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Kapitel 6

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Es war eine warme Nacht für Sankt Petersburg, bestimmt über vier Grad plus. Sie gingen den Nevsky Prospect entlang bis zum grandiosen Dom-Knigi-Bücherhaus, dessen Fenster hell erleuchtet waren.

»Das war mal der Stammsitz der Singer-Nähmaschinenfirma«, merkte Kontrolle an.

»Wieso ist da so wenig Verkehr?«, fragte McCall.

Der breite Boulevard war fast leer. Da stimmte etwas nicht. Das störte ihn.

»Es ist spät«, sagte Kontrolle. »Du findest deine Anweisungen im Hotel. Ihr Name ist Serena Johanssen. Sie hat eine Terroristenzelle infiltriert, die hier in Sankt Petersburg operiert. Aber sie wurde kompromittiert.«

»Wie?«

»Das brauchst du nicht zu wissen. Sie werden sie vom Kresty-Gefängnis vor der Stadt an einen anderen Ort verlegen, wo sie verhört wird. Wir haben keine Ahnung, wo. Wir wissen nicht, wann es passiert, aber es wird irgendwann in den nächsten sechs Monaten sein. Ihr Verhör wird brutal. Wir müssen sie da rauskriegen. Sie könnte sehr tief im Inneren des Gebäudes verborgen sein.«

»Ich habe das Wort Frettchen im Wörterbuch nachgeschlagen«, sagte McCall. »Es ist ein Tier, das im Dunkeln lebt. Wirf mich in ein Loch, um jemanden zu finden, etwas zu stehlen, etwas zu zerstören, und hoffe dann, dass ich meinen Weg aus dem Dreck zurück ans Licht finde.«

»Du bist der Beste, den wir haben.«

»Der Himmel ist nicht dunkel«, sagte McCall.

»Natürlich ist er das.«

»Nein, es ist ein ganz dunkles Blau, fast schwarz, aber nicht ganz.«

»Es dämmert gleich.«

»Aber als wir losgingen, waren die Lichter in den Läden und Gebäuden an.«

McCall sah den einladenden Boulevard entlang. Jetzt herrschte gar kein Verkehr mehr. Er schaute nach oben. Da war eine Gestalt, die auf der Dachterrasse eines Gebäudes etwa 100 Meter entfernt stand. Sie hob sich als Silhouette ab – aber vor was? Der Mond schien nicht. McCall drehte sich wieder zu Kontrolle. Er sah in die andere Richtung das Dom-Knigi-Gebäude hoch. Ein dünnes Rinnsal Blut lief seinen Nacken hinab. McCall griff nach der Sig Sauer P227 an seiner linken Hüfte.

Das Holster war leer.

»Kontrolle!«

»Was ist?«, fragte Kontrolle. »Was ist los?«

Er drehte sich zu McCall. Sein Gesicht war blutüberströmt. Es lief aus den Augen, der Nase, dem Mund. Er hatte ein verzerrtes Lächeln auf den Lippen. Dann kippte er nach vorne. McCall fing ihn auf und legte ihn sachte auf dem Gehsteig ab, sah dann nach oben.

Er erhaschte einen Blick auf den Attentäter, der auf der Dachterrasse stand und ein Hochleistungsgewehr in der Hand hatte. Aber nun war ein roter Sonnenuntergang hinter ihm, der ihn in Blut badete. Er konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen. Er war nicht groß, aber wenn man ein Scharfschützengewehr mit einem MARS-Zielfernrohr hat, muss man nicht groß oder stark oder schnell sein. Man muss nur genau sein. Der Attentäter verschwand im verwaschenen blutroten Licht hinter ihm. McCall sah nach unten auf den sterbenden Mann in seinen Armen.

Er war weg. Stattdessen hatte er eine Kinderpuppe im Arm, das strähnige, brünette Haar blutbefleckt, mit gemalten Augen auf einem Keramikgesicht. Das Gesicht war gesplittert und gebrochen und die kleinen Risse wurden immer größer, ließen es noch weiter auseinanderklaffen.

Das Geräusch dabei war kaum erträglich.

