Читать книгу EQUALIZER - Michael Sloan - Страница 13

Kapitel 9

Оглавление

Carlson holte sie knapp vor dem Earl-of-Sandwich-Imbiss ein. Vier Wolkenkratzer standen hier dicht beieinander. Büroangestellte strömten aus den Eingängen. Die Marmorsäulen und gepflasterten Gehwege waren in Sonnenlicht getaucht. Der Wolkenbruch der letzten Nacht war vergessen. Es war vermutlich unter 20 Grad warm, aber die Männer hatten ihre Mäntel neben sich zusammengefaltet und die meisten Frauen zeigten nackte Arme und Dekolleté. Die Büroangestellten saßen an weißen, schmiedeeisernen Tischen oder auf Bänken und niedrigen Mauern, die Quadrate leuchtend grünen Grases einrahmten. Sie trug eine grüne Bluse, einen dunkelgrünen Minirock, schicke Schuhe und eine teuer aussehende Tweedjacke. Eine Monogram-Raspail-PM-Handtasche von Louis Vuitton hing über ihrer Schulter. So kostspielig, dass Karen sie sich sicher nicht leisten konnte. Carlson vermutete, es war eine Fälschung, die sie in Chinatown gekauft hatte. Im Earl of Sandwich hatte sie getoastetes Vollkornbaguette mit drei Sorten geschmolzenem Käse, hausgeräuchertem Schinken und geriebenem Parmesan bestellt. Er hatte bereits sein Truthahn-Klubsandwich mit Avocado, Meerrettich und Salat auf »Wiener Toast«. Sie hielt einen Starbucks-Styroporbecher in der Hand und ging auf einen Mauervorsprung entlang eines Stückchen Rasens zu, auf dem noch niemand saß.

Er beeilte sich, sie einzuholen.

»Hey!«, rief er.

Karen Armstrong drehte sich um, ein wenig überrascht.

Was sie sah, war ein attraktiver Typ Ende 20, vermutlich 1,80 groß, kräftig gebaut, offensichtlich ein Sportler. Er hatte lange, ungekämmte braune Haare. Seine Augen waren braun und er lächelte freundlich. Er joggte auf sie zu.

»Ich wollte Sie nicht in der Menge verlieren! Sie haben das hier im Sandwichladen verloren.«

Er hielt ihre Brieftasche in einer Hand und balancierte sein eingewickeltes Truthahn-Klubsandwich und einen Plastikbecher mit Latte macchiato in der anderen. Reflexartig schaute sie in ihre Handtasche und sah, dass der Geldbeutel weg war.

»Oh mein Gott! Danke! Sie sind ein Lebensretter!«

Sie nahm ihm den Geldbeutel ab, blätterte durch die Kreditkarten in ihren Hüllen, alle waren da, und auch ein paar gefaltete Scheine waren noch an Ort und Stelle.

»Wenn ich Sie ausrauben wollte, dann würde ich Ihnen die Brieftasche nicht wiedergeben«, meinte er immer noch lächelnd.

»Nein, natürlich nicht! Das war nur Reflex.«

»Ist schon okay, Karen«, sagte er. »Ich hätte es auch überprüft.«

Sie wollte die Brieftasche wieder in die Handtasche stecken, doch dann schob sie sie stattdessen in die Manteltasche.

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Von Ihrem Führerschein. Der Geldbeutel ist offen auf den Boden gefallen. Ich hab es gesehen, als ich ihn aufgehoben habe.«

»Oh, wenn ich all die Karten hätte sperren lassen und fünf Stunden auf der Zulassungsstelle auf einen neuen Führerschein warten müssen, wäre ich durchgedreht! Tausend Dank.«

Er hielt ihr die Hand hin und balancierte immer noch sein Mittagessen in der anderen.

»Jeff Carlson.«

Sie schüttelten sich die Hände.

