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Kapitel 11
ОглавлениеDer Schlag ließ McCall zu Boden gehen. Eine Welle der Übelkeit schwappte durch seinen Körper. Er hatte keinen Mucks aus seinem Apartment gehört. In Gedanken war er noch im Dolls-Nachtklub und sah Katia, verängstigt und nervös in ihrem offenherzigen schwarzen Kleid, die sich fragte, welcher der Gäste mit den Hundertdollar-Tanzkarten wohl derjenige wäre, der ihr ins Ohr flüsterte, dass ihm mehr versprochen worden war als nur ein kleiner Dreher über die Tanzfläche. Dass für sie noch viel mehr Geld dabei herausspringen würde. Dass sie Spaß haben würde. Er war ja ein echt netter Typ und machte so was eigentlich nicht, aber sie war so wunderschön und …
Der Schmerz raubte ihm fast den Atem. Blut floss heiß sein Gesicht hinab und er schloss das linke Auge. Er verfluchte sich selbst. Wann hatte er sich je so überraschen lassen? Er wartete auf den zweiten Schlag, der seinen Schädel wie eine Eierschale zerschmettern würde, doch der kam nicht. Als er versuchte, sich von den Knien zu erheben, trat ihn ein Stiefel heftig mitten ins Kreuz. Er schaffte es, auf den Knien zu bleiben. Wenn er auf dem Bauch gelandet wäre, hätte es das Ende sein können, das wusste er.
»Lass ihn aufstehen«, sagte eine Stimme.
Sie war dünn und heiser und schien aus einiger Entfernung zu kommen. Und sie klang amüsiert. McCall blinzelte das Blut aus seinem linken Auge und sah hoch. Der Raum war verschwommen, völlig unscharf. Zwei Männer standen vor ihm. Einer direkt geradeaus, der andere ein Stück weiter rechts. Langsam drückte er sich mit den Händen hoch und kam wieder auf die Beine. Seine Sicht wurde allmählich besser. Er atmete in kurzen, heftigen Stößen, versuchte, den Atem zu beruhigen. Verlangsamte den Herzschlag. Sein Puls lag sicher um die 180 bei dem Adrenalin, das ihm durch die Adern floss. Er musste ihn auf 140 bringen, das würde reichen. Er schwankte ein wenig, blieb aber auf den Beinen. Das war Theater für die beiden. Er wollte, dass sie ihn für stärker desorientiert hielten, als er war.
Big Gertie war einen Schritt zurückgetreten. Seine massige Gestalt war zwischen McCall und der offenstehenden Vordertür, die er mit dem Fuß zukickte. Die Tiffanylampe auf dem Bücherregal war das einzige Licht im Raum. Ein zweiter Schwarzer stand direkt vor dem Durchgang in die winzige Küche auf McCalls rechter Seite. Er war klein und hatte Frettchenaugen, verlagerte nervös das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und sein Blick schweifte hastig über das Wohnzimmer, als erwarte er, dass McCalls Kavallerie irgendwo aus dem Schatten gesprungen käme. Er sah aus, als bräuchte er in den nächsten paar Sekunden einen Schuss oder er würde kotzen. McCall konnte es nachempfinden. Der Mann hielt ein Stück einer schweren Eisenkette in den zitternden Händen.
J. T. stand bei dem Bücherregal auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnzimmers, die Armbänder an beiden Handgelenken glitzerten im sanften Licht. Er hatte einen Colt Python, .357 Magnum, in der rechten Hand, mit dem er direkt auf McCall zielte. Er hielt ihn komisch und sein nicht gebrochener Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Dann steckte der Zuhälter fast beiläufig die Waffe in den Hosenbund seiner Jeans.
