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Kapitel 8
ОглавлениеSie saßen in einer Ecke im Vorderbereich des 21 Club in zwei großen roten Ledersesseln neben dem offenen Kamin. Ein Feuer loderte darin. Die Lounge war voller Menschen, die auf einen Tisch warteten. Von da, wo McCall saß, konnte er einen kleinen, schrägen Ausschnitt des Bar-Restaurants sehen, mit den diversen Kuriositäten, die von der Decke hingen. Das Goodyear-Luftschiff, ein Flugzeug, ein Football, ein Rennwagen mit der Nummer 24 darauf, ein Bauarbeiterhelm und eine alte 45er-Schallplatte, die in Plastik eingepackt war. Sein Lieblingsspielzeug war das Modell einer PT-109, das ein Geschenk an den 21 Club von Präsident John F. Kennedy war.
McCall mochte das Restaurant. Als er nach der Hochzeit mit Cassie mehr Zeit in New York verbracht hatte, war er häufig hierhergekommen. Er erinnerte sich an einen der Oberkellner, Harry, ein netter Kerl. Er hatte sich schon lange zur Ruhe gesetzt. Aber es gab ein paar vertraute Gesichter, die ihn grüßten, und McCall wusste, dass der Barkeeper immer noch derselbe Typ war, der die Drinks schneller und akkurater servierte, als er selbst es jemals können würde. McCall fand das irgendwie tröstlich. Manche Dinge sollten sich nicht ändern. Er erinnerte sich daran, dass man ihn einmal in den Weinkeller mitgenommen hatte, wo es immer noch die Flüstertür gab, die während der Prohibition verwendet worden war. Es war die am besten getarnte Geheimkneipe in New York und die Feds hatten den Raum nie gefunden. Um die Tür zu öffnen, musste man einen 40 Zentimeter langen Fleischspieß in eine der Ritzen in der Kellerwand stecken. Harry hatte es McCall an einem Abend gezeigt. Er fragte sich, ob besondere Kunden weiterhin einen Rundgang durch die Flüsterkneipe bekamen.
McCall betrachtete die Fenster zu seiner Linken, gegen die der Regen prasselte, und er sah ein paar gelbe Taxis vorfahren. Ein paar Leute stiegen aus, die gekleidet waren, als wollten sie essen gehen. Auf dem schmiedeeisernen Geländer im ersten Stock standen eine ganze Reihe prächtig bemalter Jockeyfiguren. Außerdem auch die gesamte Treppe hinab, um die Gäste am Eingang mit den altmodischen Lampen zu begrüßen. Es gab nicht mehr viele Restaurants in New York mit derart viel Geschichte.
Der Hintergrundlärm in der Lounge war beträchtlich, während mehr und mehr Menschen vor dem Unwetter Zuflucht suchten. Aber niemand drang in ihre ruhige Oase vor dem Kamin ein. McCall hielt einen Glenfiddich ohne Eis in der Hand. Cassandra trank einen Wodka-Gimlet. Sie war Ende 40, aber sie sah selbst an schlechten Tagen kaum älter aus als Ende 30. McCall erinnerte sich, dass sie, schon bevor es in Mode kam, fünf Tage die Woche im Fitnessstudio ihr Workout durchgezogen hatte. Ihr Körper war rank und schlank, die Wölbung ihrer Brüste zog in der blassgrünen Seidenbluse die Blicke auf sich. Die langen gebräunten Beine waren unter dem kurzen, dunkelgrünen Rock zu sehen. Graue Schuhe mit niedrigen Absätzen. In New York war man stets meilenweit unterwegs, selbst wenn man kein bestimmtes Ziel hatte. Sie hatte kurze blonde Haare. Noch ohne Grau. Sie war von Angesicht zu Angesicht so wunderschön, wie sie es in seiner Vorstellung war. Ihre Augen waren braun und der Blick unbekümmert. Grüne Einsprengsel, die eiskalt werden konnten, wenn sie einen verhörte. Sie war zehn Jahre stellvertretende Bezirksstaatsanwältin in New York City gewesen. Ihr brauchte niemand dumm kommen. Sie war nahezu penetrant direkt und hatte sich eine Menge Feinde gemacht.
Außerdem war sie verdammt sexy.
Früher hatte sie viel geraucht. McCall fragte sich, ob sie es immer noch tat, aber in der Lounge des 21 Club durfte man natürlich nicht rauchen, genauso wenig wie in jedem anderen New Yorker Restaurant. Wenn es nach Bürgermeister Bloomberg ginge, dann hätte man sogar eine Strafe zahlen müssen, wenn man auf der 5th Avenue eine ansteckte. Aber sie war nervös und er konnte sehen, dass sie dringend eine Zigarette brauchte.
»Was hast du denn so spät bei Scotts Schule gemacht?«, fragte er sie.
