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II »Schutzgott Hermes«

Bald aber naht ein Bote,

Hermes nennen sie ihn,

Mit seinem Stab regiert er die Seelen:

Wie leichte Vögel,

wie welke Blätter treibt er sie hin.

Du schöner, stiller Gott!

Hugo von Hofmannsthal/Richard Strauss:

Ariadne auf Naxos, 1912

Highway to Hades

Junge Leute des 21. Jahrhunderts assoziieren »Hermes« in erster Linie mit einem Postdienst, der das Neueste aus dem Internet ins Haus liefert. Im Prinzip ist der Firmenname sinnvoll gewählt, denn Hermes fungierte in der antiken griechischen Mythologie als Bote und (Ver-)Mittler. Der Sohn des Zeus und der Plejade Maia war einer der jüngsten der olympischen Götter. Er galt als schnell, listig und gewandt, ein Patron und Beschützer der Reisenden, Hirten und Diebe, Redner und Dichter, Athleten und Sportler, Erfinder und Kaufleute. Zu seinen Attributen gehörten der geflügelte Helm und ebensolche Sandalen sowie das Kerykeion, der Heroldsstab, abgeleitet vom griechischen Begriff »keryx«, der Herold. Zwei Schlangen winden sich um den obersten Teil des Stabes, sie blicken einander an und stehen für die Verbindung gegensätzlicher Kräfte. Auch die griechische Götterbotin Iris und die römische Göttin des Glücks Felicitas tragen das Kerykeion. Im Altertum war dieses Symbol das Erkennungszeichen der Boten. Es sollte die Immunität dieser Überbringer militärischer Befehle oder geheimer Nachrichten signalisieren und ihre schadlose Rückkehr garantieren. Später wandelte sich das Zeichen in den Merkurstab, ein Symbol des Handels.

Eine besondere, heute weniger bekannte Zuständigkeit des Hermes (römisch: Merkur) war in der Vorstellung der Gläubigen des Altertums jedoch seine wichtigste: Hermes führte den Beinamen »Psychopompos«, der Seelenführer. Auf die Verbindung gegensätzlicher Kräfte wurde bereits hingewiesen: Als göttlicher Grenzüberschreiter geleitet Hermes die Seelen der Verstorbenen an die Gestade der Flüsse Acheron (»der Kummervolle«), Styx (»der Verabscheuungswürdige«) und Lethe (»das Vergessen«) und somit zu Charon, dem Fährmann des Totenreichs. Hermes kontrolliert den »Verkehr« zwischen »Oben« und »Unten« und sorgt dafür, dass die Trennung zwischen den Welten aufrecht und die göttliche Ordnung somit gewahrt bleibt. Abgesehen von den definitiven Beherrschern des Jenseits, Hades und seiner geraubten Gemahlin Persephone, ist Hermes der Einzige, der die Unterwelt problemlos betreten und – nicht ganz unwichtig – wieder verlassen kann.

Die Vorstellung des Totenführers korrespondiert mit den Walküren, die die gefallenen Krieger heim nach Walhalla holen, oder dem Engel Azrael, der von Allah eine Liste mit den todgeweihten Menschen erhält und in den darauffolgenden 40 Tagen diese Aufgabe abarbeitet. Interessant ist auch der Riese Christophorus, der in frühchristlicher Zeit die Toten zur Himmelspforte begleitete und – wie sein altägyptisches Pendant und direkter Vorgänger, der Schakalgott Anubis – hundsköpfig dargestellt wurde.

Allgemein ist der »Seelenführer« eine mögliche Form der Personifikation des Todes. Abgesehen von Gottheiten oder Engeln können auch Geister oder Dämonen diese Aufgabe übernehmen. Neben dem Transport der Seele liegt die Bedeutung des Psychopompos darin, die Sterblichkeit zu akzeptieren. Altgriechische Vasenbilder oder Grabstelen zeigen auffallend oft Frauen, die von Hermes in die Unterwelt begleitet werden – eine Tatsache, die eventuell auch Elisabeths Interesse an dieser griechischen Gottheit gefördert haben mag.


5 Psychopompos Hermes wacht über Elisabeths Alterssitz im Lainzer Tiergarten.

An der Gartenfront der Hermesvilla begrüßte also gewissermaßen der Tod in Gestalt eines jungen Gottes die Hausherrin Elisabeth, ihre Familie und geladene Gäste. Heute betreten die Besucher das Haus durch den ehemaligen Personaleingang und erfahren von dieser besonderen Eigenart der Villa bei Lainz nur noch im Rahmen einer Spezialführung. Wäre es nach dem Kaiser gegangen, sollte die Hermesvilla ja den wenig originellen Namen »Villa Waldruh« tragen.