»Das brauche ich erst mal nicht. Ich schau mal zu, wie mein Bruder dich ein bisschen mit dem Baseballschläger bearbeitet. Leider hast du ja meine Hände aus dem Verkehr gezogen.«
McCall hörte nicht zu. Er sah auf die Ledercouch in der Mitte des Raumes, wo Lucy in the Sky with Diamonds lag. Sie war nackt, die Arme mit Gaffertape hinter dem Rücken gefesselt und die Fußgelenke ebenfalls fest verklebt. Ein Streifen graues Klebeband war über ihren Mund geklebt. Die Augen vor Schreck aufgerissen. Im Gesicht hatte sie blaue Flecke. Die Rippen waren an den Stellen verfärbt, wo sie sie geschlagen hatten. McCall bemerkte zornig aufgebrachte rote Zigarettenspuren auf ihren Brüsten. Die Zigaretten hatte man wohl erst vor Kurzem auf ihre weiße Haut gedrückt. Vermutlich innerhalb der letzten paar Minuten, während sie auf ihn gewartet hatten. Als wolle er den Punkt unterstreichen, zündete sich J. T. mit der verletzten Hand vorsichtig eine Zigarette an und ließ das Streichholz in die Glasschüssel auf dem Couchtisch mit den M&Ms darin fallen. Es waren noch mehr Brandwunden auf den Beinen des Mädchens, die parallel zu den Einstichstellen verliefen. Oberhalb des dunklen Büschels Schamhaare lagen mehrere Brandstellen direkt nebeneinander. Ihre Augen waren rot unterlaufen und ihr Gesicht tränenüberströmt. Sie zitterte heftig. Sie starrte McCall hoffnungslos an, aber ihre Augen flehten immer noch.
Tu etwas. Bitte.
Big Gertie trat hinter McCall und tastete ihn ab. Er hatte anscheinend Erfahrung darin. J. T. sah sich im Wohnzimmer um. Seine Augen fielen auf die große Mark-Newman-Bronzeskulptur.
»Schönes Stück. Was ist das? Eine nackte Schlampe, die ihren großen Fisch spazieren führt?«
»Es ist ein Aal«, McCall rang um Atem.
»Und sich das anzusehen, lässt deinen Schwanz hart werden? Du bist ein verrücktes Arschloch.«
Big Gertie trat einen Schritt zurück.
»Sauber«, sagte er.
Er hörte sich zufrieden an.
»Natürlich ist er das«, sagte J. T. »Das is’ ein gesetzestreuer Bürger, der nicht weiß, wann man lieber einfach weitergehen sollte.« Er sah McCall an. »Schau, die Sache ist die, wenn man den Helden spielt – man muss sich aussuchen, mit wem man sich anlegt. Diese Nutte hier ist nicht mal so viel wert wie deine Rotze. Das ist eine dumme Fotze, die heute Abend vor ihren Schöpfer treten wird. Und was dich angeht, Mr. Barkeeper, Bobby-Schätzchen …«
Er zog die Waffe aus dem Hosenbund und richtete sie wieder auf McCall.