»Ich musste ein Mathebuch abholen, das er vergessen hatte, mit nach Hause zu nehmen. An die Aufgaben kommt er nicht übers Internet ran. Er hat morgen einen Test. Sie haben es für ihn im Büro des Schulleiters hinterlegt.«
»Wie läuft’s denn so bei der Staatsanwaltschaft?«
»Kriminelle, Vergewaltiger, Mörder, die üblichen Verdächtigen eben.«
»Arbeitest du immer noch für Jack McCoy?«
Sie lächelte. »Manchmal erinnert mich der Bezirksstaatsanwalt tatsächlich an ihn, abgesehen davon, dass er pechschwarze Haare hat und weniger Sinn für Humor.«
»Kann man sich kaum vorstellen.«
»Er ist tough, aber sehr fair. Er konnte dich nie leiden.«
»Ich hab ihn nur einmal getroffen.«
»War der erste Eindruck. Er sagte, du wirkst wie eine Stange Nitroglyzerin. Farblos, aber jederzeit bereit, zu explodieren.«
»Aber du hast ihm nie gesagt, für wen ich gearbeitet habe.«
»Natürlich nicht. Wie lange bist du schon wieder in New York?«
»Neun Monate.«
»Und die ganze Zeit hast du Scott gestalkt?«
»Ich habe ihn ein paarmal beobachtet. Vom Starbucks auf der anderen Straßenseite gegenüber der Schule. Er hat mich nie gesehen und ich hab mich ihm nie genähert. Ich habe dir versprochen, dass ich mich von ihm fernhalte, und das hab ich getan.«
»Das war ein einfaches Versprechen für dich. Du warst ja nie daheim. Wieso bist du jetzt hier? Schleichen Terroristen durch unsere Hintergärten?«
»Ich suche jedenfalls nicht danach. Ich hab bei der Company gekündigt.«
Überraschung blitzte kurz in ihren Augen auf. »Ich wusste nicht, dass die euch das überhaupt gestatten. Wieso hat Kontrolle dich gehen lassen?«
»Ich hab ihm keine Wahl gelassen.«
»Aber er weiß, wo du bist.«
»Noch vor 48 Stunden hätte ich Nein gesagt.«
»Jetzt bist du nicht mehr sicher?«
»Ich hab einen Fehler gemacht. Ich hab mich in eine Situation eingemischt, aus der ich mich hätte raushalten sollen. Das könnte mich noch in den Arsch kneifen.«
Sie nippte an ihrem Wodka-Gimlet. »Also vor neun Monaten bist du einfach vom Radar verschwunden? Das ist nicht leicht.«
»Nicht wirklich. Nimm einfach einen Geheimagenten und setze ihn irgendwo ab, wo ihn niemand kennt und niemand seine Fertigkeiten braucht, und er wird anonym.«
»Also, was hast du jetzt mit deinem Leben vor?«
McCall hatte darauf keine Antwort. Er sagte nichts.
»Bringt es dich in Gefahr, mit deiner Ex-Frau hier im 21 Club herumzusitzen?«
»Um mich mach ich mir keine Sorgen.«
»Nein. Die Menschen um dich herum sterben nur gerne mal weg.«
Die Worte wurden in einem sachlichen Tonfall gesprochen, aber sie taten weh.
McCall sagte nichts.
Sie klang weiter ungezwungen. »Wird die Company Befehl geben, dass du umgelegt wirst?«
»Kontrolle hätte da auch noch ein Wörtchen mitzureden.«
»Und er ist dein Freund. Vermutlich der einzige, den du je gehabt hast. Vertraust du ihm?«
»Nein.«
»Aber du glaubst, er wird dir den Rücken decken.«
»Ich glaube, mich umlegen zu lassen, wäre nicht unbedingt seine bevorzugte Taktik. Er könnte was anderes vorhaben.«
»Dann müsste er vor ein Komitee treten.«
»Ja. Die fänden vielleicht Gefallen an der Idee, mich erledigen zu lassen.«
»Du warst nie besonders gut, was Komitees angeht«, sagte sie trocken. »Die hatten dich satt. Du warst nicht vorhersehbar.«
»So bin ich am Leben geblieben.«
»Aber du warst nie ein wirklicher Mann der Company. Du hattest manchmal deine eigene Agenda. Ich hab lange genug mit dir gelebt, um das zu wissen. Du hast ihnen vermutlich Angst gemacht. Aber solange du für die Regierung nützlich warst und für dein Land, haben sie dich toleriert. Jetzt hast du dich ihnen widersetzt.«
»Ich bin einfach gegangen«, sagte McCall. »Was ich jetzt mache und wie ich mein Leben lebe, geht die nichts an.«
»Aber mich geht es was an, wenn du im strömenden Regen auf dem Schulhof meines Sohnes stehst. Weißt du, dass ich wieder verheiratet bin?«
»Ja.«
»Er ist Strafverteidiger. Tom Blake. Aber ich bin sicher, das weißt du auch schon.«
»Nur den Namen. Den Mann kenne ich nicht.«
»Er ist charmant und mitfühlend und er lacht gerne. Ich habe mit dir nie so viel gelacht. Ich hab mich warm und glücklich gefühlt. Manchmal. Aber da war immer … Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ein Schatten über uns. Die Company, nehme ich an. Die hat jede Nacht noch finsterer gemacht und jede Geburtstagsparty am Karussell im Central Park mit Scott, und selbst wenn wir gefickt haben. Sorry. Es war, als wärst du eine Sprungfeder unter Spannung, wenn du einen Raum betreten hast oder wenn wir auf der Veranda unseres Strandhauses in Maine saßen und Weißwein getrunken und aufs Meer geschaut haben. Ich bin mir sicher, deine Kollegen waren alle entspannt, haben Golf gespielt, sind zum Barbecue gegangen und haben ihr gefährliches Leben als Routine gesehen. Aber du nicht.«
»Tom bringt seine Arbeit nicht mit nach Hause?«
»Natürlich tut er das. Aber es drängt sich nicht in den Vordergrund. Er war ein echter Vater für Scott in den letzten acht Jahren und ich will nicht, dass diese Beziehung in Gefahr gerät.«
»Ich werde sie nicht in Gefahr bringen.«
Sie nickte langsam. Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen, aber sie streckten nur kurz den Kopf heraus, wie Fremde an einem Ort, an dem sie nicht sein sollten.