Am 1. Juli 1882 hatte Franz Joseph verfügt, in unmittelbarer Nähe der Stadt, aber doch schon in der stillen Abgeschiedenheit der Natur aus kaiserlichen Privatmitteln ein Gebäude zu errichten. Es glich einem Märchenschloss und sollte seinen Bewohnern fernab von Hofzwang und Zeremoniell als Erholungsort dienen. In nächster Umgebung des Hauses wurde das ansteigende Gelände terrassiert und dort steht die Statue des Hermes, geschaffen vom Berliner Bildhauer Ernst Herter, die namensgebend für das Bauwerk werden sollte. Dieses war zwar schon 1886 fertiggestellt, der Hermes jedoch folgte erst später, auf Elisabeths Wunsch. Sie bestellte die Plastik persönlich bei Herter, was unzählige Aktenstücke in der Registratur ihres Privatsekretariats bestätigen. Auch der Preis ist bekannt: 15 730 Gulden (zum Vergleich: 2000 Gulden = ca. 7000 Euro).

Überliefert ist, dass die Kaiserin bei der ersten Besichtigung der Innenräume nur den Kopf geschüttelt haben soll. Die Gestaltung entsprach nicht ihrem Geschmack, sondern kann eher als architekturgewordenes Psychogramm des Kaisers aufgefasst werden. Es waren von ihm favorisierte Künstler, die das Erscheinungsbild des Gebäudes bestimmten, das Franz Joseph Elisabeth zuliebe schließlich »Villa Hermes« nannte.

Griechin sucht Griechen

Auch im Achilleion, Elisabeths Privatresidenz auf Korfu, gab es eine »Hermesterrasse«. Ein ruhender Hermes war dort zu sehen, die Kopie einer Bronzestatue aus Herculaneum. Bilder von den Ausgrabungen in den »Städten unter der Asche«, also in Pompeji, Herculaneum und Stabiae, vor allem aber die Neuigkeiten aus »Troja«, das der deutsche Kaufmann Heinrich Schliemann entdeckt haben wollte, beflügelten die Fantasien der Archäologiefans des 19. Jahrhunderts. Die Altertumskunde war dabei, sich als ernst zu nehmende Wissenschaft zu etablieren, um sich von Schatzsuchern, Grabräubern und selbst ernannten »Experten« abzugrenzen. Wer über die notwendigen Mittel und viel Zeit verfügte, schiffte sich nach Smyrna, Neapel oder Alexandria ein und ging den »Sensationen der Vergangenheit« vor Ort auf den Grund.

Elisabeth war als Wittelsbacherin mit engen Beziehungen zu Griechenland aufgewachsen. Immerhin war 1832 der bayrische Prinz Otto, ein Sohn von Ludwig I., als künftiger König nach Griechenland geschickt worden. Die griechischen Nationalfarben Blau und Weiß erinnern noch heute an diese Episode. »Baiern« hieß schon seit 1825 »Bayern« mit einem griechischen Ypsilon. Später wurde Otto aus dem Land vertrieben, von den »schuftigen Griechen«, wie Franz Joseph sie nannte. Die Wittelsbacher verließen Griechenland ernüchtert und verbittert, das philhellenische Abenteuer konnte als gescheitert abgehakt werden.

Als Elisabeth das erste Mal nach Korfu kam, im Jahr 1861, war die Insel englisches Protektorat. Später, als Korfu schon griechisch war, herrschte dort ein weiterer ausländischer Monarch, Georg I., der eigentlich Wilhelm hieß, aus Dänemark kam und 1913 in Thessaloniki ermordet werden sollte. Die kaiserliche Touristin aus Österreich war mehr am ersten Präsidenten Griechenlands interessiert, Ioannis Kapodistrias. Er stammte aus Korfu, war jedoch 1831 ebenfalls ermordet worden, in Nauplia, als er gerade zur Kirche des hl. Spiridon, des Schutzheiligen seiner Heimatinsel, unterwegs war. Elisabeth verehrte den republikanischen Politiker in besonderem Maß, liebte sie ja Griechenland nicht zuletzt als Mutterland der Demokratie.

