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Kapitel 4

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McCall mochte das italienische Restaurant in der Nachbarschaft. Ihm gefielen die karierten Tischdecken, die Lampen mit dem akkurat heruntergelaufenen Kerzenwachs daran, die Bilder von Venedig an den Wänden mit den glitzernden Kanälen, die Weigerung, zeitgemäß zu sein. Er hätte an einem beliebigen Tag in den letzten 60 Jahren ins Luigi’s gehen können und es hätte nicht anders ausgesehen als jetzt.

Das Restaurant war brechend voll. Es gab einen lärmenden Tisch in einer Nische, den McCall nicht sehen konnte und an dem ein paar Gäste offensichtlich viel Spaß hatten. Er hatte die Pärchen an den anderen Tischen um sich herum beobachtet, teils lebhaft und überschwänglich, teils zurückhaltend und still, die einfach ihr Leben lebten. McCall saß alleine an seinem üblichen Ecktisch und fragte sich, ob er nun sein Leben lebte oder nur so tat. Es kam ihm so vor, als würde er auf etwas warten. Auf einen kleinen, intimen, mitreißenden Moment, der sein Leben veränderte. Emotional fühlte er sich im Leerlauf. Aber das war eigentlich schon immer so gewesen.

Jenny, seine Kellnerin, eine vorlaute Blondine mit einem Akzent, der ganz und gar nicht nach Venedig klang, sondern eher aus einer Gegend nicht weit von New York, trat an seinen Tisch, um ihm noch mehr Kaffee einzuschenken und den leeren Pastateller mitzunehmen.

»Sie essen immer alleine, Mr. McCall. Sie tragen keinen Ring, also sind Sie nicht verheiratet. Ich habe Sie noch nie mit einer Freundin gesehen. Oder einem Freund. Oder überhaupt mit irgendjemandem. Sind Sie einsam?«

»Überhaupt nicht.«

»Wenn Luigi hören könnte, dass ich so mit Ihnen rede, dann würde er mich rausschmeißen. Aber Sie sind so was wie unser Kompass. Sie kommen immer zur gleichen Zeit, essen immer dasselbe, Fusilli mit Zucchini und Kräutern, trinken zwei Gläser Schiopetto Rivarossa Jahrgang 2009, sind immer sehr charmant und höflich und … mir fällt das Wort nicht ein.«

»Langweilig?«

»Besonnen. Ja, das ist es. Nachdenklich. Als würden Sie viel grübeln. Sie sind ein Rätsel.«

McCall lächelte. »Bin ich das?«

»Sicher, und wir kommen nicht dahinter. Eine der Kellnerinnen ist überzeugt, Sie sind Schriftsteller. Sally hält Sie für einen Anwalt. Ich glaube, Sie sind im Zeugenschutzprogramm. Sie sitzen immer mit dem Rücken zur Wand und überblicken das Restaurant. Von Ihrem Platz aus können Sie beide Eingänge sehen und die Tür zur Küche. Aber Sie wirken immer so entspannt. Nicht, als würden Sie sich Sorgen machen, dass plötzlich jemand reinkommen und eine Waffe auf Sie richten könnte.«

»Sie schauen wohl zu viele Bruce-Willis-Filme?«

Sie lachte. »Kann sein. Ich habe dieses komplette Szenario im Kopf, was Sie betrifft, und ich bin mir sicher, dass ich nicht mal nahe dran bin. Aber behalten Sie ruhig Ihre Routine bei. Kommen Sie weiter zur selben Zeit ins Luigi’s, essen Sie das Übliche und trinken Sie denselben Wein, sonst könnte die Zeit stehen bleiben oder so was in der Art.«

»Ich verpasse vielleicht mal ab und zu einen Abend, aber ich lasse Sie nicht hängen.«

»Also, was tun Sie denn wirklich?«

»Wenn ich Ihnen das sagte, wäre ich ja nicht mehr rätselhaft.«

»Wohnen Sie in der Gegend?«

»Zwei Blocks entfernt.«

Jenny blieb noch einen Moment stehen, vielleicht hoffte sie, dass er ihr die Straße verraten würde, vielleicht sogar die genaue Adresse, aber das tat er nicht. Sie ging. Am Tisch in der Nische brach Gelächter aus. McCall legte Geld auf die Rechnung, inklusive eines großzügigen Trinkgelds, stand auf und ging zur Front des Restaurants. Von hier warf er einen Blick in die Sitznische. Dort saßen sechs junge Männer am Tisch, anscheinend sehr gut gelaunt, alle schick gekleidet, vielleicht Russen, vielleicht nicht. Gutaussehend, zurückgegelte schwarze Haare, schwarze Anzüge, Ringe an den Fingern. Ein älterer Mann Ende dreißig saß mit ihnen zusammen: Er war ruhiger als der Rest und stimmte nicht in das Gelächter mit ein, das auf eine lustige Bemerkung folgte. Seine Augen hoben sich kurz und er sah McCall an, blickte dann völlig desinteressiert wieder weg.

