert zu.

Das Fahrzeug verließ das Hotelgelände, nach dem Tanken ging es – wie geplant – Richtung Simsersee.

Die Fahrt dauerte nicht lange, höchstens zehn Minuten. Unterwegs fielen Albert die vielen kleinen Gehöfte in der Gegend auf. Wie idyllisch es hier ist, das hatte er ganz vergessen.

Heinrich stoppte den Fiesta auf einem Parkplatz am See. Beide stiegen aus. Es war bereits kurz nach zehn. Noch lag der Morgentau über den Wiesen. Mit der Fernbedienung verriegelte Heinrich das Fahrzeug. »Für alle Fälle«, wie er meinte und grinste.

Albert hielt es jetzt nicht mehr auf dem Schotter. Schon als Heinrich den holprigen Parkplatz ansteuerte, hatte er den kleinen Steg ausgemacht. In schnellen Schritten zog es ihn jetzt dorthin. Er schritt über die morschen Holzplanken. Hastig streifte er im Gehen zuerst die Schuhe ab, dann die Socken. Schließlich krempelte er mit ein paar Handbewegungen noch die Hosenbeine hoch. Am Ende des Steges setzte er sich auf die Planken und ließ die Füße langsam ins kalte Wasser gleiten.

Ein paar Äste einer Erle ragten über den Steg. Wie ein silbernes Tablett schimmerte der See zwischen dem Gehölz hindurch. An den Ästen brachen sich die Strahlen der Morgensonne. Von weitem hörte Albert das Klappern eines Storches.

Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet? Mehr als ein halbes Leben lang. Noch einmal die Füße im klaren und kühlen Wasser des Simsersees baumeln lassen. Wie er es genoss. Noch vor Jahren hätte er nicht im Traum daran gedacht. »Ach, hätte Vater Willi das alles doch vor seinem Tode noch einmal erleben dürfen …«, ging es ihm durch den Kopf. Der Gedanke schmerzte.

»Weißt du, Heinrich, hier habe ich als Kind oft gebadet », erzählte Albert, während er mit einer Hand sanft, ja fast zärtlich über die Oberfläche des Wassers glitt und dabei dem Spiel der Libellen zuschaute. »Als Kinder verbrachten wir jede freie Minute hier am See – sommers wie winters. Auch die Frauen aus unserem Dorf kamen an lauen Sommerabenden nach der Feldarbeit noch zum Baden hier vorbei. An der Stelle, an der die Simser in den See floss, fing ich damals jede Menge Krebse. Richtig stattliche Burschen. Ihre Scheren und der Schwanz waren eine Delikatesse. Doch außer mir wollte sie keiner. Mutter und meine kleine Schwester Lieschen machten sich nichts draus. Meinem Bruder Karl waren sie zu suspekt«, meinte Albert, grinste und hob den Kopf. Er blickte den Hang hinauf und deutete mit dem Zeigefinger nach Osten. »Da, hinter dem Hügel, da liegt Klotainen!«

»Ja, ich weiß«, entgegnete Heinrich. »Ich bin schon das ein oder andere Mal dort durchgekommen.«

»Ist das nicht eine wunderbare Landschaft, wie geschaffen von eines Künstlers Hand?« Albert kam ins Schwärmen.

»Ja, das ist es wohl«, meinte Heinrich und sein Blick schweifte weit über das Gewässer. »Die Natur braucht in diesem Landstrich immer etwas länger, bis sie ihre Pracht zeigen kann. Die Buschanemonen an den Bächen und feuchten Waldrändern sind immer die ersten, die den Frühling ankündigen. Schließlich gesellen sich die Sumpfdotterblumen, der Löwenzahn und die Glockenblumen hinzu.«

»Was konnte man da herrlich über die Wiesen rennen. Im Herbst gingen wir sogar barfuß über die Stoppelfelder, und es machte keinem etwas aus.«

Albert genoss den Augenblick, die frühen Sonnenstrahlen, das glitzernde Schimmern des Sees. Er fühlte sich als Zaungast der Natur – mittendrin, aber doch außen vor.