»Sie arbeiten in einem der Gebäude, richtig? Ich habe Sie schon mal in dem Sandwichladen gesehen. Man kann Sie kaum übersehen.«

Sie lächelte über das Kompliment. »Ja, ich arbeite im 221, genau da.« Sie zeigte auf den Glasturm hinter sich. »Nun, danke noch mal.«

Sie machte sich auf den Weg zu dem Sitzplatz auf der Mauer. Er lief neben ihr her.

»Wie ist es so als Anwaltsgehilfin?«

Das ließ sie stehen bleiben.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Das ist nicht so schwer zu erraten. Da sind größtenteils Anwälte in dem Gebäude. Ich nehme an, Sie sind noch keine Anwältin, Sie sind zu jung, aber Sie sind auch keine Sekretärin – tut mir leid, das heißt ja heute Assistentin, ich sollte politisch korrekter sein – also hab ich gedacht, Anwaltsgehilfin

»Das ist gut geraten.«

Sie wollte wieder zu ihrem Sitzplatz gehen, aber er blieb neben ihr.

»Haben Sie was dagegen, wenn ich mich Ihnen anschließe? Die Tische sehen recht voll aus.«

»Ich bin leider nicht in der Stimmung, mit einem Fremden zu reden, tut mir leid. Ich will nicht unhöflich klingen, nachdem Sie mich gerade überzeugt haben, weiter an die Ehrlichkeit und Integrität der New Yorker zu glauben …«

»Oh, ich bin kein New Yorker. Geboren und aufgewachsen in Milwaukee. Ich bin erst ein paar Monate in der Stadt. Ich arbeite auf einer Baustelle. Das hohe Wohnhaus, das sie drüben an der 14th und Lex Street bauen? Da hab ich vor Kurzem angeheuert. Hey! Da ist ein Tisch frei, da drüben, wo der dicke Kerl eben davonwatschelt. Der sollte vielleicht die Pizza sein lassen und den hausgeräucherten Schinken essen, so wie Sie. Vielleicht nicht viel gesünder, aber besser als Peperonipizza.«

Jetzt gingen die Alarmglocken in ihrem Kopf los.

»Sie wissen, was ich auf meinem Sandwich habe?«

»Ich habe gehört, wie Sie es bestellt haben. Normalerweise ist es jeden Tag das Gleiche, auch wenn Sie gestern die glasierte Hühnerbrust mit Feldsalat und kandierten Zwiebeln hatten. Wie war das?«

Karen war mittlerweile ziemlich genervt und drehte sich weg.

»Danke noch mal, Jeff.«

Sie ging schneller. Carlson hielt mühelos mit ihr Schritt, lächelte immer noch, als würden sie sich blendend verstehen.

»Kommen Sie schon, Karen, seien Sie mal ein bisschen locker. Ich hätte ja auch einfach mit Ihrer Brieftasche abhauen können.«

Vor sich sah Karen eine pummelige Frau Mitte 20, kastanienbraune Locken, in einem Businesskostüm, die sich an einem gerade frei gewordenen Tisch setzte. Sie änderte die Richtung.

»Hey, Megan!«, rief sie.

Die Rothaarige drehte sich um, lächelte und winkte sie her. Karen blieb stehen und wandte sich Carlson zu.

»Das ist eine Freundin von der Arbeit. Sie macht gerade schwere Zeiten durch. Ärger mit dem Freund. Ich weiß, dass sie mit mir darüber reden wollte. Danke noch mal, wegen der Brieftasche.«

»Klar.«

Karen ging auf den Tisch zu, an dem ihre Kollegin auf sie wartete.

»Lassen Sie sich von Peter Jamison nicht zu sehr ärgern!«, rief er. »Ich habe gehört, er ist ein grandioser Strafverteidiger, aber ein echtes Arschloch.«

Sie wurde nicht langsamer. Sie dachte: Er kennt den Namen meines Chefs! Er weiß, dass ich Anwaltsgehilfin bin. Er kannte meinen Namen, noch bevor er den Geldbeutel aufgehoben hat! Wenn er ihn überhaupt wirklich gefunden hat! In diesem Moment wusste sie, dass er ihn ihr geklaut hatte, um ihn ihr dann großmütig zurückzugeben.

