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Kapitel 10

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Der Nachmittag im Bentleys war die Ruhe vor dem Sturm gewesen. Der Abend war hektisch und das Restaurant um 23 Uhr immer noch proppenvoll. Gerade als McCall dachte, er könnte sich aus dem Staub machen, kamen Chase Granger und vier seiner Maklerkollegen an die Bar, laut und schon gut abgefüllt – Bentleys war nicht ihr erster Stopp des Abends gewesen. Sie setzten sich auf fünf Barstühle. Auf vieren davon hatten vorher zwei Pärchen gesessen. McCall mixte die Drinks für seine Lieblingskellnerin fertig, Amanda, Gothic, Punk, Tattoos, Sicherheitsnadeln durch die Augenbraue und Lippe. Sie hatte heute pinke Haare, aber man wusste nie genau, welche Farbe es sein würde, wenn sie zur Arbeit kam. Sie sah McCall mit übertriebenem Schlafzimmerblick an und formte mit den Lippen den Satz »Ich liebe dich«. Das war ihr abendliches Ritual. McCall lächelte freundlich. Chase grinste und fischte sein iPhone aus der Manteltasche.

»Hey, Bobby! Sieht so aus, als hättest du heute Abend ein heißes Date! Das sind ein paar meiner Freunde von der Arbeit. Das hier ist Tim, Peter, das ist Marcus neben ihm und Kyle da am Ende. Jungs, das ist mein Mann! Barkeeper Bobby! Tequila, Bobby, stell sie einfach schon mal auf die Bar.«

McCall füllte Tequila in Schnapsgläser. Chase stand von seinem Barhocker auf und richtete das iPhone auf die anderen. »Okay, Jungs, rückt mal ein bisschen zusammen, sonst krieg ich euch nicht alle drauf.« Er machte ein Bild, warf einen Blick auf das Display. »Das ist ja furchtbar! Ihr seht alle aus, als hättet ihr Blähungen! Noch eins. Schnappt euch mal ein paar Tequilagläser und tut so, als hättet ihr Spaß!«

Sie nahmen die Gläser, als McCall das letzte gefüllt hatte, und hoben sie zum Anstoßen. Chase machte ein Foto und sah erneut auf das Display.

»Das ist schon besser!«

Er setzte sich wieder, steckte das iPhone ein, nahm sein Tequilaglas und kippte ihn runter. McCall ging davon, zog die schwarze Schürze über den Kopf, das Markenzeichen des Bentleys. Andrew Ladd hatte gerade das letzte Glas Sam Adams für Gina auf ein Tablett gestellt, die es wegtrug.

»Kommst du hier klar?«, fragte McCall. »Ich muss mal raus hier. Ich versuche, vor Mitternacht zurück zu sein.«

»Das ist schon okay, ich kann zusperren«, sagte Laddie. »Lass mir einfach die Schlüssel da.«

McCall schnappte sich seine Jacke, gab Andrew den Schlüsselbund und duckte sich unter der Barklappe durch. Er warf noch einen Blick auf die gefüllten Barhocker. Chase Granger und seine neuen Kumpels lachten über irgendwas. Sie würdigten ihn keines Blickes. McCall kam an Empfangspult vorbei. Sherry lächelte ihn an.

»Entfliehst du dem Wahnsinn, Bobby?«

»Laddie macht heute zu.«

»Klar. Gute Nacht.«

Sie sah ihm ein wenig wehmütig hinterher.

McCall erhaschte eine Reflexion im Fenster, als er durch die Vordertür ging.

An der Bar streckte Chase Granger den Hals, um zu sehen, wie McCall das Restaurant verließ. Er fischte sein iPhone aus der Jackentasche, während um ihn weiter gelacht wurde, und tippte auf ein paar Buttons.