.»Was meinst du, was wäre geworden, wenn uns niemand vertrieben und alles in deutscher Hand geblieben wäre?«, wandte er sich fragend Heinrich zu.

»Wahrscheinlich wäre von der Natur heute nicht mehr viel übrig geblieben«, antwortete dieser.

Albert blickte kurz unter sich. Dann schoss sein Kopf geradezu in die Höhe.

»Ei, war das ein Spaß im Winter. Du glaubst ja gar nicht, was dann hier los war.«

Ja, die Winter, sie konnten eisig sein in Ostpreußen. Das wusste auch Heinrich. Manchmal hielten Schnee und Frost das Land sogar noch im Mai in ihren eisigen Krallen. Heinrich lebte in diesem Land, seit er denken konnte. In der Nähe von Guttstadt war er geboren, auf einem Gutshof als der jüngste Spross von fünf Geschwistern. Seit Generationen war der Hof in Familienbesitz. Schon früh musste er hart bei der Landarbeit anpacken. Doch das Land, es hat ihn nie losgelassen. Auch nicht, als er Ende Januar 1945 als 10-Jähriger mit seiner Familie auf der Flucht von der russischen Front überrollt wurde und er wieder in seinen Heimatort zurückkehrte. Gerne sprach er nicht über diese Zeit. »Zu vieles erlebt«, meinte er stets, wenn er darauf angesprochen wurde, und winkte ab. Darüber reden wollte er nie. Auch jetzt nicht. Heinrich hatte gelernt, was vergessen heißt.

»Das war vielleicht ein Spaß. Da drüben am Hang Richtung Siegfriedswalde wurde Schlitten gefahren, manchmal gleich über den See«, sprudelte es jetzt aus Albert heraus. »Was für eine Rodelpartie! Ein Bauer stellte ein Pferd und einen Kutscher zur Verfügung. 10 bis 15 Schlitten wurden hintereinander befestigt, und das Pferd zog die Schlitten den Berg hinauf. Wenn die Eisdecke es zuließ, liefen wir Kinder auch Schlittschuh. Wir hatten uns kleine Kufen bei Urbschat, unserem Dorfschmied, anfertigen lassen. Mit kräftigen Schlägen schlug er die Eisen unter die Holzpantoffeln – und ab ging es danach aufs Eis …«

Eine Weile hatte Albert monologisierend in die Ferne geblickt, als er sich wieder seinem Begleiter zuwandte.

»Weißt du, Heinrich, nicht jeder im Dorf konnte sich ein Paar Schlittschuhe leisten, dafür gab es aber Schlorren – manche hatten unter jedem Fuß ein Brett, das mit einem Riemen am Fuß festgeschnallt war. Auf dem Brett waren runde Drähte aufgenagelt – eine ganz primitive Anfertigung, die man sich praktisch selbst machen konnte. Dann gehörte zu den Schlorren noch ein Stab, so lang wie ein Besenstiel, mit einem unten eingeschlagenen Nagel. So spielten wir oft sogar Eishockey.«

Auch Albert hatte solche Schlorren besessen. Bis zu dem Tag, als er von seinem Vater Willi diese wundervollen Schlittschuhe erhielt. Jahrelang hatte dieser sie gehütet wie einen Schatz.

»Weißt du, Heinrich, zu meinem 12. Geburtstag schenkte mein Vater mir ein paar wundervolle Schlittschuhe. Mann, wie die blinkten und funkelten. Er muss sie ständig poliert haben. Mein Vater hatte sie von seiner Mutter ebenfalls zum 12. Geburtstag erhalten. Damals in Elbing.«

»Eine schöne Geste und ein schönes Geschenk«, fand Heinrich.

»Er hat sie offenbar so gehütet, weil sie ihn so sehr an seine Mutter erinnerten. Weißt du Heinrich, sie starb ziemlich jung an einer Lungenembolie. Er hat ihren Tod nie richtig überwinden können.«

»Was ist aus den Schlittschuhen geworden?« Heinrich interessierte die Geschichte.