McCall wachte eine Sekunde später auf, alle Sinne aufs Äußerste gespannt. Er war schweißüberströmt. Sein Atem kam abgehackt und er beruhigte ihn und blieb still liegen. Er hörte nichts. Was war das für ein Geräusch gewesen? Das Quietschen des Parkettbodens im Wohnzimmer? Ein Ellbogen, der versehentlich ein Dekostück aus einem Regal gestoßen hatte? Eine Hand, die ein paar M&Ms aus der Schüssel nahm? Das Geräusch war nahezu unhörbar gewesen, aber es hatte sich durch die Schichten seines Albtraums nach oben gekämpft wie ein Schwimmer, der verzweifelt die Wasseroberfläche erreichen will.

McCalls linker Arm schmerzte. Er berührte die alte Schussverletzung, die er unter dem Schulterknochen hatte, wo die Kugel eingedrungen war und die Muskeln durchschlagen hatte. Die Narbe war ausgefranst, denn die Wunde war nicht ordentlich vernäht worden. Er blickte durch das Badezimmerfenster. Draußen war es grau und Regen schien aufzuziehen. Die Schusswunde tat normalerweise weh, wenn es feucht war.

Er warf die Decke ab und griff nach dem Nachttisch. Dieselbe Sig Sauer 227 wie in seinem Traum – oder besser gesagt, die im Traum nicht im Holster gewesen war – hatte er an die Unterseite des Nachtkästchens geklipst. Ohne ein Geräusch machte er sie los, die Waffe fiel sanft in seine Handfläche. Er stand auf, bekleidet mit dunklen Boxershorts, und sah durch die offene Schlafzimmertür auf der Suche nach irgendwelchen Schatten. Nichts bewegte sich. Er ging zur Tür, trat ins Wohnzimmer, die Waffe in den ausgestreckten Händen.

Der karge Wohnbereich war verlassen. Sein Blick wanderte über Bücherregale – viele ledergebundene Bücher, ein paar Thriller als Paperbacks. Eine kommentierte Ausgabe von Sherlock Holmes, Band 1, lag aufgeschlagen auf einem der unteren Regalbretter mit einem schweren Lesezeichen, das aussah wie ein schmaler Dolch und auf einer Seite von Der Hund von Baskerville lag. Auf einem der mittleren Regalbretter stand eine Tiffanylampe und einige Ziergegenstände auf verschiedenen anderen, die er auf Flohmärkten überall auf der Welt gekauft hatte. Es gab eine kleine Bar mit ein paar Flaschen und Gläsern darauf. Daneben stand ein Tisch mit einer prächtigen Bronzeskulptur von Mark Newman, einer nackten Meerjungfrau, die aussah, als wäre sie gerade aus dem Ozean gestiegen, und einen Aal an einer Leine hatte, dessen langer Schwanz hinter ihr hergezogen wurde. Ein wenig surreal und sicher nicht nach jedermanns Geschmack, aber McCall mochte die Figur. Es gab eine Ledercouch mit hölzernem Kopfbrett und Lederarmsessel, einen großen Fernseher, den niedrigen Couchtisch mit der Schüssel M&Ms darauf und einem dicken Buch über Venedig, seinem Lieblingsort. Daneben war ein gelber Schreibblock. Am Rand des Couchtisches ein Laptop mit einem Stapel DVDs daneben und ein paar Kopfhörer. Ein Spritzer Farbe von einem Lehnsessel – eine leuchtend orangene Frisbeescheibe darauf. Ein Schachtisch stand in einer Ecke und zwei Stühle mit gerader Lehne neben den Verteidigern des Alamos, die ihren blau uniformierten mexikanischen Gegnern auf der anderen Seite des schwarz-weißen Glasschachbretts gegenüberstanden. Alle waren kunstvoll bemalt.

Keiner der Alamo-Verteidiger oder der mexikanischen Angreifer war von seinem Platz gerückt.

Nichts war bewegt worden.

McCall schlich in die Küche. Verlassen. Nur, um ganz sicherzugehen, öffnete er die Mikrowelle. Der Smith & Wesson 500er war darin.

Von draußen hörte man leisen Verkehrslärm. Eine Sirene zeugte von einer entfernten Tragödie, aber sonst nichts weiter. In der Stille setzte sich McCall an den Küchentisch. Er sah aus dem Küchenfenster. Die schrägen Dächer waren von der Sonne hell erleuchtet.

Er legte die Sig Sauer P227 auf den Tisch.

Er war alleine.

Aber er wusste, dass jemand in seinem Apartment gewesen war.