In seinem verdunkelten Büro in der Company vibrierte Kontrolles iPhone auf dem Schreibtisch. Er war die einzige Person, die ein funktionierendes Smartphone in dem Gebäude benutzen durfte. Er hatte den Ausschnitt der Blaupause der Tunnel – oder was zur Hölle das war – auf dem Bildschirm seines Laptops studiert. Sie waren eine Unmenge an Datenbanken durchgegangen. Bisher nichts. Er hob das iPhone auf. Dann lehnte er sich langsam zurück. Auf dem Display sah man vier junge Männer, die randvolle Schnapsgläser hochhielten. Sah nach Tequila aus. Sie grinsten in die Kamera, aber das war es nicht, was sein Interesse weckte. Sie waren für diesen Abend engagiert worden. Kontrolle wollte den Mann hinter ihnen sehen. Der Barkeeper war ein wenig unscharf, aber das Gesicht war unverkennbar.

Robert McCall.

Kontrolle nickte. Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Ein Barkeeper. Wem würde man sonst alle Sorgen beichten?«

McCall ging die Treppe in die U-Bahnstation MTA Canal Street hinab auf den so gut wie verlassenen Bahnsteig. Er hatte nach dem Dolls-Nachtklub im Internet recherchiert und festgestellt, dass er nur drei U-Bahnstationen vom Bentleys entfernt in der Houston Street war. Den letzten Zug hatte er knapp verpasst. Der jungen Frau um die 20, die ein Stück weiter entfernt auf dem Bahnsteig stand, ging es genauso. Sie war blond, trug einen Rucksack und rauchte eine Zigarette, was auf den New Yorker Bahnsteigen verboten war, aber kein Mitarbeiter der MTA kam angerannt, um ihr zu sagen, sie müsse sie ausmachen. Das war die einzige andere Person auf dem Bahnsteig. Über die Schulter sah sie in McCalls Richtung und ging hastig ein paar Schritte von ihm weg. Aus einem zweiten Treppenhaus kamen mehr Leute und sie entspannte sich ein wenig. Aber in ihren Augen hatte kurz Panik aufgeblitzt. Alleine auf einem verlassenen Bahnsteig mit einem älteren Mann, den sie nicht kannte. Vielleicht wollte er ihr was antun.

McCall konnte den kleinen Anfall von Großstadtparanoia gut verstehen.

Der Nachtklub Dolls war an einer Ecke in einem Gebäude, in dem früher ein Karatestudio gewesen war. Bereits am Eingang wurde man von dem Motiv der silbernen Puppen über den Türen begrüßt. Die langen, hellen Fenster hatten eine silberne Beschichtung, sodass man nicht hineinsehen konnte. Es war eine Schlange Leute vor der Tür, größtenteils jung. Ein breiter Schlägertyp, der kaum 20 war, stand an der Tür und spielte Gott. Er entschied darüber, wer in die geheiligten Hallen gelassen wurde und wer nicht. McCall drängelte sich höflich an den Kopf der Schlange. Der Türsteher sah ihn an. Er wollte den Mund aufmachen und ihm sagen, er solle sich ans Ende der Schlange verpissen, aber etwas in McCalls Blick hielt ihn davon ab. Er machte einen Schritt zur Seite. Sein Dialekt klang nach Bronx.

»Sie können rein.«

McCall nickte und betrat den Nachtklub.

Kleine silberne Tische säumten eine große Tanzfläche, wo eine silberne Kugel von der Decke hing, die kaleidoskopische Farben spiralförmig projizierte. Die Tanzfläche war mit tanzenden Paaren gefüllt, die meisten von ihnen tanzten einfach für sich und achteten nicht wirklich auf das, was ihr Partner machte. Man durfte nicht dicker sein als eine Briefmarke, wenn man sich zwischen ihnen hindurchquetschen wollte. Es gab eine große silberne Bar auf der rechten Seite, an der drei Leute arbeiteten. Alle Barhocker waren besetzt. McCall hatte den Eindruck, es war eine bunte Mischung. Ein Teil war um die 20, aber es gab auch jede Menge Leute um die 30 – Aktienmakler, Anwälte, Politikassistenten, Wahlkampfmanager, Werbeleute und ein paar Schauspielerinnen, die Aufmerksamkeit suchten. Die Arbeit im Bentleys hatte ihm ein gewisses Gespür verschafft, um die üblichen Verdächtigen zu erkennen. In der Nähe der Bar drehte ein junger DJ, ganz in Schwarz gekleidet mit verwuschelten schwarzen Haaren, die Plattenteller und schuf seinen eigenen Remix. Der Hall alleine holte einen fast von den Füßen.