»Weiß ich nicht. Bei der Flucht blieben sie zurück im Haus. Die Schlittschuhe sind sicherlich so wie ganz Ostpreußen mit dem Krieg untergegangen.«

Heinrich strich sich mit der Hand durch die Haare.

»Wollen wir ins Dorf fahren?«

Albert fuhr es in den Magen. Ins Dorf? Nach Klotainen? Er spürte wie das Herz schneller schlug, so wie bei der Landung in Danzig. Klotainen – wie sehr war dieser Name mit Sehnsucht und mit Schmerz verbunden.

»Nach Klotainen!?«

»Ja! In fünf Minuten sind wir da. Länger brauchen wir kaum«, war sich Heinrich sicher.

Was waren schon fünf Minuten im Vergleich zu 60 Jahren. Ein Wimpernschlag, ein winziges Nichts – und für Albert in diesem Augenblick doch eine ganze Ewigkeit.

Albert zog die Füße aus dem Wasser, rieb sie mit den Händen kurz trocken, streifte sich die Socken und Schuhe über. Dann stand er auf.

»Ja, lass uns fahren, Heinrich. Fahren wir… Fahren wir nach Hause!«

Heinrich steuerte den Wagen zunächst Richtung Heilsberg. Die Straße führte durch einen dicht bewachsenen Erlenwald. Die Teerdecke war bestückt mit unzähligen Schlaglöchern, die aneinander gereiht Albert stark an einen Schweizer Käse erinnerten. Nachdem sie die Chaussee erreicht hatten, setzte Heinrich den Blinker nach rechts und fuhr Richtung Seeburg.

Albert fühlte, wie sein Herz raste. Unentwegt starrte er auf die Landschaft, die in einem Rausch von Farben an ihm vorüberflog.

War das die Straße nach Klotainen? War das der vereiste Weg, den er vor 60 Jahren bei bitterer Kälte mit der Mutter und seinen Geschwistern auf der Flucht vor der sowjetischen Kriegsfurie genommen hatte? Albert war sich nicht sicher. Alles hatte sich verändert. Früher waren die Straßen hier nicht asphaltiert. Sie waren zu einer Hälfte gepflastert und zur anderen Hälfte mit Sand bedeckt. Und die Bäume waren gewachsen, sie überzogen die Straße mit ihren wuchtigen Kronen wie ein grünes Dach.

Völlig unverhofft schossen Albert Fetzen von Bildern durch den Kopf. Ganz plötzlich waren sie da. Deutlich sichtbar. Schmerzend. Er sah, wie sich dieser endlose Flüchtlingstreck den Weg nach Heilsberg hinunter schlängelte – alte Männer, Frauen und Kinder, dick vermummt auf Pferdewagen oder mit Handkarren, vom Kampf gezeichnete Soldaten in Militärfahrzeugen oder zu Fuß. Der Horizont war rot, blutrot, und die Straßen hatte der Frost mit einem zentimeterdicken Eis überzogen. Die Fuhrwerke kamen ins Rutschen, Granaten flogen über die Köpfe der Flüchtlinge. Man hörte ein ständiges Pfeifen und in der Ferne ein dumpfes Dröhnen der Geschütze.

Albert wandte sich seinem Begleiter zu. Er versuchte, diese alten Gespenster aus den Tagen von Flucht und Vertreibung aus seinem Kopf zu verbannen und blickte zu den wuchtigen Baumkronen empor.

»Heinrich, schau diese Bäume! Wie gewaltig sie doch in den sechs Jahrzehnten gewachsen sind. Da, die Brücke über die Simser – die war damals anders. Sie ist neu gemacht worden! Und dort, der Weg nach Blumenau: Er ist nicht geteert. Geradeso wie damals. Herrlich, diese sandigen ostpreußischen Wege«, schwärmte Albert, während sein Herz laut pochte. Immer wieder schossen Erinnerungsfetzen durch seinen Kopf. Wie er als Kind mit seinem Bruder Karl zum kleinen Bahnhof nach Blumenau ging. Hier in der Nähe gab es die besten Blaubeervorkommen. In der Nähe von Blumenau musste er beim Torfstechen helfen.