McCall nahm seinen dunkelgrauen Mantel von einem Ständer. Luigi, dick und geschwätzig, Ende 60, ein überschwänglicher Gastgeber, kam herübergerauscht und schüttelte McCall energisch die Hand.

»Mr. McCall! Wie waren die Fusilli?«

»Exzellent, wie immer.«

»Sehr gut. Es ist heute kalt draußen. Sie haben noch mehr Regen vorhergesagt. Wie der Polizei-Sergeant in der tollen alten Krimiserie immer sagt, von der ich mir die Wiederholungen ansehe …« McCall zog seinen Mantel an. Es war ihr allabendliches Ritual. Er konnte fast mitsprechen. Seien Sie vorsichtig da draußen!

»Das bin ich immer.«

»Sehen wir Sie morgen Abend? Molto bene. Machen Sie’s gut.«

McCall schlenderte in die Nacht hinaus.

Hinter ihm sah der Mann an dem lauten Tisch noch einmal auf.

Langsam und vorsichtig stieg er die Stahlleiter hinauf, trug dabei das Pelican-Hardcase in der linken Hand und hielt sich mit der Rechten fest. Er achtete darauf, nicht auszurutschen.

Die Schneeflocken wirbelten ein wenig heftiger um ihn herum, als der Wind auffrischte, und die Leiter wurde rutschig.

Er war ihr zum Safehouse gefolgt, war einen Block hinter ihr gewesen, als die Bombe losgegangen war. Sie hatte ihn irritiert. Er wusste, er war nur das Back-up, dennoch wollte er nicht, dass die Beute direkt vor seinen Augen getötet wurde. Man würde ihn natürlich so oder so bezahlen, aber sie war wunderschön und wehrhaft und der Gedanke, ihr das Lebenslicht auszuknipsen, war einfach zu verlockend. Sie hatten sich verrechnet. Er war froh, dass sie so schnelle Reflexe hatte. Den Lada hatte sie mit großem Geschick gesteuert, war auf den gegenüberliegenden Gehsteig gefahren und wieder herunter, war den anderen Autos ausgewichen. Er hatte sich Sorgen gemacht, als die große Holzfigur direkt auf ihren Wagen gefallen und die weiße Tasse durch die Windschutzscheibe geknallt war. Welcher Idiot stellt eigentlich eine solche Monstrosität an der Straße auf? Sie war wohl kaum dekorativ oder schön anzusehen. Aber sie hatte das Hindernis geschickt umfahren. Vermutlich war sie von den herumfliegenden Splittern des Fensters auf der Fahrerseite verletzt worden, dachte er, aber als sie aus dem Wagen gestiegen war, lief sie schnurstracks zum Zugwrack, ohne zu straucheln. Er hatte keine Ahnung, was sie in dem verrotteten Zug mitten in einer Industriebrache wohl zu finden hoffte. Vermutlich war das irgendein Plan B, eine letzte Zuflucht, weil ihr Safehouse kompromittiert worden war.

Aber das spielte keine Rolle.

Sie würde diesen einsamen Ort nicht lebend verlassen.

Hier wirkte alles völlig leblos. Vermutlich hatten schon seit Ewigkeiten keine Touristen mehr diesen gruseligen Themenpark besucht. Die Echos des Todes, vom Flugzeugwrack über den demolierten Zug bis zum abgestürzten Helikopter, flüsterten ihm zu. Das war tröstlich. Er hörte dieses Flüstern öfter. Normalerweise direkt bevor oder nachdem er ein Leben ausgelöscht hatte. Es waren keine Stimmen in seinem Kopf. Nichts derart Greifbares. Es war mehr wie ein Flüstern der Schatten, die vor seinem geistigen Auge vorbeizogen und ihm versicherten, dass der Tod hier ein gern gesehener Gast war.

Sein Fuß rutschte auf einer glatten Sprosse aus und er klammerte sich fest. Das Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Wieso war er ausgerutscht? Er war doch sehr vorsichtig hier hochgestiegen. Er stützte das Hardcase auf einer der vereisten Stahlstufen ab, hielt sich nun mit links an der Leiter fest und hob die rechte Hand hoch.