Cocktailkellnerinnen in silbernen Seidenblusen und hautengen Hosen trugen Tabletts mit geübter Leichtigkeit zwischen den Tischen herum. In der Nähe, nur ein Stück entfernt an vier Tischen, die ein wenig abseits an einer Seite der Tanzfläche standen, waren zwölf wunderschöne junge Frauen. Alle um die 20, elegant gekleidet, die Kleider tief genug ausgeschnitten, um das Dekolleté zu zeigen, einige trugen Miniröcke, die ihre wohlgeformten Beine zeigten. Das waren keine Stripper-Outfits. Sie waren elegant. Das Make-up sah professionell genug aus, um von einem Hollywood-Maskenbildner stammen zu können. Sie tranken aus silbernen Champagnerflöten. Einer der jungen Aktienmakler oder Anwälte ging von der Bar zu einer blonden Tänzerin und redete mit ihr. Er hatte einen gefalteten Hundertdollarschein in der Hand. Er bewegte ihn durch die Finger wie ein Magier, der einen Münztrick vorführt. Sie lächelte und nickte, nahm den Schein und sie gingen gemeinsam auf die Tanzfläche.

McCall warf einen Blick auf das silberne Treppenhaus zu seiner Linken. In jeder Stufe waren kleine pulsierende Neonröhren eingebaut. Sie führte in den ersten Stock. Dort waren sicher all die kleinen Schlafzimmer. Ein schmales Bett in jedem, ein Stuhl, auf den man die Kleidung legen konnte, ein Kleiderbügel an der Rückseite der Tür, um die Anzugjacken aufzuhängen. Eine silberne Lampe auf einem kleinen Nachttisch. Das war vermutlich alles. Wahrscheinlich hatte jedes Zimmer ein winziges Bad.

McCall sah sich die Cocktailkellnerinnen an, die zwischen den Tischen umhergingen und immer wieder an die Bar traten, wo ein paar junge Barkeeper so schnell wie möglich die Drinks mixten. McCall erinnerte sich, dass Katia erzählt hatte, sie würde Drinks servieren und sie beide seien in der gleichen Branche. Er sah sie nicht.

Sein Blick wanderte wieder zu den Tänzerinnen. Er vermutete, dass sie zu bestimmten Gelegenheiten Dienstleistungen anbieten mussten, die wenig mit Tanzen zu tun hatten, höchstens in einem übertragenen Sinn. Und dann sah er sie, sie lehnte an einem silbernen Handlauf, der den erhöhten Raum um die Bar von den Cocktailtischen trennte. Sie trug ein wunderschönes schwarzes Kleid, das mehr von ihren Brüsten zeigte, als ihr vermutlich lieb war, denn er erinnerte sich daran, dass sie meist eher konservativ gekleidet war, wenn sie ins Bentleys kam. Tatsächlich hatte er sie nie in was anderes als Jeans im Restaurant gesehen, dazu dunkle Pullover in verschiedenen Farben und einen Windbreaker. Das hier war eine ganz andere Katia, ebenfalls mit perfektem Make-up, elegant und verführerisch, aber unnahbar. Ihre Körpersprache sagte, komm mir nicht zu nahe. Das Kleid reichte ihr bis knapp übers Knie, zeigte ihre wohlgeformten Beine, stellte sie jedoch nicht zur Schau. Sie hielt ein Champagnerglas in der Hand, nippte aber nur daran. Es war lediglich Staffage. Vielleicht war gar kein Champagner darin; wohl eher Ginger Ale.