»Schau, gleich sind wir da.« Heinrich deutete auf das Ortseingangsschild.

Klutajny stand dort. Klutajny! Nicht Klotainen. Eigentlich hatte Albert es auch nicht anders erwartet. Und doch wirkte es befremdlich auf ihn.

Und auf der linken Seite? Statt auf das Rittergut blickte er auf einen ehemaligen Kolchose-Betrieb. Landwirtschaftliche Maschinen standen verlassen und wie stumme Zeugen einer vergangenen Epoche verrostet umher. Hier arbeitete niemand mehr. Ein trauriger Anblick. Und an der Straße, wo früher vereinzelt Wohnhäuser und Miggegrets Gaststätte standen, thronten nunmehr Plattenbauten, farblos und grau in grau.

»Dort wohnen die Leute, die früher in der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft tätig waren. Viele von ihnen sind heute arbeitslos. Auf der anderen Straßenseite hat sich manch einer seinen Schrebergarten angelegt«, erläuterte Heinrich, der die Fahrt verlangsamte. Er schien bemerkt zu haben, was Albert bewegte.

»Das Rittergut, das haben die Kommunisten dem Erdboden gleichgemacht. Ich glaube, es ist nur noch ein alter Pferdestall übrig geblieben. Aber Euer Reihenhaus von damals, das steht noch.«

»Unser Haus, es steht noch?«

Albert erschrak. Damit hatte er nicht gerechnet. Zugleich empfand er aber eine tiefe Freude. Wird er es wiedererkennen? Hat sich vieles verändert? Warum hatte er nicht schon früher danach gefragt? Wer wohnt heute dort? Jetzt war er so nah dran, doch jeder Meter Straße schien ihm endlos lang.

»Sind wir gleich da, Heinrich?«

»Ja, gleich. Da unten links, da ist es…«

Wie konnte er nur fragen. Natürlich da unten in der Senke ging es nach links und dann waren es noch 200, 300 Meter.

Heinrich setzte den Blinker.

Eine Betonpiste hatten sie über den einstmals schönen sandigen Boden gezogen. Harten Beton …! Der Wagen ruckte unentwegt. Dann sah Albert bereits die Hausecke. Es war ein Reihenhaus. Vier Familien wohnten dort. Die Koslowskis, die Wohlgemuths, Wagners und … die Steinkys.

Der Wagen stand vor dem Eingang zur Wohnhaushälfte. Der Motor lief leise. Ohne etwas zu sagen blickte Albert auf das alte Backsteinmauerwerk. Ja, das war sein Elternhaus. Kaum etwas hatte sich verändert. Sicher, es war in die Jahre gekommen. Die vergangenen sechzig Jahre waren keinesfalls spurlos an dem Gebäude vorbeigegangen. Das Dach war nie erneuert worden, der Putz marode. Farbe hatte das Haus offenbar in den letzten Jahrzehnten ebenfalls nicht zu sehen bekommen. Aber das alles spielte für Albert jetzt keine Rolle. Das Haus, es stand noch, und es war ein schönes Haus. Das schönste in Klotainen, im ganzen Ermland, in ganz Ostpreußen. Es war sein Elternhaus, und das sollte es bleiben, so lange er auf dieser Welt weilte.

»Sollen wir aussteigen und anklopfen?«, fragte Heinrich.

Albert war tief in seine Gedanken versunken. Heinrich hakte nach.

»Sollen wir reingehen?«

»Was?

»Möchtest du in das Haus gehen?«

Albert war nicht wohl bei dem Gedanken. Er zögerte, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Die Gefühle spielten verrückt.

»Ich weiß nicht. Ich… Ich glaube, ich kann es nicht. Vielleicht wollen die Leute uns gar nicht hier haben. Vielleicht verängstigen wir sie nur? Vielleicht hassen sie die Deutschen …? Nein, Heinrich. Später … lass uns später noch einmal herkommen. Komm Heinrich – fahr. Wir kommen später noch einmal wieder. Fahr! Bitte fahr!«

Heinrich zögerte einen Augenblick.

»Wohin?«, fragte er vorsichtig.