Der Antiquitätenladen war zwei Blocks vom Luigi’s entfernt, am West Broadway knapp unterhalb der Broome Street. Auf dem Schild über der grünen Tür stand: ANTIQUITÄTEN & SAMMLERSTÜCKE, INHABER: MOSES RABINOVICH. Wenn man in den Laden kam, war es, als würde man eine andere Welt betreten. Es gab große Statuen überall, einige elegante nackte Frauenkörper aus Porzellan, manche grotesk, Wasserspeier und Drachen mit heraushängenden Steinzungen, Lampen mit männlichen und weiblichen Figuren darauf. Kolonialzeitliche Schaukelstühle, die in allen Ecken schaukelten. Es gab ein paar antike Möbelstücke und einen edlen Coffee Table mit Intarsien, die eine Szene darstellten, in der schwarze-graue Ritter gegen rot-schwarze auf einem Schlachtfeld kämpften, das ein grünes Mosaik war. Auf verschiedenen Regalbrettern standen fein bemalte Pferdefiguren, darunter ein indianischer Krieger auf einem Palomino vor einem Indianerdorf aus Porzellan mit sandfarbenen Tipis. Auf einer Messingplakette darüber stand: Hab keine Angst zu weinen. Es wird deinen Geist von traurigen Gedanken reinigen – Hopi. Es gab Vasen auf den Tischen, die aussahen, als wären sie direkt aus dem Grab von Tutanchamun gestohlen worden, und andere, die wirkten, als wären sie der Preis einer Kirmes-Schießbude gewesen. Es gab mindestens hundert Uhren auf Sekretären und Schreibtischen und auf Brettern an der Wand. Alle zeigten eine andere Zeit an und nur wenige davon tickten. Die wertvollste war eine Großvateruhr: Auf dem Zifferblatt jagte die Sonne den Mond im Kreis herum und das Pendel gab ein tiefes, sonores Klick-Klack von sich. Es gab Vitrinen voller Messer und Bajonette aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und verbeulte Orden mit verblassten Bändern daran. Steinschlossgewehre standen in Glasschränken an einer Wand. Es gab zierliche Pillendosen und solche für Schnupftabak in verschiedenen Farben auf einer Reihe kleiner Regalbretter. Der Laden roch nach Moschus, nach Feuchtigkeit und Sägespänen, auch wenn auf dem Parkettboden keine waren.

McCall mochte das Aroma. Es erinnerte ihn an einen Basar, den er einst in Tangier besucht hatte. Alles, was noch fehlte, war der Geruch von Obst. Natürlich hatte ihn auf diesem Basar jemand versucht umzubringen, was der Erinnerung etwas das anheimelnde Gefühl nahm. Er ging zu einer der Vitrinen, in der zwanzig Pistolen lagen, die meisten Remingtons, ein paar Colts, alle aus dem 18. Jahrhundert. Es gab einen Colt-Revolver, der ihn besonders interessierte. Ein Modell P Peacemaker, Single Action, Standardwaffe der Kavallerie, mit einem 7,5-Zoll-Lauf, auch bekannt als Frontier Six-Shooter. Er hatte eine drehbare Trommel mit sechs Kugeln. Es war das Modell von 1873, aber er war 1877 angepasst worden, um Patronen des Kalibers 44-40 Winchester verschießen zu können, damit er die gleiche Munition wie das Winchester-Gewehr Modell 73 verwenden konnte. Säuregeätzt auf der linken Seite des Laufes stand: Colt Frontier Six-Shooter. Moses hatte ihm versichert, dass er quasi unbenutzt war. Er kostete etwas über 2.000 Dollar, ein wenig oberhalb von McCalls Preislimit für dekorative Stücke. Aber er sah sich gelegentlich die Waffe in der Glasvitrine an.