McCall schob sich langsam durch die Menge und nahm eine Hundertdollarnote aus der Tasche. Sie sah ihn nicht, bis er fast neben ihr war. Als sie es tat, machte sie völlig desorientiert einen Schritt nach hinten.

»Was machst du denn hier?«

Er konnte sie kaum hören über Pink hinweg, die verlangte: »get this party started«.

»Lass uns tanzen«, sagte McCall.

»Ich tanze nicht.«

»Ich sehe auch nicht, dass du Cocktails servierst, und du bist nicht so angezogen, um nur zuzusehen.«

»Ich bin mit meinem Freund hier. Er ist an der Bar.«

»Du hast keinen Freund. Das hat mir Natalya gesagt.«

»Natalya hat dir gar nichts gesagt

»Nicht mit Worten. Du wirst bezahlt, um zu tanzen. Ich nehme an, das ist neu für dich. Hier sind meine hundert Dollar. Wie viele Tänze kriege ich dafür?«

»Einen.« Jetzt trat sie näher zu ihm und senkte die Stimme, auch wenn sie hätte schreien können und niemand sonst hätte es gehört. »Schau, Bobby, ich weiß nicht, wie du herausgefunden hast, dass ich hier arbeite.«

»Du hast ein Streichholzbriefchen vom Dolls zwischen den Fingern gedreht, als du gekommen bist, um Natalya abzuholen.«

»Das stimmt. Okay, das ist dir also aufgefallen. Ich mag dich. Ich bin froh, dass du gedacht hast, es wäre spaßig, hierherzukommen und mich zu besuchen. Ich war bei dir in der Arbeit, jetzt warst du bei mir. Belassen wir es dabei.«

»Lass uns tanzen«, wiederholte McCall und drückte ihr die Hundertdollarnote in die Hand.

Ihr Blick schweifte kurz an ihm vorbei. Er drehte sich um und bemerkte Kuzbec, im selben dreiteiligen Anzug mit der goldenen Uhrkette, der sie interessiert von der anderen Seite der Tanzfläche ansah. Er trank ebenfalls Champagner und sein Blick hätte einen Eisbären frösteln lassen.

»Du wirst mich noch in Schwierigkeiten bringen«, zischte sie und ihr tschetschenischer Akzent wurde deutlicher, weil sie Angst hatte.

»Nicht, wenn du mit mir tanzt«, sagte McCall. »Ist das deine erste Nacht hier als Tänzerin?«

»Ja.«

»Bin ich dein erster Tanz?«

Sie nickte.

»Das ist eine ziemliche Ehre. Besser ich als irgendeiner der stumpfsinnigen Aktienmakler da an der Bar. Komm schon, du führst. Ich folge. Ich bin nicht gerade Michael Jackson auf der Tanzfläche.«

Das brachte sie zum Lächeln. Sie steckte sich den Schein in den Ausschnitt und nahm ihn an der Hand, führte ihn durch die Cocktailtische hindurch auf die überfüllte Tanzfläche.

»Ich kann mir niemanden Besseren vorstellen, um mein erster Tanzpartner zu sein«, sagte sie fast mit einem Flüstern.

»Warte, bis ich dir ein paarmal auf die Füße getreten bin, bevor du dieses Urteil fällst.«

Er nahm sie in die Arme und sie tanzten, bewegten sich nur langsam vor und zurück, nicht im Takt der Musik, sondern zu einem Rhythmus, der in ihren Köpfen langsamer klang.

»Wie ist dein voller Name?«, fragte McCall. »Da wir ja Tanzpartner sind, sollte ich das wissen.«

»Katia Rossovkaya,«

»Keine Russin.«

»Tschetschenin.«

»Hundert Dollar pro Tanz. Wie lautete der alte Songtext? Ten cents a dance? Die Inflation ist ganz schön hoch im Dolls

»Es sind drei Tänze. Ich wollte dich nur abschrecken.«

»Was bekommt man dafür noch?«

Sie versteifte sich in seinen Armen und antwortete nicht. McCall nickte in Richtung einiger der erfahreneren Tänzerinnen auf der Tanzfläche, die ihre Magie auf ihre neuen Tanzpartner wirken ließen.