Jetzt war sie ernstlich angepisst.

Er sah zu, wie sie sich zu ihrer Freundin Megan an den Tisch setzte. Sie fingen sofort an zu reden. Er fragte sich, ob die Roothaarige – die auch verdammt gut aussah, die Brüste nicht so groß wie die von Karen, aber einen Granatenarsch, das hatte er gesehen, bevor sie sich hingesetzt hatte – in seine Richtung gucken würde. Er hoffte es. Das bedeutete, dass er das Erste war, wovon Karen ihr erzählt hatte. Aber sie warf ihm keinen Blick zu. Vielleicht hatte Karen sie gewarnt, es zu tun.

Das war egal. Er konnte sie hier immer zur Mittagszeit finden. Er hatte ihr in die Augen gesehen und den Funken Interesse erkannt. Mehr als das. Lust. Sie versuchten alle, es zu verstecken; es war eine instinktive Reaktion, sie konnten nicht anders. Er wusste, dass Frauen ihm zuerst in die Augen sahen, dann auf den Schritt, um zu sehen, wie groß die Beule war. Das war immer so. Karen hatte ihn nicht enttäuscht.

Er setzte sich auf den Mauervorsprung, zu dem Karen eigentlich unterwegs gewesen war, nahm einen Schluck von seinem Latte macchiato durch das kleine Loch. Dann packte er sein Sandwich aus und biss hinein. An ihrem Tisch redete Megan ernsthaft auf Karen ein. Karen drehte sich einmal um und blickte über die Schulter. Sie sah Jeff Carlson auf der Mauer sitzen und sein Sandwich essen, als würde er sie nicht bemerken.

Jetzt tat es ihr leid, dass sie nicht ihren Mann gestanden und ihm in die Eier getreten hatte.

Zwischen 16 und 17 Uhr war im Bentleys nie viel los. Die Hilfskellner waren noch damit beschäftigt, zwei große Tische abzuräumen. Nur eine Sitznische vor den großen Fenstern war besetzt, von Karen Armstrong und ihren Freundinnen. McCall sah, dass es die üblichen Verdächtigen waren, inklusive einer jungen Frau, die er vorher noch nicht gesehen hatte, ein wenig pummelig, kastanienbraune Locken, die ein hübsches Gesicht einrahmten. Er trug das Tablett mit Drinks zu ihnen. Er bemerkte, dass Karen etwas aufgeregter war als normalerweise. Ihre Stimme hatte einen zornigen Unterton.

»… und als wir gegangen sind, konnte ich spüren, wie seine Blicke sich in meinen Rücken bohrten. Eigentlich wohl eher in meinen Arsch.«

»Er sah aus wie Ted Bundy«, sagte die Rothaarige. »Gut aussehend, locker, du weißt schon, ein echt netter Typ, wie einer dieser mormonischen Missionare, die an deine Tür klopfen, mit der Bibel in der einen und ihrem Schwanz in der anderen Hand.«

»Und dann hab ich mich daran erinnert, dass ich ihn schon mal gesehen hatte«, sagte Karen. »Nicht nur in dem Sandwichladen. Er war auch in der Lobby vom 221 am Montagabend. Er hatte sich die Zimmertafel angesehen, als würde er nach etwas suchen. Ich dachte mir noch, der Typ sieht ja ganz schnuckelig aus. Ich kann’s nicht glauben, dass ich das sage, aber das hab ich gedacht. Und dann, als ich letzten Abend von der U-Bahn nach Hause gegangen bin, hab ich mich irgendwie komisch gefühlt. Als würde mir jemand folgen. Ich hab mich umgedreht, doch da war niemand. Ich meine, ich hab ihn nicht gesehen, aber ich konnte das Gefühl nicht abschütteln. Wir haben ja unseren Mann an der Tür, Harry, aber der sieht aus, als hätte er schon vor dem Gebäude gestanden, als die Milchwagen noch mit Pferden den Broadway entlangfuhren. Ich glaube nicht, dass der jemanden beschützen kann.«