Der alte Moses schlurfte neben ihn. Er bewegte sich offenbar unter Schmerzen. Er hatte ein paar verblichene Baseballtrophäen auf dem vollgestopften Schreibtisch im hinteren Bereich des Ladens, aber man konnte ihn sich kaum als jungen Mann vorstellen, der im Outfield den Bällen hinterherhechtete und über den Boden auf eine Base zuschlitterte. Es war Arthritis, hatte er McCall gesagt, die sich langsam über den Ischias in beide Beine ausbreitete. Aber er beschwerte sich nie deswegen. Seine Finger waren von der Krankheit verschont geblieben, ein Segen angesichts der fingerfertigen Arbeiten, die er damit ausführte. Der alte Moses war weit mehr als ein Antiquitätenhändler. Die vom Großvater geerbte Uhr war stehen geblieben? Er konnte sie reparieren. Die Kuckucksuhr musste mal überholt werden? Sie würde wieder fröhlich ihr Kuckuck von sich geben, wenn Moses damit fertig war. Die Armbanduhr war stehen geblieben, es lag nicht an der Batterie und man wollte sie nicht zum Juwelier Goldberg an der Ecke bringen, denn sie dort reparieren zu lassen, würde genauso viel kosten wie eine neue Uhr? Moses konnte sie für fünf Dollar wieder herrichten. Er sah immer gleich aus, denn McCall hatte ihn noch nie in anderer Kleidung gesehen. Er trug dunkle Jeans, Slipper ohne Socken und ein weißes Hemd mit einer braunen Strickjacke darüber, die ihre besten Zeiten hinter sich hatte. Es war schwer zu sagen, wie alt er war. Vermutlich über 70, vielleicht auch älter. McCall fand seine Stimme stets beruhigend.

»Du siehst ihn dir an, McCall, aber du bittest mich nie, ihn herauszunehmen und dir zu zeigen.«

»Wenn der richtige Moment gekommen ist«, sagte McCall.

»Du hast in deiner Karriere viele Waffen in der Hand gehabt.«

Da hatte er recht, auch wenn McCall mit dem alten Mann nie über seinen früheren Job gesprochen hatte.

»Das ist eine Schönheit, die man besitzt und bewundert, aber nie abfeuert«, sagte Moses. »Auch wenn ich dir eine Schachtel Munition dafür verkaufen kann.« Er gab noch nicht auf. »Soll ich sie mal aus der Vitrine nehmen? Willst du mal das Gewicht in der Hand spüren?«

»Nicht heute, Moses.«

Eine Glocke erklang aus dem Inneren des Ladens. McCall wusste, das war der Hintereingang des Ladens. Dieser war normalerweise nicht für Kunden zugänglich.

»Entschuldige mich.« Moses schlurfte nach hinten in die schattigen Tiefen des Ladens. Die meisten Birnen der verschiedenen Lampen dort waren aus, abgesehen von einer modernen Emaillelampe auf Moses’ Schreibtisch. Es war ein Alkoven hinter dem Schreibtisch, der zur Hintertür und zu einem Lagerraum führte. Moses war verschwunden.

McCall ging zu einem der Regalbretter mit verschiedenen Uhren aus aller Welt. Er war immer noch entspannt, aber seine Aufmerksamkeit war geweckt. Es war nichts in Moses’ Worten »Entschuldige mich« zu hören gewesen, das angedeutet hätte, dass etwas nicht stimmte. Keine Spur von Sorge oder Anspannung. Aber es war eine leichte Veränderung im Blick des alten Mannes. Eine Müdigkeit, die, wenn auch nur kurz, zu sehen gewesen war. Er war ein alter jüdischer Mann, der umgeben von der Vergangenheit anderer Menschen lebte. Die Juden hatten in den letzten paar tausend Jahren viel zu leiden gehabt und er wusste, dass sich daran nichts ändern würde. Das war eben der Lauf der Dinge.

McCall hörte leise Stimmen aus Alkoven, aber er konnte von dem Brett mit den Uhren aus nichts sehen. Er trat an einen altmodischen Sekretär mit Rollladen, die Art, an der der Weihnachtsmann gewöhnlich die Weihnachtskarten schreibt. McCall sah auf das Preisschild. Der Weihnachtsmann würde seine Geschenke wohl verkaufen müssen, um ihn sich leisten zu können.

Von seiner Position aus sah McCall in einen großen, verzierten Spiegel mit einem vergoldeten Rand, auf dem Harfe spielende Engel thronten. Im Spiegelbild bemerkte er, wie Moses mit zwei jungen Männern redete. Sie waren in der Nacht zuvor im Luigi’s gewesen, in der Sitznische, hatten Pinot Grigio getrunken, mit ihren Kumpels gelacht und einen lustigen Abend verbracht. Sie trugen teure Anzüge, rote Krawatten und schwarze, auf Hochglanz polierte Schuhe. Einer von ihnen hatte eine verzierte goldene Uhrkette. Ihre Stimmen waren nie mehr als ein leises Flüstern, auch wenn Moses sich ein wenig aufzuregen schien.