Sie blutete.

Nicht stark, aber er hatte sie an einem Nagel aufgerissen, der unten aus dem Geländer ragte. Dort waren die Überreste eines kleinen Holzschildes am Geländer festgemacht. Er hatte natürlich nicht gespürt, wie der Nagel seine Haut aufgeritzt hatte, aber sein Körper hatte reagiert und deswegen war er abgerutscht.

Er suchte einen sicheren Stand auf der Leiter. Eigentlich hatte er keine Handschuhe anziehen wollen, doch nun kam er zu dem Schluss, dass es wohl besser war. Aus seiner Manteltasche zog er ein Paar hautenge schwarze Lederhandschuhe und schlüpfte hinein. Das würde die Blutung stoppen. Er lehnte sich nach unten, nahm wieder das Hardcase in die Hand und erklomm die letzten zehn Meter zur Stahlplattform an der Spitze.

Der Wind blies ihm hier oben schneidend ins Gesicht. Das hatte keinen großen Einfluss, nicht wie auf einem New Yorker Wolkenkratzer, wenn man ein Ziel auf der Straße unter sich anvisierte und all die anderen Gebäude die Windrichtung beeinflussten. Der Wind hier im Themenpark war zu vernachlässigen, allerdings war er so heftig und so kalt, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Er erinnerte sich an einen Einsatz in Sibirien, bei dem er schnell die Tränen abwischen musste, bevor sie bei minus 50 Grad auf den Wangen gefroren. Der Wind zerzauste seine langen schwarzen Locken, die wie Schlangen um sein Gesicht wirbelten. Er wischte sich die vom Schnee nassen Haare aus der Stirn. Dann machte er zwei Schritte in Richtung des Helikopters auf der Plattform. Ihm wurde klar, dass er nicht nur an der unechten Stromleitung hing. Er war mit dünnen Stahlseilen gesichert. Er streckte die Hand aus und zog an zweien davon. Sie gaben nicht nach. Es bestand keinerlei Risiko, dass der Helikopter in die Tiefe stürzte.

Das war gut, denn er wollte aus der verunglückten Maschine zielen. Der Winkel von der Plattform war nicht optimal.

Er kniete sich hin, öffnete die Schnallenverschlüsse des Pelican-Hardcase und machte den Deckel auf. Die schwarzen Handschuhe zog er aus. Auch wenn sie hauteng waren, arbeitete er lieber mit bloßen Händen. Seine Hände waren seine Stärke. Das zerlegbare AWC-M91-Gewehr lag gut geschützt in der Schaumstoffaussparung. Er holte den Lauf heraus und den Fiberglasschaft mit dem Pachmayr-Rückschlagminderer. Der Abzug war von einer Remington 700 BDL und feinabgestimmt. Er nahm zwei Ausrichtungsstäbe und den stählernen Ankerstab aus dem Case. Dann hob er das spezielle MARS6-WPT-Nachtsichtzielfernrohr mit schwarzem Finish und vergrößerter Augenmuschel heraus. Seine Tiefenschärfe war phänomenal und es hatte eine manuelle Helligkeitskontrolle für das Fadenkreuz in zwei Farben. Er konnte entweder einen roten oder bernsteinfarbenen Zielpunkt verwenden. Bei dem Wetter besser rot. Er würde ihn eine Sekunde auf ihrem Gesicht aufleuchten lassen, damit sie es wusste. Sie hätte keine Chance. Aber es war der Moment, in dem ihr klar wurde, was passierte, der sich in sein Gedächtnis brannte. Das Aufflackern von Angst. Nicht mehr als ein Flackern, denn dann würde ihr Überlebensinstinkt einsetzen und ihr sagen, sie solle sich zu Boden fallen lassen und zur Seite werfen. Aber dieser Blitzlichtmoment wäre unauslöschlich.

Er brachte das Nachtsichtgerät am Gewehr an, schnappte den Schaft ein, lud fünf 12-HGR-Hohlspitzgeschosse mit Stahlmantel in die Kammer.