»Wie viele von denen müssen die Treppe hochgehen?«

»Was weißt du darüber?«

Jetzt klang sie alarmiert und ihr Blick hetzte über die Tanzfläche, neben der Kuzbec sie immer noch beobachtete.

»Ich weiß gar nichts. Deswegen bin ich da. Ich versuche, einen Eindruck von deren Operation zu bekommen. Ein paar von den Tänzerinnen sehen so aus, als machten sie das schon eine Weile. Andere sind weniger selbstsicher, aber sie nähern sich an. Sie haben vermutlich keine andere Wahl.«

»Ich auch nicht.«

»Sicher hast du die. Du sagst ihnen, dass du nur tanzt, und das ist alles.«

»Du kennst die nicht.«

»Doch, das tue ich.« Ihre Augen richteten sich kurz über seine Schulter. »Vergiss den Chauffeur. Der wird dir nichts tun. Das würde er nicht wagen.« McCall tanzte mit ihr von dieser Seite der Tanzfläche und dem jungen Tschetschenen weg. Pink wurde durch Beyoncé ersetzt, die ihrem Mann sagte, dass er ihr schon einen Ring anstecken müsse, wenn er was von ihr wolle. Diva-Abend im Dolls. »Wer wartete auf dich auf dem Rücksitz des Lexus?«

Sie packte seinen Arm ein wenig fester. »Bobby, hör zu …«

»Nenn mich Robert«, sagte er leise. »Niemand, der mich wirklich kennt, nennt mich Bobby.«

»Robert, ich weiß es zu schätzen, dass du versuchst, mir zu helfen. Aber ich hab dir gesagt, du kannst nichts machen. Diese Leute können Monster sein. Sie werden dir wehtun. Ich weiß, womit ich es zu tun habe. Ich komme klar. Du musst jetzt gehen.«

»Ich hatte noch nicht meine drei Tänze.«

McCall ließ den Blick über die Tanzfläche schweifen und suchte die Menge nach dem gut gekleideten Killer ab, den er in Moses’ Antiquitätengeschäft gesehen hatte und für einen Moment auf dem Rücksitz des Lexus. Er fand ihn nicht.

»Wie heißt der Mann?«

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

»In meinem früheren Leben hatte ich es satt, dass die Leute mir das gesagt haben. Wem gehört der Laden?«

»Sein Name ist Borislav Kirov.«

»Und wie lange dauert es, bis man von der Tänzerin zur Nutte wird?«

Sie biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf, als sei die Situation völlig hoffnungslos.

»Was wollen die? Es kann nicht nur Sex sein. Was verlangen die von dir?«

Sie schüttelte wieder den Kopf.

»Vielleicht ein wenig Bettgeflüster? Sich die Geheimnisse anhören, die keiner hören soll, aber das bist ja nur du, eine bildhübsche tschetschenische Frau, die sehr gut Englisch redet, ein Engel, die erzählt das keinem. Abgesehen von ihrem Boss. Der dann die Information nutzt, wie es ihm in den Kram passt.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Erpressung.«

»Ich kann nicht wieder heimgeschickt werden«, flüsterte sie. »Ich kann nicht zulassen, dass Natalya das passiert.«

McCall nickte. Das war also die Drohung, die sie über ihrem Kopf baumeln ließen.

»Hast du ihnen Nein gesagt? Dass du nur tanzen würdest und sonst nichts? Nicke einfach und lächle und lache dann.«

Sie nickte und lächelte dann. Er flüsterte ihr etwas zu und sie lachte. McCall erhaschte einen Blick auf den Chauffeur in einem der vielen silbernen Spiegel, die an den Wänden um die Tanzfläche verteilt waren. Er entspannte sich. Katia wurde auch lockerer, fand sich langsam hinein. Das war gut.

