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Willi im Land der Ordensritter

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Als Willi an diesem Abend nach Hause kam, warteten der Drache und sein Vater schon ungeduldig an der Haustür. Sie hatten sich dort postiert, nicht etwa, weil sie den Sprössling vermisst und sich Sorgen gemacht hätten, sondern vielmehr, weil er jetzt seiner gerechten Strafe zugeführt werden sollte.

»Willem, der Junge hat dich deine Taschenuhr gestohlen«, keifte die alte Kaminski in schlechtem Deutsch und stupste den Vater mit einem Ellenbogen in die Seite. Ihre abhanden gekommene Schokoladentorte ließ sie natürlich auch nicht unerwähnt, während das Gustäffchen, dieser kleine, gierige Nimmersatt, grinsend in der Ecke stand und mit einem Ausdruck von Hochgenuss die Reste einer Brotstulle von einer Backentasche in die andere schob.

»Wo ist meine Uhr?«, brummte Vater Steinky.

Der Tonfall verhieß nichts Gutes.

Willi zuckte mit den Schultern. Er konnte sie seinem Vater beim besten Willen nicht rückübereignen. Schließlich war sie bei der Überfahrt nach Amerika beim Sprung an Land aus der Hosentasche gefallen und im Elbing-Fluss versunken. Überfahrt? Amerika? Was faselte der Sohn da? Diese Erklärung wollte der Vater keinesfalls akzeptieren. Und so tat er das, was er bislang nur recht selten getan hatte: Er zog den Hosengürtel aus und versohlte das Sohnemännchen.

Am nächsten Morgen nahm Willi seinen Rucksack, den er bei Tante Frieda im Stall versteckt hatte, schnürte seine geliebten Schlittschuhe daran fest und machte sich auf und davon. Er verzichtete auf eine Überfahrt und machte sich stattdessen zu Fuß auf die Reise nach Ostpreußen, in das Land der Ordensburgen.

»Dat is ja wirklich nee dolle Jeschichte.«

Erwin Hippels Stammbaum war über Alberts Erzählung hinweg vollends in Vergessenheit geraten. Und auch Friedchen, seine Gattin, schien begeistert und gerührt, während sie unentwegt in ein Taschentuch schnäuzte.

»Nee, Herr Steinky, wat für ne interessante Jeschichte, nee wirklich.«

Friedchen schüttelte den Kopf in einem Zustand großen Mitgefühls hin und her, bis sich schließlich Gatte Erwin wieder zu Wort meldete.

»Wo is er denn hin, der Vadder?«

»Er ist Richtung Ermland. Als er gänzlich erschöpft war, klopfte er in Heilsberg an eine Klosterpforte. Es waren vermutlich Pallotiner. So genau weiß das heute niemand mehr. Er hat nie viel darüber geredet. Er sagte nur, dass er dort das erste Mal seit Jahren wieder richtig satt geworden wäre. Vater blieb ein paar Jahre in diesem Kloster. Später vermittelten ihn die Patres als Kutscher und Pferdeknecht auf das Rittergut Klotainen. Hier lernte er auch meine Mutter kennen, die dort als Köchin arbeitete. Die war zwar sechs Jahre älter als er, aber ihre Kochkünste schienen ihn überzeugt zu haben.«

»Und det Paulchen? Wat wurde denn aus det Paulchen? Haben sich die beeden mal wiederjesehn?«

Albert schaute nachdenklich in Richtung Fenster. Dann wandte er sich wieder seinen Zuhörern zu.

»Nein, leider nicht. Dem Paul, dem hat der liebe Herrgott leider kein langes Leben beschert. Jahre später, beim Fanal des Reichstagsbrandes, wurde dieser aufrechte Junge ein Opfer der aufgehetzten SA-Meute. Aus dem kleinen Burschen war ein Kommunistenaktivist geworden, einer, der die Welt ein bisschen gerechter machen wollte. Die braune Meute holte ihn nachts im Auftrag des Führers aus dem Bett, zerrte ihn an die Hommelbrücke – und erstach ihn dort. Sie waren zu siebt, hatten Messer und Pistolen dabei. Paul hingegen war unbewaffnet und im Schlafanzug. Er hatte keine Chance, seinen Meuchelmördern zu entkommen. Seine Mutter war nicht zu trösten über den Mord an ihrem Sohn. Sie begrub ihn auf dem Friedhof hinter der »Alten Welt« und ließ auf dem Grabstein ein Kreuz einmeißeln.

»Ach, det is aber traurisch, Herr Steinky. Ja, det is wirklich sehr traurisch.«

Friedchen konnte ihre Gefühle nicht mehr im Zaum halten.

»Erwinchen, als det Willichen seenen Rucksack jepackt hatte, da fiel mir noch wat Wichtiges ein.«

»Wat denn, Friedchen?«

»Dat wir ooch noch packen missen.«

»Ach ja, wa wollen ja morgen wieder zurück nach Charlottenburg.«

»Ach, das ist aber schade«, meinte Albert.

Gerne hätte er noch ein wenig geplaudert, aber die Hippels schien es jetzt nicht mehr auf den Stühlen zu halten.

»Dat is wirklich schade, Herr Steinky. Vielleicht begegnen wir uns ja mal wieder, hier im Ermland oder sonstwo auffe Welt.«

Erwin und Elfriede Hippel verließen den Tisch, nachdem sie zuvor ihre Stühle beiseite schoben.

»So, die Herrschaften. Wir wünschen Ihnen noch eenen anjenehmen Aufenthalt in der alten Heimat«, verneigte sich der Familienforscher. »Friedchen und ich, wir wünschen Ihnen eene jute Nacht.«

Nachdem sich Albert und Heinrich widerstandslos den guten Wünschen angeschlossen hatten, klemmte sich Erwin Hippel das Laptop, in dem der riesige Ahnenbaum schlummerte, unter einen Arm und verschwand mit der Gemahlin aus der Tür des Hotelrestaurants.

An dem Abend saßen Albert und Heinrich noch eine Weile gemeinsam am Tisch.

»Wenn ich die Geschichte bis zum Ende erzählt hätte, wären die morgen nie und nimmer mehr bis nach Charlottenburg gekommen«, scherzte Albert und blickte zu Heinrich hinüber, der zustimmend nickte.

»Ja, ich weiß.«

Als Albert sich später zur Nachtruhe bettete, musste er noch eine Weile daran denken, wie er in Klotainen mit Vater und Karlchen so manchen Abend gemeinsam am Kachelofen verbracht hatte. Er dachte an Mattendorf, an Paulchen und die Pangritzkolonie, an Großmutter Johanna, die er nie kennen lernen durfte, und er dachte an die Schlittschuhe, an Vaters wundervolle alte Schlittschuhe und daran, wie dieser im Winter nach dem Tod der Mutter einsam seine Runden auf dem zugefrorenen Elbing-Fluss gedreht hatte. Dann schlief Albert ein.

Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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