Читать книгу Das Mädchen mit den Schlittschuhen - Michael W. Caden - Страница 5

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»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.«

Jean Paul

Ankunft in Danzig

Klotainen – Kreis Heilsberg – Ostpreußen. Diese Namen begleiteten ihn sein Leben lang. Wie oft hatte er sie schon geschrieben? Er wusste es nicht. Dutzende Male, das war gewiss. In der Schulzeit, während seiner Ausbildung, bei Bewerbungen, immer, wenn er sie zu Papier brachte, erinnerten sie ihn an ein Leben vor dieser Zeit. An ein Leben, das er beinahe verdrängt hatte. Doch diese Namen waren untrennbar verbunden mit ihm, sie waren Identität, mehr als bloße Worthülsen, mehr als ein gelebtes Gefühl, und sie waren für ihn auch immer eng verknüpft mit Wehmut.

Gedankenversunken blickte der ältere Herr in Reihe 25 aus dem Fenster des Flugzeuges. Der Himmel war wolkenverhangen, dazwischen schimmerte vereinzelt etwas blau. Nach knapp eineinhalb Flugstunden würde er in wenigen Minuten wieder festen Boden unter den Füßen haben – polnischen Boden.

Viele Länder hatte er in den vergangenen 60 Jahren bereist, aber Klotainen, dieses kleine ermländische Dorf im Herzen Ostpreußens, dieser 200-Seelen-Ort, der kaum auf einer Landkarte vermerkt war, blieb für ihn stets unerreichbar. Über Jahrzehnte lag es fern jenseits des Eisernen Vorhangs. Ein Landstrich mit einem unvergleichbaren Zauber. Der Himmel hoch und weit. Und jetzt war es so unvorstellbar nahe – nur einige wenige Stunden trennten ihn noch von diesem Ort.

Planmäßig setzte der Airbus 320 auf der Landebahn von Rebiechowo auf. Ein paar Fluggäste applaudierten verhalten. Nicht alle der 150 Sitzplätze waren besetzt, hier und da klafften Lücken.

»War eigentlich gar nicht so schlimm«, dachte der ältere Mann. Er war Mitte 70, hoch gewachsen, kräftig. Brillenträger. Die vollen grauen Haare hatte er zurückgekämmt. Er trug eine dunkle Faltenhose, dazu ein helles Karo-Hemd, Schlips und ein beiges Sakko. Vor eineinhalb Stunden war er als Passagier von Frankfurt-Hahn in Richtung Danzig gestartet – zum ersten Mal in seinem langen, arbeitsreichen Leben hatte er ein Flugzeug bestiegen.

Kurz bevor der Airbus seine endgültige Halteposition erreichte, setzte reges Treiben im Passagierraum ein. Stauraumfächer wurden aufgestoßen, Handtaschen, Rucksäcke, Pakete hastig herausgezogen. Alles schien der Bewegungsstarre entronnen, die sich noch kurz vor der Landung eingestellt hatte.

Dem Mann dort am Fenster machte die plötzliche Hektik nichts aus – eigentlich schien er sie nicht einmal zu bemerken. Noch immer in Gedanken versunken blickte er über den Rand seiner Brille durch das kleine Seitenfenster zum Flughafengebäude hinüber. »Lech Walesa Airport« stand dort in dicken Lettern zu lesen.