»Ich könnte dich erschießen. Aber das wäre zu schnell, zu gnädig. Wir zeigen dir eine Welt des Schmerzes, Bruder. Wie du es dir nicht einmal vorstellen kannst. Dann, wenn du auf den Knien bist und uns darum bittest, dass wir dich erledigen, geht die Show erst los. Dann ficken wir diese Nutte ordentlich durch. Ich sie in den Arsch, Big Gertie hier steckt ihr seinen Riesenschwanz in den Mund. Sydney da drüben, der ist ein wenig schüchtern, der schaut lieber nur zu. Dann machen wir uns vielleicht einen kleinen Spaß mit dem Stiel von dem Mopp, den du da in der Küche stehen hast. Vielleicht schmieren wir ihn ein bisschen mit Butter ein.«
»Verschwindet hier auf der Stelle«, sagte McCall leise. »Dann lasse ich es auf sich beruhen.«
J. T. starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, als wolle er, dass niemand außer McCall ihn hörte. »Wir gehen nirgendwohin, Arschloch. Ich lass dich zusehen, wenn ich der Schlampe die Kehle durchschneide.«
Er steckte die 357er-Magnum wieder in den Gürtel, drückte die Zigarette in einem großen Aschenbecher auf dem Bücherregal aus, griff hinter sich und nahm ein kleines, scharfes Obstmesser in die Hand. Er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger. Er hatte es aus McCalls Küche. McCall erkannte den Perlmuttgriff. Es war Teil eines fünfteiligen Sets. Er dachte an die Küche. An Sydney wäre er ohne Probleme vorbeigekommen, aber dann hätte er den Rücken zum Zimmer und J. T. würde sich seine große Wumme schnappen, bevor er auch nur zwei Schritte auf die Mikrowelle zumachen konnte. Er dachte an die Sig Sauer 227, die unter den Nachttisch neben seinem Bett in einem Clip war. Die Schlafzimmertür stand offen, aber das Zimmer war zu weit weg. Das würde er nie schaffen. Er fragte sich, ob die drei Gangster sein kleines Arsenal schon gefunden hatten, aber er glaubte es nicht. Sowohl der Smith & Wesson 500 aus der Mikrowelle als auch die Sig Sauer 227 würden offen herumliegen. Sie hatten nicht daran gedacht, in dem Apartment nach Waffen zu suchen. Was sollte ein Barkeeper auch schon mit versteckten Waffen anfangen?
»Zeit, dass wir ein wenig unser kleines Mädchen hier bearbeiten«, meinte J. T.
Er sagte es mit einem Lächeln.
McCall wurde ganz ruhig. Seine Welt konzentrierte sich nur noch auf die paar Punkte, die er brauchte. Als er sich bewegte, war es so flüssig, so abgewogen, dass es aussah, als würde er sich gar nicht bewegen. Im einen Moment stand er noch hilflos vor den drei Gangstern.
Und dann auf einmal nicht mehr.
McCall hob die Glasschüssel mit M&Ms auf und warf sie J. T. in die Augen, was ihn überraschte. Er zerschmetterte die Schüssel auf dem Couchtisch und rammte einen langen, schartigen Splitter in J. T.s Kehle, bevor der auch nur zucken konnte. Blut sprudelte aus der Halsschlagader.
McCall schnappte sich das Frisbee vom Lehnstuhl, warf es mit tödlicher Präzision nach Sydney und erwischte ihn an der Kehle. Der kleine Mann würgte, ließ das Stück Kette fallen und fiel auf die Knie.
McCall nahm Sherlock Holmes Band 1 aus dem untersten Regalbrett, als er merkte, dass Big Gertie auf ihn losstürzte. Er schnappte das verzierte Lesezeichen in Dolchform, das eine Seite in Der Hund von Baskerville markierte, und stach es Big Gertie ins linke Auge. Der stürzte auf die Knie und ließ den Baseballschläger fallen. McCall erwischte den Schläger, bevor er auf den Boden knallte, und hämmerte ihn Big Gertie über den Schädel, wobei er einen Teil des Hirns mit aus dem Schädel beförderte.
Dann sprang McCall über die Couch, nahm die Kopfhörer, die neben dem Laptop auf dem Couchtisch lagen, und wickelte das Kabel um Sydneys dürren Hals. Er rammte ihm ein Knie in den Rücken und zwang ihn nach unten. Dann zerrte er seinen Hals nach hinten, bis Sydneys heftiges Zappeln aufhörte. McCall ließ ihn los. Er ging zu Boden und bewegte sich nicht.
McCall holte tief Luft und atmete langsam aus.
Er blieb einen weiteren langen Moment still stehen.