Über die Plattform führte eine Stahlkette zur Rückseite des Hubschraubers. Er machte sie los, beugte sich nach vorne und stieg in den havarierten Helikopter. Ächzend änderte dieser seine Position ein wenig. Er hielt sich an einem Handgriff fest und fing sich. Einen irrationalen Moment lang fragte er sich, ob dieser defekte Hubschrauber sich tatsächlich lösen und zu Boden krachen konnte. Er musste zumindest das Gewicht eines Mannes aushalten, wenn er gewartet wurde. So groß war er nicht, aber kräftig gebaut, er wog über 100 Kilo. Doch ein Mi-38-Helikopter konnte bis zu 30 Passagiere und eine Zweimann-Crew befördern. Andererseits war dies im wahrsten Sinne des Wortes ein Katastrophenpark und er fragte sich, wie lange es her war, dass tatsächlich eine Wartungscrew diesen Helikopter betreten hatte.

Behutsam tappte er nach vorne mit der M91 in einer Hand, mit der anderen hielt er sich im gepolsterten Inneren fest. Es gab genug Möglichkeiten, da, wo die Polsterung obszön herausquoll, als sei sie mit einem Messer aufgeschlitzt worden. Er schaffte es bis zur Tür des Helikopters. Zuerst hatte er befürchtet, dass man sie zugeschweißt hatte, aber das war sie nicht. Sie ließ sich ohne Weiteres öffnen. Mit dem Rücken lehnte er sich seitlich gegen die Türöffnung. Er steckte den Ankerbolzen in den Boden des Helikopters und sicherte ihn. Dann nahm er die richtige Position ein und zielte mit dem MARS-Nachtsichtgerät. Er fokussierte auf den zerstörten Passagierzug und bewegte das Zielfernrohr langsam über die Fenster, bis er zum ersten entgleisten Waggon kam. Er war sich nicht sicher, in welchem sie sein würde. Das war ein Fall für die Aufklärung. Sie war in einem davon und musste auf demselben Weg wieder herauskommen, auf dem sie hineingegangen war, um dann zu ihrem Lada zu rennen.

Nun sah er sie.

Die Vergrößerung ließ ihre Gestalt deutlich sichtbar werden, als würde sie ihn durch das schmutzige Zugfenster anspringen. Sie schien ihm so nahe zu sein, als ob er den Arm ausstrecken und sie berühren konnte. Sie hatte dunkle Haare, war etwa 1,70 Meter groß, außer sie bückte sich, vielleicht sogar über 1,70. Er berechnete es mit ein. Die Informationen, die er hatte, lauteten, dass sie 1,65 war. Ihr Gesicht war bildschön, selbst durch das schmutzige Glas. Das war gut. Je hübscher sie waren, desto exquisiter war ihr Schmerz, wenn er ihre Gesichtszüge hässlich verzerrte. Wenn die sanften, feuchten Augen vor Panik dunkel wurden. In Geschichten sahen die Helden dem Tod mit einem Gleichmut ins Auge, den er in echt nie gesehen hatte. In der Realität krallte sich die Angst einem Mann oder einer Frau ins Gesicht, verzerrte es, verwandelte es für immer. Es war der letzte Ausdruck ihres Lebens.

Und der gehörte ihm.

Dann verschwand ihr Gesicht. Er vermutete, sie ging zurück zur Tür des Zugs. Von dort würde sie die fest verankerten Stufen hinabgehen. Sie hatte einen Blick nach draußen riskiert, um zu sehen, ob sich etwas bewegte. Um sicherzugehen, dass ihr niemand hierher gefolgt war.

Er wusste, die FTB-Agenten würden nicht herkommen. Sie hatten keine Informationen erhalten, sie waren nur bei der Kunstgalerie in den Wagen gesprungen und hatten sie verfolgt. Sie hatte sie leicht abgeschüttelt. Das waren Amateure. Aber was war mit ihren eigenen Leuten? Es würde eine Zelle aus Eliteagenten geben, die sie schützten, und jemanden, der die Einsatzkontrolle hatte. Wo waren sie?

Er glaubte, möglicherweise am Ort der Explosion, um sicherzustellen, dass ihre wertvolle Agentin nicht in Stücke gesprengt worden war. Sie konnten nicht nahe genug gewesen sein, um zu sehen, dass sie entkommen war, denn er hatte sie nicht bemerkt, und das hätte er. Er hätte den Wagen oder einen Lieferwagen oder einen unscheinbaren Bus gesehen, welches Fahrzeug auch immer sie zur Überwachung benutzten, das ihr hinterhergefahren wäre. Kein Fahrzeug hatte den Ort der Explosion verlassen, um ihr zu folgen, außer seinen eigenen.

Er nahm das Auge von der Muschel des Zielfernrohrs. Ein paar tiefe Atemzüge, um sich zu konzentrieren. Erneut blickt er durch die Augenmuschel und fokussierte auf die Stufen, die vom ersten Waggon nach unten führten.