McCall trat einen Schritt nach links. Jetzt erblickte er im Spiegel den Mann, der im italienischen Restaurant am Abend zuvor seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Er war mittlerer Größe, schlank, mit der Körperspannung eines Athleten. Er trug einen grauen Nadelstreifenanzug mit einer rot-goldenen Krawatte und einem roten Einstecktuch in der Brusttasche. Durch den Alkoven spähte er in den Hauptraum des Antiquitätengeschäfts.

Sein Blick blieb an McCall hängen.

McCall drehte sich nicht um, zeigte nicht, dass er Interesse hatte oder ihn überhaupt bemerkte. Er ging zu einem der Schaukelstühle aus der Kolonialzeit und schubste ihn leicht an. Dann sah er von der Seite in den Spiegel. Der Mann hatte offenbar das Interesse an ihm verloren. Der alte Moses schlurfte zu seinem Schreibtisch, öffnete die oberste Schublade, nahm einen weißen Umschlag heraus und gab ihn einem der jungen Männer. Sie sahen für McCall wie Russen aus, aber vielleicht nicht ganz – möglicherweise Tschetschenen. Unberechenbarer, tödlicher. Der junge Tschetschene steckte den Umschlag in die Innentasche seines Mantels und schüttelte Moses respektvoll die Hand. Dann verließen er und sein junger Partner den Laden durch die Hintertür. Als sie sie öffneten, klingelte erneut leise die Glocke. Der ältere Mann zögerte einen Moment, warf noch einen Blick in den Antiquitätenladen, nickte dann Moses zu und ging hinaus, wobei er die Tür hinter sich schloss.

Als Moses zurückkam, saß McCall im Schaukelstuhl und wippte leicht vor und zurück.

»Du zahlst ihnen Schutzgeld«, sagte er.

»Natürlich. Sie beschützen mich vor bösen Menschen. Das sind selbst Verbrecher. Aber keine jungen Rabauken von der Straße werden versuchen, mich auszurauben. Kein Obdachloser, egal ob Mann oder Frau, wird in meinem Ladeneingang schlafen. Nicht, dass es mir was ausmachte. Ich gehe abends nach Hause und am Morgen wieder in den Laden, ohne Angst haben zu müssen, überfallen zu werden.« Er zuckte die Achseln. »Das ist der Preis, den man bezahlt, wenn man in dieser Nachbarschaft Geschäfte machen will.«

»Du bist nicht der einzige Ladenbesitzer, den sie besuchen?«

»Oh, nein. Die sind sehr gründlich.«

»Erpressen sie auch von Luigi Geld?«

»Nein, sie mögen Luigi. Sie lassen ihn in Ruhe. Aber die anderen Restaurants, die bezahlen, damit sie nachts ruhig schlafen können.«

»Wie viel bezahlst du denen?«

»Nicht so viel, dass ich deswegen bankrottgehe. Ich brauche den Schutz.«

»Den könnte ich dir auch bieten.«

»Wieso solltest du das? Ich bin ein alter Mann, mit dem du ein Schwätzchen hältst, bei dem du dich vielleicht fragst, wer er ist, woher er kommt, wie sein Leben verlaufen ist? Aber du fragst nicht. Denn es ist im Grunde unwichtig. Du musst dich um deine eigenen Geschäfte kümmern, welche auch immer das sind. Und ich mich um meine.«

»Hast du die Polizei verständigt?«

Moses zuckte mit den Achseln. »Wenn ich die Polizei anrufe, gehen die vielleicht zu diesen Kerlen und sagen etwas zu ihnen. Möglicherweise lassen die Männer mich dann in Ruhe. Dann zahle ich an die Polizei.«

»Die meisten Polizisten nehmen keine Schmiergelder.«

»Es ist egal, wer mich beschützt. Ich bezahle die eine Gruppe oder die andere. Es verschafft mir Seelenfrieden. So ist das eben.«