Er spürte, wie sein Puls an Tempo zunahm, fühlte, wie er am Kragen schwitzte, wie die Nässe stromlinienförmig über seine Hände glitt. 1945 war er in Danzig am Bahnhof nur knapp dem Beschuss durch sowjetische Tiefflieger entkommen. Es war mit einem Male so, als hätte sich die Uhr von einem Augenblick auf den anderen um sechzig Jahre zurückgedreht. Hunderttausende befanden sich auf der Flucht vor der sowjetischen Kriegsfurie. Bilder schossen ihm durch den Kopf. Fragmente von schmerzverzerrten Gesichtern. Grauenhafte Bilder. Bilder, von denen er glaubte, dass er sie längst verdrängt hätte. Ihm war, als höre er die Kommandos der Offiziere. Verwundete wurden in die Waggons gehoben, vor allem Soldaten, notdürftig verbunden, die Uniformen zerfetzt, dazwischen auch Zivilisten: alte Männer, Frauen und Kinder. Er sah, wie Projektile durch die Vertäfelung des Waggons schlugen, Holzsplitter flogen umher. Er hörte die Detonationen, das Schreien der Flüchtlinge, die nichts als nur noch das bloße Leben bei sich trugen. Die Luft roch nach Metall und Schwefel. Flammen schlugen aus dem Bahnhof, ganze Wände des riesigen Gebäudes brachen ein. Eine Mutter blickte ihn wortlos mit großen, starren Augen an, in den Armen hielt sie ihr lebloses Kind.

Wie aus heiterem Himmel tauchten urplötzlich zwei Tiefflieger mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen neben den Gleisen auf. Sie luden ihre Salven über der Menschenmenge ab. Zwei Soldaten brachen nur wenige Meter von ihm entfernt tödlich getroffen zusammen. Direkt neben ihm schlugen lange Reihen von kleinen Blitzen in den Boden. Zwei Sanitäter, die einen Verwundeten auf einer Trage transportieren, sackten getroffen zusammen. Ein Soldat stieß ihn in den offenen Waggon, er spürte einen stechenden Schmerz im Bein, dort, wo er Tage zuvor von einem Granatsplitter getroffen worden war. Der Zug setzte sich in Bewegung. Hoffentlich sind die Gleise heil geblieben, schoss es ihm durch den Kopf. Nur weg von hier, dachte er. Nur weg!

»Entschuldigen Sie bitte, mein Herr!« Der Mann am Fenster reagierte nicht.

»Entschuldigen Sie …, Sie müssen aussteigen!«

Aussteigen? Der ältere Herr auf Platz 25a drehte sich in die Richtung, aus der er die Stimme wahrgenommen hatte.

»Der Flug ist zu Ende, gleich kommen die Reinigungskräfte. Sie müssen das Flugzeug jetzt verlassen.«

Die junge Dame mit dem frisch aufgetragenen Make-up war freundlich, aber bestimmt. Sie lächelte.

»Ja gut, ich komme.«

Der ältere Herr rückte die Hemdsärmel noch einmal gerade. Er packte seine kleine Reisetasche, die er unter dem Sitz verstaut hatte, zupfte kurz an der Krawatte und ging in Richtung Ausgang.

»Wir hoffen, Sie beehren uns bald wieder«, meinte die Flugbegleiterin, als er die Maschine verließ.

Noch immer in Gedanken versunken blickte der Mann zur Stewardess.

»Was meinten Sie?«

»Wir hoffen, Sie beehren uns bald wieder.«

»Hm ja«, brummelte er. »Ja, ja…«

Zielstrebig steuerte der ältere Herr das Eingangstor zum mehrstöckigen Passagierterminal an. Auf halber Strecke kreuzte er einen Container. Durch eine große Glasscheibe erblickte er mehrere Männer in Uniform. Es waren Soldaten, die an einem Tisch saßen und redeten. Einer lachte. Zwei andere gestikulierten mit den Händen. Einer der Uniformierten blickte flüchtig zu ihm hinüber. Der Mann schaute angestrengt weg. Was niemand sehen konnte: Seine Hände waren immer noch schweißgebadet.

Was ist mit den Soldaten? Werden sie dich kontrollieren? Wirst du die Tasche öffnen müssen? Was, wenn sie deinen deutschen Pass sehen?

Nur nicht auffallen!, dachte der Mann. Auf gar keinen Fall auffallen!

Doch nichts von alldem geschah. Die Uniformierten nahmen den letzten Passagier des Fluges 3093 nicht einmal zur Kenntnis.

Als er seinen Koffer vom Fließband geholt hatte und die Ankunftshalle durch die geöffnete elektronische Schiebetür verließ, fiel sein Blick auf ein Namensschild, das jemand gut sichtbar über eine kleine Menschentraube hielt. »Albert Steinky«, stand auf diesem Schild handschriftlich geschrieben.