Er summte ein Schlaflied, das er gehört hatte, als er ein kleiner Junge gewesen war. Nicht eines, das seine Mutter ihm vorgesungen hatte. An sie konnte er sich gar nicht erinnern. Aber irgendwo … vielleicht eine junge Frau, der er die Kehle durchgeschnitten hatte, die sich selbst etwas vorsang, vor diesem Moment des Grauens, der ihr den Atem nahm. Er versuchte, sich zu erinnern. Aus irgendeinem Grund war es ihm wichtig. Sanfte Schlaflieder waren wertvolle Erinnerungen.

Er wartete auf sie.

McCall packte die Einkäufe selbst ein. Es war ein Tante-Emma-Laden an der Ecke, und das war eine Art Running Gag zwischen ihm und der alten asiatischen Frau, der er gehörte. McCall suchte sich selbst seinen Milchkarton, das Glas mit Kaffee, Obst und Gemüse und eine Packung Camel aus – war er der einzige Mensch auf der Welt, der noch Camel ohne Filter rauchte? Was würde Elena sagen? – und eine Tüte M&Ms, die er in eine Schale auf den Wohnzimmertisch füllen wollte. Die alte asiatische Frau fing stets an, die Waren in zwei große braune Papiertüten zu packen, die aussahen, als stammten sie aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. McCall schob dann behutsam ihre Hände zur Seite und packte die Sachen selbst ein.

»Sie lassen mich nicht arbeiten«, sagte sie. »Ich sitze hier den ganzen Tag. Ich muss arbeiten.«

»Sie haben hart genug gearbeitet, um den Laden hier an der Ecke über die Runden zu bringen«, meinte McCall. »Sie haben es verdient, sich mal zurückzulehnen und auszuruhen.«

Sie sagten sich beide jedes Mal das Gleiche, wenn er in den Laden kam, genau wie Luigi, der ihn fragte, ob die Fusilli gut waren, worauf er erwiderte, dass sie exzellent wie immer geschmeckt hatten. Ein Ritual. Er mochte das. Sein Leben war heutzutage ziemlich routiniert. Abgesehen von dem Vorfall mit der Nutte und ihrem Zuhälter. Das hatte seinen Rhythmus durchbrochen.

Vielleicht für immer.

McCall bezahlte die alte Frau und sie öffnete mit einem Klingeln die Kasse und gab ihm das Wechselgeld. Ihr Ehemann, von dem McCall wusste, dass er mit den Amerikanern in Vietnam gegen den Vietcong gekämpft hatte, schlurfte zu ihr und legte eine parkinsongeschüttelte Hand auf ihre Schulter.

»Sie beehren unseren Laden mit Ihrer Anwesenheit, Mr. McCall.«

»Die Ehre ist ganz meinerseits.« Er wollte sich umdrehen, sah dann aber noch einmal zurück. »Keinen Ärger in der Nachbarschaft?«

»Was für Ärger?«, fragte der alte Mann, aber seine Augen verrieten, dass er genau wusste, was McCall meinte.

»Junge Männer mit leerem Blick, die Sie beschützen wollen. Dafür sorgen, dass Sie sicher sind. Dass Ihr Geschäft nicht ausgeraubt wird oder jemand von Ihnen verletzt wird.«

Der alte Mann zuckte die Achseln. »Das ist New York. Es gibt immer solche Männer. Sie stören uns nicht. Wir sind bedeutungslos.«

»Sie bedeuten mir etwas.«

Der alte Mann lächelte nachsichtig. »Wir sind alt. Wir kommen über die Runden. Wir brauchen Ihre Hilfe nicht.«

»Ich habe keine angeboten.«

Der alte Mann nickte. »Sie haben einst die Sorgen der Welt auf Ihren Schultern getragen. Aber jetzt nicht mehr. Das ist gut.«

»Erkennen Sie das daran, dass ich Milch kaufe und meine Einkäufe selbst einpacke?«

Er zuckte nur die Achseln und schlurfte zur anderen Seite ans Ende des Tresens, wo er die Lotteriescheine neu aufstapelte. Die alte Frau bestand darauf, McCall seine beiden Tüten in die Hand zu drücken.

»Danke und einen schönen Abend«, sagte McCall.

Die alte asiatische Frau lächelte abwesend. McCall fragte sich, ob sie der Unterhaltung mit ihrem Mann überhaupt zugehört hatte.

Er ging aus dem Laden und seine Straße entlang.

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