»Das ist der Schutz, den du brauchst«, sagte Megan und machte ihre Handtasche auf. Sie wühlte darin herum und zeigte eine Glock, Kaliber .22, Halbautomatik mit einem 4-Zoll-Lauf von Smith & Wesson.

Karen machte große Augen. »Wow. Hast du eine Erlaubnis dafür?«

»Oh, ja. Mein Dad ist Cop. Der hat mir die Papiere in 72 Stunden besorgt.«

McCall kam an die Sitznische, aber sie waren so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie nicht einmal aufblickten. Eine von Karens anderen Kolleginnen, McCall glaubte, dass sie Susan hieß, ein süßes, etwas schüchternes Mädchen mit hellblauen Augen hinter einer getönten Brille, machte ihre Handtasche auf.

»Ich hab immer Reizgas dabei«, sagte sie.

»Reizgas heißt aber, dass man richtig nahe an den Angreifer ran muss«, entgegnete eine andere Frau aus der Gruppe. McCall glaubte, ihr Name war Candice. Sie war groß und schlank und warf sich häufig die braunen Locken aus der Stirn. McCall fand, es war vermutlich einfacher, sie abzuschneiden. »Man muss es ihm direkt ins Gesicht sprühen.«

»Eine 22er-Automatik ist die Waffe der Wahl«, beharrte Megan.

»Nur, wenn man weiß, wie man sie benutzt«, sagte McCall.

Alle sahen hoch.

»Oh, hey Bobby, du hättest die Drinks nicht rüberbringen müssen. Ich wäre auch an die Bar gekommen«, sagte Karen.

»Kein Problem.«

Er stellte die verschiedenen Cocktails auf den Tisch.

»Ich weiß, wie man damit schießt«, sagte Megan ein wenig in die Defensive gedrängt. »Mein Dad ist Polizist. Er hat mich in Brooklyn oft mit auf den Schießstand genommen.«

»Vielleicht sollte ich mir auch eine Pistole besorgen«, meinte Karen.

McCall stellte einen Sex on the Beach vor Megan. »Wenn du die Glock special da ziehen musst, wo zielst du dann hin und wie viele Schüsse feuerst du ab? Drei oder vier Treffer in den Brustkorb? Oder zielst du auf die Augenhöhle? Bist du beidhändig? Hast du gelernt, mit der dominanten Hand zu schießen?«

»Äh, sicher, ich bin Rechtshänderin.«

»Lässt du immer beide Augen offen? Oder schließt du dein nicht-dominantes Auge, drehst den Kopf leicht und benutzt das dominante Auge?«

Megan war eindeutig ratlos. »Ich würde beide Augen offenlassen, und wenn ich angegriffen werde, dann ziele ich auf den Kopf des Arschlochs.«

»Es wäre besser, auf die Brust zu zielen. Ist ein größeres Ziel.«

»Du scheinst ja eine Menge darüber zu wissen«, sagte Karen. »Trägst du eine Waffe, Bobby?«

»Eine tragen? Nein. Ich hab ein paar davon abgefeuert über die Jahre. Wenn du eine Waffe zum Eigenschutz kaufen willst, dann musst du wissen, wie man sie benutzt. Ich könnte es dir beibringen.«

»Ich komm schon klar. Danke trotzdem.«

Karen sah ihre Freundinnen an und hätte fast die Augen gerollt.

Als ob er ihr helfen konnte.

»Wenn du dir Sorgen wegen eines Stalkers machst, dann geh zur Polizei«, sagte McCall.