Die Kopfhörer ließ er wieder auf den Couchtisch fallen, neben den Stapel DVDs. Er hob das Frisbee auf und warf es zurück auf seinen Platz auf dem Lesesessel. Dann zog er das Dolchlesezeichen aus Big Gerties Auge. Die zerschmetterte Schüssel und die M&Ms ließ er liegen. In der Küche waren noch andere Schüsseln und die M&Ms schmeckten schon ein wenig alt.
Dann sah er die panische junge Frau auf der Couch an. Sie bewegte sich nicht. Sie atmete kaum. Starrte ihn nur an, als könne sie kaum glauben, was sie eben gesehen hatte. Oder eher vage mitbekommen hatte.
Er nahm das Obstmesser vom Boden, setzte sich auf die Couch und zog das Gaffertape behutsam vom Mund des Mädchens. Sie schnappte nach Luft. Er hob das Obstmesser und sie wich zurück. Immer noch sehr vorsichtig schnitt er das Gaffertape um ihre Knöchel ab, dann von den Handgelenken hinter ihrem Rücken, sorgfältig darauf bedacht, nicht ihre Haut zu ritzen. Sie rieb die Handgelenke, zitterte nun, aber schlackerte nicht.
»Sind sie tot?«
»Ja.«
»Du hast gar nicht ihren Puls gefühlt.«
»Sie sind tot. Wo sind deine Klamotten?«
»Big Gertie hat mich ausgezogen und sie da mit reingenommen.«
Sie zeigte auf das Schlafzimmer. McCall stand auf, ging ins Schlafzimmer und sah ihre Kleidung, die aus einem Höschen, Jeans, einem Boston-Red-Sox-T-Shirt und Sandalen bestand und auf sein Bett geworfen war. Zuerst ging er ins Bad und inspizierte die Seite seines Kopfes. Big Gertie hatte kaum gezielt. Er hatte einfach einen heftigen Schwinger vollführt. Der war seitlich von McCalls Schädel abgerutscht. Wenn der Zuhälter ein wenig genauer auf die Mitte seines Kopfes gezielt hätte, dann wäre McCall jetzt hirntot.
Er machte einen Waschlappen nass und wischte das getrocknete Blut ab, besonders um sein linkes Auge. Die Platzwunde war tief. Er öffnete das Medizinschränkchen, nahm Jod heraus, schüttete es auf einen Wattebausch, den er einem Glas entnahm, und presste ihn auf die Wunde. Es brannte wie die Hölle. Dann ging er zurück ins Schlafzimmer.
Er nahm den Wattebausch von der Wunde und sah in den Spiegel. Das Blut gerann bereits. Es sah hässlich aus, aber es hatte ihn schon schlimmer erwischt. Er warf den Wattebausch in einen Abfalleimer, nahm Margarets Anziehsachen vom Bett und ging zurück ins Wohnzimmer.
Margaret saß mittlerweile aufrecht, die nackten Füße auf dem Boden. Sie starrte hinab auf J. T., dessen Blut immer noch aus der durchtrennten Halsschlagader lief.
»Er hat mich immer wie Scheiße behandelt.«
»Jetzt nicht mehr.«
McCall ließ ihre Sachen auf die Couch fallen und die Sandalen davor. Sie zog ihr Höschen an und das Boston-Red-Sox-T-Shirt über den Kopf. Sie schlüpfte in die Jeans und stand auf, machte den Reißverschluss zu. Die Füße steckte sie in die Sandalen und sah ihn an.
»Der fette Wichser hat dich ganz schön erwischt. Die Platzwunde sieht schlimm aus.«
»Es geht schon.«
Er nahm ihren Arm.
»Die wissen, wo ich wohne«, sagte sie ängstlich.