»Ich weiß nicht. Nur weg von hier, Heinrich. Nur weg…!«

Heinrich legte den Rückwärtsgang ein.

»Dann fahren wir nach Siegfriedswalde zur Kirche – oder?«

»Ja, zur Kirche…. Das ist eine gute Idee. Komm Heinrich, fahr zur Kirche!«

Heinrich steuerte den Fiesta zurück zur Chaussee. Auf der gegenüber liegenden Seite zur Ausfahrt war ein kleiner Altar aufgebaut. Eine alte Frau steckte ein paar Blumen in eine Vase. Albert nahm keine Notiz davon. Seine Gedanken zu ordnen, es fiel ihm schwer in diesem Augenblick. Warum war er nicht in das Haus gegangen? Hatte er Angst davor, dass ihn die Vergangenheit auf diesen wenigen Quadratmetern Wohnfläche einholen würde? Dass sie ihn lähmen, ihm die Luft abschnüren würde? Nach etwa fünf Kilometer Wegstrecke erreichten sie Siegfriedswalde. Albert wollte nur jetzt noch eins: raus aus dem Auto.

»Halt an, Heinrich. Ich muss mir etwas die Beine vertreten.«

Heinrich versuchte seinen Begleiter zu beruhigen.

»Schau doch, wir sind gleich da. Schau, da vorne ist schon die Kirche.«

»Zum heiligen Johannes von der lateinischen Pforte« hatte man das kleine, stolze Kirchlein einst getauft. Auf den ersten Blick schien es kaum verändert. Das Gotteshaus war am 4. Juli 1912 eingeweiht worden. Es war die dritte Kirche in der langen Geschichte der Gemeinde.

Heinrich stoppte das Auto auf dem kleinen Parkplatz vor dem Gotteshaus. Sie stiegen aus und gingen durch das unverschlossene Tor. Neben dem Pfarrhaus hinter dem mächtigen Backsteinbau hatte sich ein Storchenpaar in einem Nest auf dem Mast einer Überlandleitung häuslich eingerichtet. Das Männchen klapperte mit dem langen Schnabel, was das Zeug hielt.

Kurz vor dem Kirchenportal blieb Albert stehen. Er musste daran denken, wie er als Kind hier mit seinen Eltern jeden Sonntag zur Heiligen Messe pilgerte. Den ganzen Weg von Klotainen hinauf, immerhin fünf bis sechs Kilometer.

»Hier sind wir sonntags immer zur Kirche gegangen. An Sonntagen wurden sogar zwei Messen gehalten, die eine um 7 Uhr, die andere um 10 Uhr.«

Heinrich nickte, so als wolle er ihm beipflichten.

»Wir gingen meistens zu Fuß. Bei ganz besonderen Anlässen fuhren wir auch schon mal mit dem Pferdewagen unserer Nachbarn. Bei meiner Kommunion etwa.«

Albert grinste.

»Männlein und Weiblein mussten immer getrennt voneinander sitzen. Einmal, da hatte ich meine Matrosenmütze noch aufbehalten. Da kam Mutter von hinten und fegte sie mir mit einer Handbewegung vom Kopf.«

Albert wollte seinem Begleiter gerade erzählen, wie er als Messdiener mit einem Burschen aus der Nachbarschaft heimlich den Messwein des Pfarrers verkostet hatte, als er ein Geräusch wahrnahm. Er drehte sich um und erblickte einen Mann in einem schwarzen Talar, der höflich grüßte.

»Dzien dobry.«

Albert und Heinrich erwiderten den Gruß. Es handelte sich ganz offensichtlich um den Gemeindepfarrer. Es war ein Mann mittleren Alters. Er trug eine runde Brille, hatte dunkle Haare, die er mit einem Seitenscheitel nach links gekämmt hatte.

Heinrich und der Geistliche redeten ein paar Sätze in Polnisch miteinander, dann wandte sich der Dolmetscher Albert zu.

»Ich habe den Herrn Pfarrer über den Grund unseres Besuches aufgeklärt. Er findet das wohl recht interessant und lädt uns ins Pfarrhaus ein. Möchtest du?«

Albert nickte zustimmend.