»Und was soll ich denen sagen?«, schnaubte Karen verächtlich. »Dass ein gut aussehender Typ mich bemerkt hat? Besonders, wenn ich kurze Röcke trage und den obersten Knopf der Bluse offen lasse? Dass ich ihn an einem Abend in der Lobby meines Wohnhauses gesehen habe? Dass er mir meine Brieftasche zurückgegeben hat, nachdem ich sie in der Mittagspause habe fallen lassen? Dass er mich auf einen Kaffee eingeladen hat? Oh, sicher, da bekomme ich bestimmt rund um die Uhr Polizeischutz. Er hat nichts getan, um mich zu bedrohen. Es ist nur seine Art, der Tonfall seiner Stimme. Er ist ein Widerling. Ich werde mich drum kümmern.«

McCall wusste, wenn jemand ihm eine Abfuhr erteilte.

»Sei einfach vorsichtig«, sagte er.

Seine Aufmerksamkeit war abgelenkt.

Er hatte sie ins Bentleys kommen sehen und wie sie sich in die erste Nische hinter dem Empfangspult gesetzt hatte. Sie sah nicht ins Restaurant oder durchs Fenster auf die Straße. Sie blickte einfach geradeaus. Er hatte nur zweimal mit ihr gesprochen, als sie mit ihrer Mutter da gewesen war, und sie hatte ihm nicht geantwortet. Er dachte, sie war vielleicht autistisch oder litt am Asperger-Syndrom. Sie trug Jeans, ein dunkelrotes Hemd und eine graue Windjacke. Die pechschwarzen Haare fielen offen über die Schultern, was ihr ein etwas wildes, zigeunerhaftes Aussehen verlieh. Ihre Augen waren glänzend schwarz. Die Sorte, in denen Liebhaber in Liebesromanen gerne versinken wollten. Die zierlichen Hände hielt sie eng zusammengepresst auf dem Tisch. Er vermutete, dass sie vielleicht 17 war. Sie hatte eine gewisse Zerbrechlichkeit, die attraktiv und verstörend zugleich wirkte. Aber sie strahlte auch Ruhe aus. Als lebte sie in ihrer eigenen Welt. McCall war sich nicht sicher, dass sie da so glücklich war. Und im Moment waren ihre wunderschönen Augen feucht und Tränen schimmerten darin. Er merkte, dass ihre Hände leicht zitterten.

Als er wieder an der Bar war, stellte er das Tablett ab. Andrew Ladd, der zweite Barkeeper, ein junger, aufstrebender Stückeschreiber, nahm gerade die sauberen Gläser aus der Spülmaschine, trocknete sie ab und hängte sie in die Halterungen über der Bar.

»Kannst du mal kurz die Bestellungen machen, Kumpel?«, fragte McCall.

Er lächelte. »Sicher. Ich glaube nicht, dass ich hier in dem Ansturm totgetrampelt werde.«

McCall ging zur ersten Nische und setzte sich dem Teenagermädchen gegenüber. Sie sah ihn an. Blickte direkt durch ihn durch. Es kam ihm so vor, als konnte sie den echten Mann unter der Oberfläche sehen – gefährlich, ruhelos, isoliert – nicht Bobby Maclain.

»Wie geht’s dir, Natalya?«, fragte er mit ruhiger Stimme.

Sie nickte nur. Es war keine Antwort auf seine Frage, aber zumindest hörten ihre Hände zu zittern auf.

»Weiß deine Mutter, wo du bist?«

Sie nickte.

»Triffst du dich hier mit ihr?«

Ein Achselzucken.

»Willst du was zu trinken? Wie wäre es mit einer Cola light?«

Sie nickte.

Er wollte gerade aus der Sitznische rutschen, als sie die Arme ausstreckte und seine Hände packte. Fest. Ihr Blick war flehend.

»Was ist los? Stimmt was nicht?«

Sie starrte ihn nur an.