»Die wissen gar nichts mehr. Zumindest nicht über dieses Leben.«
»J. T. hat noch andere Freunde.«
»Was hast du zu Hause, ohne das du nicht leben kannst?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Nicht viel.«
»Gut. Du gehst nicht nach Hause.«
»Ich weiß nicht, ob ich so gut laufen kann. Die haben mich zusammengeschlagen. Ich kann schwer atmen.«
»Ich stütze dich.«
»Müssen wir jetzt gleich gehen? Vielleicht können wir ein paar Minuten warten? Nicht hier drin – mit denen. Vielleicht in deiner Küche?«
»Ich weiß nicht, ob die irgendein Back-up hatten. Ich weiß nicht, ob J. T. – so heißt er doch?« Sie nickte. »Ob er jemanden anrufen wollte, wenn es vorbei ist. Um unsere Leichen zu entsorgen. Das hätten die nicht selbst gemacht.«
»Was wirst du mit deren Leichen machen?«
»Ich räume später auf. Du musst mir vertrauen, Margaret. Ich werde dich wohin bringen, wo du sicher bist. Wo dich niemand aus J. T.s Welt finden kann. Okay?«
Sie nickte. Plötzlich streckte sie die Hand aus und berührte sein Gesicht. Er stöhnte.
»Du bist verletzt.«
»Lass uns gehen.«
»So wie du dich bewegt hast. Was du mit denen gemacht hast. Das war der Hammer.«
»Es war notwendig.«
»Wer zur Hölle bist du?«
Er antwortete nicht.
»Ich will bei dir bleiben«, flüsterte sie.
»Du hast doch eine Familie irgendwo, die dich vermisst.«
»Denen bin ich scheißegal.«
»Da könntest du falschliegen. Es ist kalt draußen. Ich hol dir eine Jacke.«
Sie nickte und er verschwand im Schlafzimmer. Sie sah nicht auf die drei Leichen um sie herum. Stattdessen ballte sie nur die Hände zu Fäusten und schloss die Augen.
Natalya saß an einem leeren Schachtisch in einer Ecke des Washington Square Park. Während des Tages und am frühen Abend waren sie immer voller lebhafter Männer und Frauen, die spielten, als würde die ganze Welt ihnen zuschauen. Aber so spät nicht mehr. Es waren keine Schachfiguren auf irgendeinem der Tische. Sie fragte sich, wo die in der Nacht hinkamen? Irgendwo verstaut, um am nächsten Tag für Freunde und Fremde wieder ausgepackt zu werden, zu einem erneuten Wettstreit. Sie mochte die Idee von Schach, immer einige Züge vor dem Gegner zu sein. Sie konnte spielen, sogar gut, aber keiner wusste es. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, ihren IQ zu messen. Sie war recht sicher, dass er ziemlich hoch war, aber das änderte auch nichts. Nur ein weiteres Geheimnis, das in ihrer abgeschiedenen Welt verschlossen war.
Sie sah in Richtung des Washington Arch, der sich als Silhouette vor dem Nachthimmel erhob. Irgendwie fand sie das immer beruhigend. Ihr Tor zu einem neuen Leben. Da waren zwei Statuen von George Washington in Alkoven, eine als Soldat, die andere als Amerikas erster Präsident. Sie dachte an einen britischen Magier und Komödianten, den sie einmal mit ihrer Mutter in einem Nachtklub in Moskau gesehen hatte. Sie erinnerte sich an seinen Namen: Nick Lewin. Er war sehr lustig gewesen. Über George Washington hatte er gesagt: »Ein englischer Soldat, ging AWOL, aber hat was aus sich gemacht.« Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass AWOL »Absent Without Leave« heißt, und dann hatte sie geduldig erklärt, was Absent Without Leave bedeutete, als wäre sie ein achtjähriges Kind. Aber das war schon okay. Es war eben die sanfte Art ihrer Mutter. Natalya erinnerte sich, dass der Magier einen Ring von ihr genommen hatte, den ihre Mutter ihr gegeben hatte, mit einem Drachenwappen darauf. Und er hatte ihren Ring mit einem seiner eigenen verbunden. Unglaublich!