Steinky, das war kein Allerweltsname. Nein, er war eben typisch ostpreußisch, dachte der alte Mann. Manche Familien dort hießen Wölky, Langanki oder Kutschki. Und er hieß eben Steinky. Albert Steinky, das war sein Name. Das war der Junge, der vor rund 60 Jahren aus dem Osten des Deutschen Reiches vor der russischen Kriegsfurie flüchten musste und der jetzt am Ende seines Lebens als alter Mann zurückkehrte. Albert Steinky. 74 Jahre alt. Gelernter Stuckateur. Verwitwet. Katholisch. Kinderlos. Geboren in Klotainen, Kreis Heilsberg. Ein Mann auf der Reise in seine Vergangenheit. Ein Mann auf der Reise in seine alte Heimat Ostpreußen.

»Willkommen in Danzig«, grüßte ihn der Mann mit dem Schild. Er war ein paar Jahre jünger als Albert Steinky, trug ein helles Sakko von der Stange und eine dunkelblaue Jeans, die schon bessere Tage gesehen hatte.

»Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug!«

»Angenehm?! Na ja, es war mein erster! Hätte schlimmer kommen können!«, scherzte Steinky.

»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Heinrich Ostrowski. Ich bin Ihr Reisebegleiter. Ich komme aus der Nähe von Allenstein, aus Guttstadt. Darf ich Ihren Koffer nehmen?«

»Ja, gerne«, antwortete Albert Steinky und reichte ihn rüber.

»Kommen Sie, der Wagen steht gleich um die Ecke.«

Die beiden verließen das Flughafengebäude und gingen zu einem silberfarbenen Ford Fiesta.

»Wir brauchen etwa drei bis vier Stunden bis zum Hotel Pod Klobukiem nach Heilsberg – je nachdem wie stark der Verkehr auf der E 77 ist.«

Ostrowski öffnete die Hecklappe des Autos. Dann legte er den Koffer und die Reisetasche hinein. Albert Steinky nahm derweil Platz auf dem Beifahrersitz. Ostrowski startete das Fahrzeug, der Wagen rollte aus der Ausfahrt des Flughafengeländes und bog auf die Kartuska-Schnellstraße in Richtung Danzig ein. Der Autoverkehr hielt sich in Grenzen.

»Kennen Sie die Altstadt von Gdansk, äh Danzig?«, fragte Ostrowski.

»Nein« , antwortete Steinky. »Ich kenne nur den Bahnhof, und den habe ich auch nur einmal kurz gesehen – das war nachts im Februar 1945. Da blieb jedoch keine Zeit für Sightseeing, wie das auf Englisch so schön heißt«, scherzte Steinky. »Da haben die Russen ein Riesenfeuerwerk veranstaltet. Ich hatte wahnsinniges Glück!«

»Ja, Danzig«, seufzte Ostrowski, wurde aber im nächsten Moment geradezu euphorisch. »Die Stadt war nach dem Krieg bis zu 60 Prozent zerstört, die Polen haben in den Jahren danach wirklich eine tolle Aufbauarbeit geleistet. Die Altstadt, die müssen Sie einmal besuchen, Herr Steinky.«

»Ja, ja – mal sehen, wenn später noch Zeit ist – gerne.«

Albert Steinky schaute nachdenklich aus dem Fenster. Überall blickte er auf Reklametafeln in polnischer Schrift. Alles wirkte fremd auf ihn. War es wirklich richtig, diese Reise anzutreten? Würden nicht zu viele Gräben wieder aufgerissen? Vielleicht waren die alten Wunden in seiner Seele noch nicht ausgeheilt! Doch wenn er nicht jetzt gereist wäre – wann dann? Sicher hätte er seine Heimat niemals wieder gesehen. Nein, so sollte sein Leben nicht zu Ende gehen. Nicht ohne ein Wiedersehen. Nein, ein Zurück, das würde es für ihn jetzt nicht mehr geben …

Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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