»Ein Problem mit deiner Mutter?«

Sie nickte.

»Zwischen euch beiden?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Jemand, den deine Mom kennt? Ihr Freund?«

Sie schüttelte heftig den Kopf, sagte McCall damit, dass es keinen Freund gab.

»Jemand, mit dem sie arbeitet?«

Sie nickte. Dann starrte sie ihn weiter an. Als wollte sie, dass er ihre Gedanken las. Er wusste nicht, ob sie nicht reden konnte oder nicht wollte. Mit dem Hören hatte sie anscheinend keine Probleme. Sie war nicht taubstumm, obwohl er sie nie ein einziges Wort hatte sagen hören, wenn sie und ihre Mutter ins Bentleys zum Mittag- oder Abendessen kamen.

»Ich hol dir deine Cola.«

Sie ließ seine Hände los. Er rutschte aus der Sitznische. Mit ihrer Mutter hatte er nicht viel geredet. Höchstens um ihre Getränkebestellung aufzunehmen, ihnen zu sagen, dass gleich ein Kellner kam, bei dem sie Essen bestellen konnten, oder sie zu fragen, wie ihnen New York City gefiel. Er wusste, dass sie aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion kamen. Er hatte Katia auf Russisch am Handy reden hören. Der Gedanke ließ ihn auf halbem Weg zur Bar innehalten. Nicht Russisch. Tschetschenisch. McCall konnte fließend Russisch und verstand ein paar Brocken Tschetschenisch.

Er glaubte nicht an Zufälle. Seit fast einem Jahr lebte und arbeitete er in diesem Viertel in New York. Auch wenn er eine Menge Leute kennengelernt hatte, kannte er niemanden davon besonders gut. Eigentlich lernte er nie jemanden wirklich gut kennen. Die Leute aus der Nachbarschaft waren kaum mehr als Bekannte, aber sie kamen ihm doch wie eine erweiterte Familie vor. Katia hatte eine lebhafte Persönlichkeit, die einfach ansteckend war. Man konnte nicht anders als zu lächeln. Aber da war auch eine gewisse Traurigkeit, die sie manchmal wie ein Mantel umgab. Er hatte immer das Gefühl gehabt, es habe mit ihrer Tochter zu tun. Aber vor Kurzem war ihm der tschetschenische Einfluss hier in der Nachbarschaft aufgefallen.

Hatte diese Finsternis auch Katia und ihre Tochter beeinflusst?

McCall duckte sich unter der Klappe der Bar durch. Laddie gab ihm ein sauberes Glas. McCall nahm den Getränkeschlauch mit dem Pistolengriff und drückte den Knopf für Cola light. Er ließ den Blick durch das Restaurant schweifen, während es ins Glas sprudelte. Karen und ihre Freunde hatten in ihrer Nische die Köpfe zusammengesteckt, sie planten vermutlich das Ableben des Stalkers. McCall sah in Richtung des Empfangspultes und der ersten Sitznische. Natalya schrieb etwas auf die Rückseite der Cocktailkarte, die geformt war wie ein englischer Bentley. Durchs Fenster sah McCall Katia die Straße entlang auf das Restaurant zugehen.

McCall duckte sich wieder unter der Barklappe durch und trug die Cola light zu Natalyas Nische. Er kam in dem Moment am Tisch an, als Katia durch die Eingangstür trat. Die Empfangsdame des Bentleys, eine schlanke, junge asiatische Frau namens Sherry, die aussah wie eine kleine Puppe, die zum Leben erwacht war, hatte gerade ihren Dienst angetreten. Sie lächelte Katia an, in der sie eine Stammkundin erkannte, und nahm eine Speisekarte in die Hand. Katia schüttelte den Kopf und ging an der Empfangsstation vorbei. McCall stellte das Glas Cola vor Natalya.

Katia erreichte die Nische. Sie wirkte sehr angespannt.