»Wie lange haben sie dir gegeben?«

»Da ist ein Mann an der Bar. Er wartet auf seinen Tanz. Ich soll tun, was immer er verlangt. Er wird mich mit nach oben nehmen.«

»Nicke ihm zu, wenn wir die nächste Drehung machen.«

McCall drehte sie herum, als sie näher an der Bar waren. Sie musste gar nicht nicken. Er hatte ihn schon erspäht. Er war gut angezogen, trug einen kohlschwarzen Anzug mit dünnen roten Linien, dazu eine rot-weiße Krawatte mit kleinen Kreiseln darauf. Er trank einen Bourbon. In den Dreißigern. McCall kam er bekannt vor. Möglicherweise jemand, den er in den Lokalnachrichten gesehen hatte, vielleicht sogar auf CNN. Eventuell ein Anwalt, der für einen der großen Sender arbeitete und den Machtpoker in D. C. und die Hintergründe kommentierte. Er betrachtete die Tänzerinnen wie ein Sexualstraftäter. McCall kannte den Blick.

»Was soll ich nur tun, Robert?«

Diesmal war alle Fassade und jede Härte aus ihrer Stimme verschwunden. Sie war verängstigt und verloren. Er schwang sie von der Bar weg, spürte, dass der Anwalt sie ganz genau im Auge behielt.

»Du sagst es ihnen noch einmal. Du wirst nur mit den Kunden tanzen. Die werden dich nicht zwingen. Du bist nur eine Frau. Die haben elf andere, die ihnen keinen Ärger machen. Du bist nichts Besonderes für die.« Sie wollte etwas sagen und überlegte es sich dann anders. Sie drehte den Kopf und sah zurück zu dem Mann an der silbernen Bar.

»Kennst du seinen Namen?«, fragte McCall.

»Mr. Frank Gardiner.«

McCall konnte ihn endlich einordnen. Der Nachrichtenexperte von Fox für das Weiße Haus. Locker, zynisch und schmierig.

»Der wird heute Abend nicht mit dir tanzen.«

»Aber man hat mir gesagt …«

»Er wird seine Meinung ändern.«

Der dritte Song fing an. Die Bee Gees mit »Stayin’ Alive«. Aber McCall zog Katia von der Tanzfläche zu einem freien Tisch. Er ließ sie Platz nehmen.

»Sie haben mit einem recht. Du tanzt wie ein Engel.«

»Sobald du weg bist, wird er einfach hierherkommen und mir einen Hundertdollarschein in die Hand drücken.«

»Nein, wird er nicht.«

»Wieso nicht?«

»Weil ich ihn bitten werde, es nicht zu tun.«

McCall nahm eines der Dolls-Streichholzbriefchen aus einem Aschenbecher auf dem Tisch. Niemand durfte in dem Nachtklub rauchen, aber sie waren dekorativ und die Gäste sollten sie mit nach Hause nehmen. Er schrieb eine Nummer hinten auf das Briefchen und gab es ihr.

»Das ist meine Handynummer. Ruf mich an, jederzeit, Tag oder Nacht. Wenn du mich brauchst, bin ich da.«

Sie nahm das Streichholzbriefchen und sah zu ihm hoch, nun durch Tränen hindurch.

»Du bist kein Barkeeper, oder?«

»Klar bin ich das.«

»Aber du warst nicht immer einer.«

»Nein.«

Er machte eine kleine, höfliche Verbeugung vor ihr, nur damit es der Chauffeur sah, als würde er ihr für die drei Tänze danken. Dann ging er an die silberne Bar. Frank Gardiner trank gerade den letzten in der Kehle brennenden Schluck seines Bourbons.

Jetzt war er dran.

Er rutschte vom Barhocker. McCall nahm seine rechte Hand am Handgelenk und steuerte ihn von den Cocktailtischen weg.

»Was zur Hölle glauben Sie …«

Weiter kam Gardiner nicht. McCall redete leise, aber irgendwie verstand der Washington-Korrespondent jedes Wort, als würden sie plötzlich in einem Kokon stecken.