»So sollte es nicht sein.«

Moses lächelte. »Ich sollte meine letzten Tage nicht in einem muffigen Antiquitätenladen verbringen und den Leuten dabei zusehen, wie sie alles angucken und anfassen, aber nichts kaufen. Ich sollte nach Hause rennen können und wieder zum Laden zurück. Ich hab mal einen Schnitt von .368 geschlagen in der Apalachian League, bei den Greeneville Astros in Tennessee. Ausgerechnet Tennessee! Glaubt man das? In der Saison hab ich 17 Triples geschlagen. Nicht mal Micky Mantle hat jemals in einer Saison 17 Triples geschlagen! Jetzt mache ich am Abend und am Morgen einen Spaziergang um den Block, nur damit ich nicht im Rollstuhl ende. Ich gebe meiner Frau einen Kuss, wenn ich heimkomme, und sie kocht das leckerste Kasha für mich. Weißt du, was Kasha ist?«

»Buchweizengrieß, der in Wasser gekocht wird, wie Reis, dann mit Öl gemischt, gerösteten Zwiebeln und Pilzen. Kasha varnishtas ist auch lecker.«

»Ja, meine Frau macht die Farfalle mit einem Hauch Ingwer. Luigi würde vor Neid erblassen. Mach dir keine Sorgen um mich, McCall. Das Leben meint es gut mit mir.«

»Es könnte besser sein.«

Er zuckte die Achseln. »Das kann es immer.« Der alte Mann legte sanft die Hand auf McCalls Arm. »Mach dir keine Sorgen.«

Leichter gesagt als getan, dachte McCall.

Er warf einen Blick auf die Uhr.

»Ich muss zur Arbeit.«

Er ging zur Vordertür, öffnete sie und drehte sich dann noch einmal um.

»Wenn ich diese Männer finden wollte, wo sollte ich da hingehen?«

Moses zuckte die Achseln. »Ich verlasse den Laden nicht. Woher sollte ich das wissen?«

»Du weißt es.«

Der alte Mann zuckte erneut die Achseln.

»Immer schön, dich zu sehen, McCall.«

McCall nickte und schloss die Tür zur Vergangenheit hinter sich.

Zum Mittagessen war viel los. McCall stand hinter der Bar und mischte mit geschickten Händen Drinks, so schnell wie die Kellner ihre Bestellungen hinlegen konnten. Aber Bentleys Bar & Grill war eigentlich immer gut gefüllt. Sie hatte hohe Fenster auf den West Broadway hinaus, darüber stand in geschwungener goldener Schrift der Name Bentleys. Die Sitznischen waren aus dunkelrotem Leder mit schwarzem Rand und es gab jede Menge Tische. Tiffanylampen standen auf dem Tresen, das ganze Lokal wirkte warm und freundlich. Die meisten Gäste waren jung, aus dem Finanzdistrikt, viele Aktienmakler, Anwaltsassistenten, Anwälte, Banker und jede Menge Touristen. McCall wusste, dass Bentleys kein Schutzgeld bezahlte. Der Besitzer, Harvey, war ein enger Freund des Bürgermeisters von New York. Er war es nicht wert, dass man ihn um Geld erpresste. Kleine Geschäfte waren wichtig für die Nachbarschaft.

Die lange Bar aus Mahagoni verlief an der hinteren Wand entlang, Gläser hingen von Halterungen über dem Tresen, Flaschen standen in Nischen und in Vertiefungen neben den Spülbecken. Zwei Bartender arbeiteten. Einer von ihnen bediente die Gäste, die an der Bar saßen oder nicht darauf warten wollten, dass einer der Kellner für sie einen Tisch fand. Der andere mixte nur die Drinks, die von den Kellnern bestellt wurden. Im Moment war das McCall. Aber er machte eine Ausnahme für die blonde, kurvige junge Frau, die sich ihren Weg durch zwei besetzte Barhocker bahnte und ihn breit anlächelte. Den beiden Männern, die auf den Stühlen saßen, schien es nichts auszumachen. Tatsächlich kam es ihnen wohl eher so vor, als seien sie gestorben und in den Himmel gekommen.

McCall wusste, dass sie Karen Armstrong hieß, denn er hatte nach ihrem Ausweis fragen müssen, als sie vor Monaten das erste Mal direkt nach Thanksgiving mit ihren Freunden hierhergekommen war. Sie sah nicht ganz wie 21 aus, aber ihr Ausweis hatte ihm versichert, dass sie am 19. Februar im letzten Jahr 22 geworden war. Sie trug eine blaue Bluse, die so weit aufgeknöpft war, dass sie gerade genug Dekolleté zeigte, um nicht die Polizei auf den Plan zu rufen, dazu einen grauen Minirock und schwarze Schuhe mit niedrigen Absätzen. Er hätte ihr Parfüm nicht genau benennen können, aber es war etwas von Dior.