Sie sah hinüber auf die Statue von Garibaldi auf dem Platz. Sie wusste nicht, wer das war; irgendein italienischer Soldat. Der große Springbrunnen war ausgeschaltet. Es war niemand auf dem Platz, nur ein paar Passanten eilten vorbei. So spät am Abend kam er ihr völlig anders vor. Wie eine mondbeschienene Oase inmitten des Grand Canyon. Sie liebte ihn während des Tages. Oft ging sie von der Schule zum Washington Square Park und suchte sich einen schönen Platz auf einer der Banken. Der Springbrunnen spritzte Wasser hoch in den Himmel und Regenbogen tanzten durch den Wassernebel. Wenn die Touristen den Platz bevölkerten, dann hatte er eine Art Karnevalsatmosphäre. Sie dachte an einen Nachmittag, etwa einen Monat, nachdem sie und ihre Mutter in New York angekommen waren – vor der schlimmen Sache, die ihr passiert war –, als sie einen Straßenkünstler gesehen hatten. Er war auf einem Einrad gefahren und hatte es geschickt durch die Menge gesteuert. An der Bank direkt vor ihr hatte er angehalten und ihr zu verstehen gegeben, sie solle »aufspringen«. Sie hatte den Kopf geschüttelt, aber er hatte ihre Hand genommen, war sehr nett gewesen und hatte ihr versichert, dass er sie nicht runterfallen lassen würde. Sie war auf seine Schultern geklettert und er hatte sie mit den Händen festgehalten und war mit ihr auf dem Einrad über den ganzen Platz gefahren, sehr zur Freude der Touristen und der New Yorker, die applaudierten. Dann war er mit ihr wieder zu der Bank gerollt, und als sie runtergeklettert war, hatte sie gelacht, daran erinnerte sie sich.
Das tat sie nicht mehr.
Sie sollte nicht so spät auf dem Platz sitzen, aber sie hatte sich in dem winzigen Apartment ruhelos gefühlt. Ihre Mutter kam normalerweise nicht vor drei Uhr heim und sie hatte ihr gesagt, dass es heute Nacht eher vier werden würde. Etwas hatte sich im Klub für sie geändert. Natalya wusste nicht, was es war. Ihre Mutter war verstört deswegen, aber ihrer Tochter sagte sie ja sowieso nichts. Sie wollte sie schützen, das verstand Natalya, aber sie hatte sie nicht beschützt, oder? Wie auch immer, sie wollte gar nicht beschützt werden. Sie wollte in die Gedanken, Ängste und Träume ihrer Mutter miteinbezogen werden. Aber das wurde sie nicht. Sie war eingeschlossen in ihrer eigenen Welt.
Er näherte sich ihr von hinten, von den Schachtischen. Er war immer leise, wenn er sich bewegte, aber sie war in ihrer eigenen Welt. Sie bemerkte nicht einmal seine Anwesenheit. Er ließ den Blick über den Platz schweifen. Um diese Uhrzeit war er komplett verlassen.
Er nahm den Ziploc-Beutel aus der Jackentasche, öffnete ihn und holte das feuchte Tuch heraus. Es roch stechend, und das führte dazu, dass sie ruckartig den Kopf drehte, aber es war zu spät. Mit der linken Hand packte er sie im Genick und hielt ihr das chloroformierte Tuch über Nase und Mund. Sie wehrte sich etwa vier Sekunden lang heftig und sackte dann bewusstlos auf den Schachtisch. Rachid erschien neben ihm. Er hob das betäubte Mädchen auf und wuchtete sie über die Schulter. Er rannte von Platz und trug sie an die Stelle, wo Salam an der West 4th Street mit laufendem Motor im Lexus auf ihn wartete.
Bakar Daudov sog die Nachtluft tief ein. Zu blöd, dass Katia ihn dazu gezwungen hatte, so extreme Maßnahmen zu ergreifen. Aber es sollte effektiv sein.
Wenn nicht, dann tötete er ihre Tochter.