Auf Korfu suchten die Reisenden die klassischen Gegenden und Szenen und vermeinten in den Korfioten die Ebenbilder des alten Griechentums wiederzufinden. Viele antike Plätze und Ruinenstätten auf dem griechischen Festland waren vor 150 Jahren trostlose Orte, mit Unrat übersät, in den Überresten der Tempel hausten Schafe und Ziegen … Die Mitteleuropäer fühlten sich in ihrem realitätsfernen Bildungstraum gestört und wechselten nach Korfu, das von den Türken nicht erobert worden war und eine venezianische Eleganz ausstrahlte. Elisabeth schrieb an Valerie, dass es »nichts Schöneres auf der Welt« gebe als Korfu, ihr Herz könne sich »gar nicht fassen vor so viel ewiger Herrlichkeit«.

Doch beließ es die österreichische Monarchin nicht beim Schwärmen. Sie las altgriechische Literatur und beschäftigte zu diesem Behufe verschiedene Griechischlehrer, junge »Exoten und Sonderlinge«, die ihr eifersüchtiger Mann durchwegs nicht leiden konnte. Elisabeth verbrachte wesentlich mehr Zeit in der Gesellschaft der jungen Griechen als mit ihrem Kaiser, der die hellenischen Alleinunterhalter mit wechselnden, wenig schmeichelhaften Epitheta wie »der Schreiende« (Nikolaos Thermojannis), »der Bucklige« (Konstantin Christomanos), »der Großhaxerte« (Rhoussos Rhoussopoulos) oder »der Parfümierte« (Alexander Mercáti) bedachte.

Besondere Bedeutung für die Nachwelt sollte der Student Christomanos erlangen, der in seinen »Tagebuchblättern« die Begegnungen mit Elisabeth in der Art eines Chronisten festhielt. Bei seinem Antrittsbesuch bedeutete man ihm, in der Nähe der Hermesvilla zu warten. Er dürfte wohl sehr nervös gewesen sein:

Plötzlich stand sie vor mir – eine schlanke, schwarze Frau. Ihr Kopf hob sich vom Hintergrund eines weißen Schirms ab, durch den Sonnenstrahlen drangen. In der Linken hielt sie einen schwarzen Fächer, leicht an die Wange geneigt. Ihre Augen fixierten mich goldhell.

Drei Stunden spazierten die Kaiserin und ihr zukünftiger griechischer Vorleser durch den frühlingshaften Lainzer Tiergarten: »Dieses Wandern zwischen den hellen Stämmen der Birken und Buchen in die violetten, fast körperlich greifbaren Märchenschatten hinein, unhörbaren Schrittes auf der schwarzen feuchten Erde, über vermoderte Blätter vom vorigen Herbst.«

Abgesehen von der Statue des Hermes kündet in Lainz noch eine weitere Figur von Elisabeths Griechenlandkult. Eine marmorne Aspasia war einst im Freien aufgestellt, heute befindet sie sich aus konservatorischen Gründen im Stiegenhaus der Hermesvilla. Ignaz Weirich hatte die Figur in Rom geschaffen, sie kam erst 1898 in kaiserlichen Besitz. Aspasia wurde von der Hausherrin besonders geschätzt. Geboren im 5. Jahrhundert v. Chr. im kleinasiatischen Milet, wurde sie die zweite Ehefrau des Perikles. Politischer Einfluss war ihr wichtig, sie gab Unterricht in Rhetorik und die Sokratiker berichteten positiv über sie. Wie so viele Frauen, die den Versuch machten, sich über ihren Stand zu erheben, wurde sie als Hetäre und Bordellbesitzerin öffentlich verhöhnt. Nur mit Mühe gelang es Perikles, eine gegen seine Frau eingebrachte Klage wegen »Gottlosigkeit und Kuppelei« abzuwehren. Die geistreiche, gut aussehende und mutige Aspasia, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge souverän behauptete, scheint auf Elisabeth großen Eindruck gemacht zu haben.


6 Ein Vorbild für Elisabeth: Aspasia, Ehefrau des Perikles, im Stiegenhaus der Hermesvilla

Einer Zeitgenossin, die viel Zeit in der Hermesvilla verbringen sollte, setzte die Kaiserin auf ihre Art ein Denkmal, als sie im Mai 1887 von einer Reise nach Rumänien in die Villa im Tiergarten zurückkehrte:

Doch ist dies nicht wert des Lärmes;

Glück lebt nur in Phantasien,

Beiden sei darum verziehen;

Denkt da draußen Schutzgott Hermes.

Wem soll man verzeihen? Und was eigentlich?

Fortsetzung folgt in Kapitel IX.

Mein Herz ist aus Stein

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