Elena Petrova hatte dasselbe Parfüm getragen.

»Ich kann meinen Kellner nicht finden, Bobby«, sagte sie entschuldigend.

Sein ganzes Leben hatte man ihn Robert genannt, niemals Bob und ganz bestimmt nicht Bobby. Aber hier lebte er ein anderes Leben mit einer neuen Identität. Soweit die Leute im Restaurant wussten, war sein Name Robert Maclain. Den Menschen im Viertel, die er mochte – Luigi, Moses, die asiatischen Ladenbesitzer – sagte er, sein wirklicher Name sei McCall. Aber auf seinen Kreditkarten, dem Ausweis, den er aktuell hatte, der Tankkarte von Shell und dem New Yorker Bibliotheksausweis stand Robert Maclain und jeder im Bentleys – Harvey und die anderen Barkeeper, die Kellner, die Gäste – nannte ihn Bobby.

Es war ein kleines Opfer.

»Was soll’s denn sein, Karen?«

»Screwdriver, Rusty Nail, zwei Greyhounds und ein Sex-on-the-Beach. Ich frage mich, wieso wir immer alle in Geheimcodes bestellen.«

Und sie lachte. Es war ein kehliges, sexy Lachen, in dem unterschwellig echter Sex on the Beach mitschwang.

»Das hält die Bartender fit«, er machte sich daran, die verschiedenen Drinks zu mixen.

»Wo hast du vor dem Bentleys gearbeitet?«, fragte sie.

»In der Innenstadt. Davor war ich in Boston.« Der erste Teil war eine Lüge und der zweite Teil stimmte. »Ich hab dort einige Zeit in einem Baumarkt gearbeitet.«

»Ist nicht dein Ernst! Regale auffüllen und Farbe verkaufen?«

»Klar.«

Er hatte ihre zwei Greyhounds und einen Screwdriver schon auf ein Tablett gestellt. Er schnappte sich verschiedene Flaschen, benutzte ein Cocktailmaß und füllte die Longdrinkgläser, um an dem Rusty Nail und Sex-on-the-Beach zu arbeiten.

»Du hast irgendwas«, sagte sie. »Du warst doch nicht dein ganzes Leben Barkeeper oder bei Home Depot. Was hast du vorher gemacht?«

»Ich war Spion. Für eine im Dunkeln arbeitende Geheimorganisation. Eine von der Art, die nicht autorisierte, verdeckte Operationen durchführt, bei denen das Justizministerium sämtliche Kenntnis abstreitet.«

Wieder ihr heiseres Lachen. Er liebte dieses Lachen!

»Richtig, und wenn du beschlossen hast, den Job nicht zu machen, dann hat sich die kleine Diktiergerät-Kassette aus dem Paket, das du in einer verlassenen Telefonzelle abgeholt hast, selbst zerstört. Für mich siehst du eher wie ein professioneller Billardspieler aus. Wie Paul Newman in diesem einen Film. Der in Kleinstädten im Mittleren Westen mit ein paar kleinen Betrügereien Geld verdient, sich prügelt, in Zügen schwarz mitfährt und Frauen die Herzen bricht.«

»Das kommt ungefähr hin. Hier, bitte sehr.«

Er stellte die letzten beiden Drinks auf ein Tablett und gab es ihr.

»Mit Karte?«

»Ja, bitte.«

Er nahm ihre Kreditkarte, steckte sie in einen von mehreren Kreditkartenlesern, die neben der Kasse standen. Sie nahm das Tablett von der Theke und ging damit bedächtig zwischen den Tischen hindurch auf eine Sitznische an einem der Fenster zu. Sie hatte vier Kolleginnen dabei, alles junge Frauen, die auf sie warteten. McCall hatte sie alle schon mal gesehen. Er nannte sie die »Karen-Mafia«. Sie wirkten feurig und lebhaft. Er beneidete sie.

Und wieder einmal vermisste er etwas, das er vor neun Monaten noch nicht vermisst hätte.

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