Das Pfarrhaus, ebenfalls aus roten Backsteinen gebaut, lag direkt hinter der Kirche. Dort wartete die Haushälterin, eine kleine, korpulente Frau, schon an der Eingangstür. Der Pfarrer rief ihr etwas zu, was Albert nicht verstehen konnte. Er schien ihr offensichtlich zu verstehen gegeben zu haben, dass er einen Gast aus Deutschland mitbringt, denn sie begrüßte die unerwarteten Gäste nunmehr in gebrochenem Deutsch.

»Sind Sie willkommen ganz herzlich. Bitte, kommen Sie herein.«

Die Haushälterin reichte den Gästen die Hand und führte sie durch die Diele in einen Wirtschaftsraum.

»Wir haben Kaffee und Kuchen für Sie. Nehmen Sie doch Platz, bitteschön», forderte sie die Gäste auf und reichte jedem als Willkommenstrunk ein kleines Gläschen Wodka, dem auch der Pfarrer nicht abgeneigt war.

Der Pfarrer und seine Gäste nahmen Platz an einem Tisch, während die Wirtschafterin den Kaffee in die Tassen goss. Dann reichte sie einen Erdbeerkuchen dazu, den sie zuvor aus der Küche geholt hatte. Albert, Heinrich und der Pfarrer bedankten sich.

Zwei Stunden blieben sie im Pfarrhaus. Albert erzählte dem Pfarrer von seiner Jugendzeit in Klotainen, von seinem Elternhaus, von der Schule und von der Arbeit auf dem Rittergut. Der polnische Geistliche hörte andächtig zu, während Heinrich Satz für Satz übersetzte.

Nach einer Weile stand der Pfarrer auf und fischte ein altes Kirchenbuch aus einem Bücherregal neben der Zimmertür. Dann setzte er sich wieder und reichte es Albert über den Tisch. Albert begann darin zu blättern, zunächst langsam, dann immer schneller – bis zur Jahreszahl 1941. In dem Jahr ging er hier in Siegfriedswalde zur Kommunion. Und tatsächlich, da stand zwischen all den Namen plötzlich der seinige: Albert Steinky, Klotainen, geboren am 16. Juni 1932 in Klotainen/Kreis Heilsberg.

Albert war gerührt. Er bedankte sich, zog eine kleine Pocketkamera aus der linken Hosentasche und fotografierte den Eintrag. Zum Abschied schenkte der Pfarrer ihm einige Zweige von einem Fliederstrauch, der vor der Kirche wuchs. Er reichte sie ihm und sagte etwas. Albert wandte sich Heinrich zu und schaute ihn mit großen Augen fragend an.

»Der Pfarrer wünscht dir, dass der Fliederzweig in deiner jetzigen Heimat ausschlagen und zu einem neuen Baum heranwachsen möge. Er bedankt sich für unseren Besuch und sagt, dass wir jederzeit wiederkommen können. Und du solltest auch keine Angst davor haben, in euer altes Haus zurückzukehren. Der Pfarrer sagt, er kennt die Leute. Sie heißen Wójcik, und es seien gottesfürchtige und gastfreundliche Menschen.«

Albert bedankte sich bei dem Geistlichen. Dann gingen Heinrich und er wieder zu dem kleinen Parkplatz vor der Kirche, wo Heinrich den Fiesta geparkt hatte. Offenbar hatte Heinrich mit dem Pfarrer über den Vorfall in Klotainen gesprochen. Alberts Entschluss stand nunmehr fest.

»Komm«, meinte er zu Heinrich, »wir fahren noch einmal zum Haus.«

Kaum angekommen, drückte Heinrich den stark verrosteten Klingelknopf neben der Eingangstür. »Stanislaw Wójcik und Danuta Laski« stand auf einem kleinen Türschild in Handschrift geschrieben. Sie warteten eine Weile. Doch nichts geschah. Heinrich betätigte den Knopf ein zweites Mal.