»Hallo, Bobby. Wie lange ist sie schon da?«

»Nur ein paar Minuten. Wolltest du sie nicht hier treffen?«

»Nein. Ich war spazieren. Als ich zur Wohnung zurückkam, war sie weg. Aber es gibt nur ein paar Orte, zu denen sie geht. Die Bibliothek. Washington Square Park.« Sie langte über den Tisch und berührte den Arm ihrer Tochter. »Natalya, wir müssen nach Hause, bevor ich zur Arbeit gehe.«

Natalya schüttelte den Kopf. Katia seufzte, rutschte in die Nische und setzte sich neben sie. Der Teenager rutschte auf die andere Seite. Katia redete leise mit ihrer Tochter. McCall hatte sie den Rücken zugewandt. Er konnte die leisen, drängenden Worte nicht verstehen, aber der Tonfall war selbsterklärend. Sie sollte tun, was man ihr sagte. Natalya war verängstigt. McCall stand einen langen Moment herum, er wollte nicht gehen.

»Kann ich irgendwas tun?«

Katia drehte sich um und sah zu ihm hoch, nicht unbedingt verächtlich, aber der Blick sagte alles. Du bist ein Barkeeper in Bentleys Bar & Restaurant, wie kannst du mir schon helfen? Ein Lichtblitz erregte McCalls Aufmerksamkeit. Er blickte auf ihre Hände. Sie drehte ein kleines silbernes Rechteck in der Hand. Ein Streichholzbriefchen. Er konnte den Namen Dolls in geprägter silberner Schrift darauf erkennen.

»Danke«, sagte sie. »Aber du kannst nichts tun.« Dann, eher zu sich selbst: »Niemand kann irgendwas tun.«

Durch das Fenster sah man einen schwarzen Lexus, der vor dem Bentleys am Straßenrand hielt. Ein junger, dunkelhaariger Mann in einem dreiteiligen Anzug mit einer protzigen, goldenen Uhrkette daran stieg aus der Fahrerseite. McCall hatte ihn schon mal gesehen. Einer der jungen tschetschenischen Schlägertypen, die gemütlich im Luigi’s beim Essen gesessen und am nächsten Morgen den alten Moses im Antiquitätengeschäft aufgescheucht hatten. Katia wandte sich wieder ihrer Tochter zu und packte sie fester am Arm. Sie redete leise mit ihr auf Tschetschenisch. Die Tränen, die Natalya schon vorher in den schönen Augen gestanden waren, flossen jetzt ihre Wangen hinab. Sie nickte. Mutter und Tochter rutschten aus der Sitznische. Katia wühlte in ihrer Jackentasche und holte ein paar Dollarscheine heraus.

»Die Cola geht aufs Haus«, sagte McCall.

»Danke.«

Sie gingen in Richtung der Vordertür. McCall griff Katia sachte an den Arm.

»Katia …«

»Bitte, ich muss gehen.«

Sie verließen das Restaurant. McCall veränderte seine Position, damit er besser sehen konnte, wer hinten in dem Lexus saß. Er hörte, wie Katia den Fahrer »Kuzbec« nannte. Der junge Tschetschene öffnete die Hintertür für sie. Höflich und respektvoll. McCall sah einen Moment Bakar Daudovs Gesicht im Halbschatten des Rücksitzes. Dann wurde er von den beiden einsteigenden Frauen verdeckt und Kuzbec schloss die Tür. Er setzte sich hinters Steuer und scherte in den Verkehr ein, was ihm einiges zorniges Hupen einbrachte.

McCall ging zurück zur Nische und nahm Natalyas Glas mit Cola light. Sie hatte sie nicht angerührt. Er hob die Getränkekarte des Bentleys auf, die einsam auf dem Tisch lag. Er drehte sie herum.

Auf die Rückseite war geschrieben: Bitte, hilf meiner Mom.

EQUALIZER

Подняться наверх