»Wenn ich meine Hand ein paar Zentimeter bewege, dann breche ich Ihr Handgelenk. Wenn Sie Ihre andere Hand einen Zentimeter bewegen, dann breche ich die.«

Gardiner versuchte reflexartig, den Arm freizubekommen, aber McCall hielt ihn wie ein Schraubstock fest.

»Okay, das lass ich mal durchgehen«, sagte McCall. »Dieses eine Mal. Hören Sie genau zu, denn ich werde das nicht wiederholen. Sie werden die junge Dame nicht um einen Tanz bitten. Sie werden mit gar niemandem tanzen. Der Klub ist zu überfüllt und laut heute Abend. Das werden Sie allen sagen, die Sie fragen. Sie hatten den ganzen Tag Migräne. Das war eine schlechte Idee. Sie gehen heim. Vielleicht haben Sie eine Frau, die da auf sie wartet, ein paar Kinder. Vielleicht eine Freundin. Vielleicht sind Sie einfach nur sehr allein. Das passiert in der großen Stadt. Sie werden nie wieder ins Dolls gehen. Nicht heute Abend und auch an keinem anderen mehr.«

Gardiners Stimme zitterte. Es lag keine Aggression darin.

»Wer zur Hölle sind Sie? Ihr Liebhaber?«

»Nur ein Freund. Ich begleite Sie hinaus. Wenn Sie wieder reingehen, dann werde ich das wissen. Ich werde Sie finden. Ist mir egal, wo Sie wohnen. Ist mir egal, wer es weiß. Ich werde Ihnen sehr wehtun. Klar?«

McCall hoffte, er würde nicht »wie Kloßbrühe« sagen. Das machte eigentlich keiner. Gardiner sah Robert McCall an und es war wieder wie bei dem Rausschmeißer an der Tür. Er sah etwas in diesen plötzlich kalten, reptilienhaften Augen. Nichts anderes als Tod.

Gardiner nickte. McCall ließ sein Handgelenk los und blieb stehen. Er tat nichts. Gardiner ging Richtung Ausgang des Nachtklubs. McCall wartete, folgte ihm dann, aber nicht zu nahe. Er drehte sich einmal um und hielt Ausschau nach Katia. Sie war auf der Tanzfläche und tanzte mit einem jungen Typen, der aussah, als würde er bei Vampire Diaries mitspielen. McCall versuchte, die Bedrohungslage einzuschätzen. Es gab keine. Er warf einen Blick über die Tanzfläche, aber Kuzbec war verschwunden. Sonst sah er niemanden, den er erkannte. Er glaubte, dass Borislav Kirov vermutlich alles auf einem Monitor irgendwo in einem Büro mit ansah. Es gab kleine, silberne Kameras an sämtlichen Wänden, die ins Dekor eingearbeitet waren.

McCall dachte daran, ihr fröhlich zuzuwinken, aber entschied sich dagegen. Er ging Richtung Ausgang.

Draußen war die Menge größer und lauter geworden. Der Türsteher stritt sich mit einem jungen Pärchen und schubste ein bisschen. Niemand kam an ihm vorbei. McCall ging nach draußen, tippte dem Türsteher auf die Schulter und nickte in Richtung des Paars, das er gerade weggeschubst hatte. Die können rein. Der Türsteher machte einen Schritt zur Seite und das Pärchen betrat den Nachtklub. Er trat dem nächsten Pärchen in den Weg und warf McCall einen nervösen Blick zu. Alles cool? McCall nickte. Spaßig, Gott zu spielen. Er blieb stehen, um sich aus dem stets zerdrückten Päckchen in seiner Brusttasche eine Camel zu fischen und anzuzünden, und sah sich um. Keine Spur von Gardiner. Niemand kam aus dem Klub hinter ihm her. Die Nacht war kalt, aber er beschloss, nach Hause zu laufen.

Er stieg die Treppe zu seinem Apartment hoch.

Big Gertie verpasste ihm eine mit dem Baseballschläger in dem Moment, als er durch die Tür trat.

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