»Dzien dobry.«

Ein älterer Mann, etwa 80 Jahre alt, war um die Hausecke gekommen und grüßte die Ankömmlinge. Er trug eine gewöhnliche Arbeitshose und kam offenbar von der Gartenarbeit. In einer Hand hielt er einen Rechen.

Heinrich und der Fremde redeten miteinander. Der alte Pole schaute Albert kurz an, lächelte und nickte. Dann öffnete er die Tür. Die beiden gingen hinein. Albert folgte ihnen, während er bemerkte, wie der ältere Herr ihn in der Diele beäugte.

»Albert, das ist Herr Wójcik. Ich habe ihm erzählt, warum wir hier sind und dass du früher einmal in diesem Haus gewohnt hast. Er hat uns ins Haus gebeten und möchte wissen, wo du jetzt beheimatet bist. Und warum wir beim ersten Besuch nicht hinein gekommen sind?«

Albert reichte ihm die Hand, tat zunächst aber einmal so, als habe er die Fragen nicht verstanden.

Der Alte hatte sie also ganz offensichtlich bemerkt. Egal! Zum ersten Mal seit Jahren stand Albert wieder im Flur seines Elternhauses. Sein Blick fiel sofort auf die Holztreppe, während Heinrich sich angeregt mit dem alten Mann auf Polnisch unterhielt. Hier vom Flur aus gelangte man über diese Treppe direkt zum Speicher. Dort befand sich eine große Räucherstube. Hinter einem Balken hatten Albert und sein Bruder Karl ein kleines Messer versteckt – für den Schinken und die Grützwurst. Auch die kleinen Steinkys waren eben Selbstversorger.

Heinrich winkte Albert zu.

»Wir sollen doch bitte in die Wohnstube kommen, meint Herr Wójcik.«

Höflich, dieser alte Pole, dachte Albert.

»Er wohnt hier mit seiner Tochter Danuta und seiner Enkelin Patricya. Seine Frau ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben«, erzählte Heinrich, während sie gemeinsam durch die Küche den Wohnraum betraten.

Was der in der kurzen Zeit alles rausbekommen hat, wunderte sich Albert. Er spürte die Anspannung. In der Wohnstube war alles noch wie früher, lediglich die Möbel waren andere. Albert traute seinen Augen kaum: Da stand ja noch der alte, gewaltige Kachelofen. Er war ein Allesfresser. Er fraß Holz, Briketts oder Torf. Lediglich die Sitzbank war verschwunden. Wie oft hatte Mutter am Abend dort mit ihm und seinen beiden Geschwistern gesessen und Geschichten aus ihrem Heimatdorf Raunau erzählt, von dem Hof, den ihr Vater dort hatte, von ihren Geschwistern oder von der Arbeit auf dem Rittergut. Manchmal lauschten sie aber auch nur der Musik aus dem Grammophon, das der Vater vom Frankreichfeldzug mitgebracht hatte. Man konnte sich so herrlich am Ofen anlehnen, und im Winter strich einem die Wärme angenehm über den Rücken, während man aus dem Fenster blickte, wo sich an eisigen Tagen bizarre Eisblumen bildeten.

»Schau Heinrich, hier oben ist ein kleines Türchen.«

Albert deutete auf den Kachelofen.

»Hier konnte man Äpfel zum Schmorren reinlegen. Mann, was waren die lecker!«

Heinrich und ihr polnischer Gastgeber hatten bereits Platz an einem Tisch genommen.

»Herr Wójcik fragt, ob du auch einen kurzen Blick ins Schlafzimmer werfen möchtest.«

Natürlich wollte er. Als Kind hatte er es nie so richtig gemocht. Schließlich musste er sich diese kleine Stube mit seinen beiden Geschwistern teilen. Doch hier und heute, das war etwas anderes. Wie oft war er von dort aus durchs Fenster gestiegen, nur weil ihm der Weg durch die Haustür zu weit war.

»Ja«, meinte Albert. »Gerne.«

Auch im Schlafzimmer schien die Zeit stehengeblieben, nur eben die Möbel waren auch hier nicht mehr dieselben. Beim Blick in dieses Zimmer bekam Albert Gänsehaut. Die Eindrücke und die Erinnerungen überwältigten ihn.

»Früher war dies das Schlafzimmer der Kinder«, erzählte er. »In einer hinteren Ecke stand ein großer Kleiderschrank mit vielen kleinen Fächern. Dort wurden auch unsere Kleider und Schuhe aufbewahrt. Schuhe hatte ich nur zwei Paar, ein Paar für jeden Tag und dann meine Sonntagsschuhe, auf die ich nichts kommen lassen durfte. Da war unsere Mutter ganz penibel.«

Albert hörte, wie der alte Pole leise mit Heinrich sprach.

»Albert! Herr Wójcik sagt, dass es den alten Schrank, der früher in diesem Zimmer stand, noch gibt. Er hat ihn auf den Speicher gebracht und bewahrt darin Dinge auf, die er nicht mehr braucht.«

Albert wollte es kaum glauben. Hatte er richtig gehört? Den alten Schrank, es gab ihn noch. Ja, warum auch nicht. Er war massiv aus Eiche. Deutsche Wertarbeit, wie es so schön heißt. Robust. Etwas, was man nicht so schnell kaputt kriegt. Etwas für die Ewigkeit. Wenn der alte Schrank noch existierte, vielleicht befanden sich darin auch noch seine Schlittschuhe, die er bei der Flucht zurücklassen musste, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf.

»Heinrich, kannst du dich noch erinnern? Ich hatte dir am See doch von den Schlittschuhen erzählt, die mir mein Vater zum 12. Geburtstag geschenkt hatte.«

»Ja, Albert! Was ist damit?«

Heinrich schaute Albert fragend an.

»Meine Mutter hatte sie in dem Schrank in einem geheimen Staufach versteckt, als ich mir damit einmal einen Schuhabsatz kaputt fuhr. Sie dachte immer, wir Kinder hätten keine Ahnung von der Existenz dieses Faches.«

Albert wirkte geradezu euphorisch.

Wieder sprach Heinrich mit dem Gastgeber.

»Herr Wójcik sagt, dass er noch nie irgendwelche Schlittschuhe in dem Schrank gesehen hat. Er sagt, wenn du möchtest, können wir gerne nach oben gehen und uns den Schrank und das Fach anschauen.«

Die drei hielt es jetzt nicht mehr in dem Schlafzimmer. Sie eilten durch die Wohnstube und die Küche wieder in den Flur. Dann stiegen sie die alte Speichertreppe hinauf.

Stanislaw Wójcik öffnete die Tür zum Dachboden. Sie knarrte laut, was wohl daran lag, dass sich in den letzten Jahren wohl selten jemand hier obenhin verirrt hatte. Albert betrat als Erster den Raum. Sofort fiel sein Blick auf den Schrank. Aus Tausenden von Schränken hätte er ihn wiedererkannt. Diesen Schrank gab es nur einmal auf der Welt. Alle Schrecken und Wirren des Krieges hatte er überstanden, um nunmehr in wenigen Minuten sein Geheimnis preisgeben zu können.

»So, nun passt mal auf, was hier gleich geschieht!«

Albert war geradezu entzückt. Er bückte sich und öffnete die untere linke Schublade, zog sie heraus und legte sie zur Seite. Dann griff er – so als habe er es schon tausend Mal zuvor geübt – mit der rechten Hand in den Hohlraum. Als seine Finger wieder zum Vorschein kamen, hielt er einen kleinen runden Holzstopfen in Händen, der als Entriegelung für eine weitere Schublade gedient hatte.

»Schaut mal her!«, strahlte er.

Und tatsächlich, was zuvor wie eine Zierblende aussah, ließ sich jetzt bequem nach vorne schieben.

Albert zuckte. Was war das? Das Fach, es war leer!

Für einen Augenblick war es gespenstisch still auf dem Dachboden geworden.

Albert konnte es nicht glauben. Das Fach, von dessen Existenz niemand im Haus etwas wissen konnte, war leer. Fassungslos starrte er in die verstaubte Schublade.

Albert erinnerte sich, dass er schon einmal vor dieser leeren Schublade gestanden hatte. Das war Ende 1944 …

Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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