»Deswegen bist du gegangen«, sagte sie. »Um uns zu schützen. Aber das hätte unsere Entscheidung sein sollen. Nicht deine.«
»Ich hab eine Entscheidung getroffen.«
»Und nun fragst du dich, ob es die falsche war? Jetzt, wo du wieder ein freier Mann bist?«
McCall antwortete nicht.
»Ich weiß, du hast mich geliebt. Und Scott. Es ist etwas passiert. Etwas, das dafür gesorgt hat, dass du uns verlassen hast. Was war es? Und erzähl mir nicht den üblichen Scheiß, wie das ist geheim, oder das musst du nicht wissen.«
»Nichts Bestimmtes. Nur ein paar kleine Dinge. Die haben sich angesammelt.«
Sie stand auf.
»Ich könnte gerichtlich erwirken lassen, dass du dich uns nicht nähern darfst.«
Wieder dieser sachliche Ton, als würde sie vorschlagen, dass sie zusammen essen gingen.
»Dafür müsstest du wissen, welchen Namen ich benutze. Das tust du nicht. Du müsstest wissen, wo ich wohne. Das tust du nicht. Und das wirst du auch nicht. Wenn wir aus dem 21 Club gehen, dann gehst du einfach direkt wieder dahin zurück, wo du warst, bevor du mich im Regen auf diesem Schulhof gesehen hast.«
»Und wo gehst du hin?«
»Das ist egal. Ich bleibe dir aus dem Weg.«
»Das ist ein Versprechen, das du bisher offensichtlich nicht halten konntest. Jetzt könnte es noch schwerer sein.«
»Weil wir uns gesehen und geredet haben?«
»Ja. Ist es jetzt schwerer?«
»Ja«, sagte McCall.
Sie zog ihren Regenmantel an. »Bleib aus unseren Leben weg, Robert. Komm nicht wieder zu der Schule. Sitz nicht im Starbucks rum und schau unserem Sohn zu. Das ist gruselig. Soweit es mich angeht, bist du derselbe Mann, der uns aus irgendeinem Grund verlassen hat. Es ist zu gefährlich, mit dir zusammen zu sein.« Dann in ruhigerem Ton: »Aber es war sehr schön, dich mal wiedergesehen zu haben.«
Sie nahm ihre Tasche und verließ das Restaurant.
McCall trank den Scotch aus. Er legte das Geld auf den Tisch, nahm seinen Mantel und schüttelte beim Gehen ein paar Hände am Eingang.
Der Mann auf dem letzten Stuhl am anderen Ende des Bar Room Restaurant sah zu, wie McCall ging, zahlte schnell seine Rechnung und folgte ihm. Er war ziemlich sicher, dass er nicht bemerkt worden war.
McCall hatte ihn gesehen, sobald er sich in der Lounge des 21 Club mit Cassie hingesetzt hatte. Er ging die 52nd Street entlang und schlug gegen den Regen den Kragen hoch. Er schätze, dass sein Verfolger vermutlich hundert Meter oder so hinter ihm war.
McCall mischte sich unter die Menge vor dem Winter Garden Theater, wo das Stück MAMMA MIA! gerade Pause hatte. Er ging nach drinnen, durch die Lobby, ins Theater, den linken Gang entlang und durch eine Tür neben der Bühne. Backstage war er im Gewimmel der Schauspieler und zum hinteren Bühneneingang wieder draußen, bevor der alte Wachmann überhaupt hochgesehen hatte.
McCall joggte ans Ende der Gasse hinter dem Theater und drehte sich dann erst um. Niemand kam nach ihm aus dem Bühneneingang.
Ablenkung.
Magier taten es ständig. Sie brachten einen dazu, in die andere Richtung zu schauen, während die Magie woanders passierte. Ich mische diese Karten mit der rechten Hand, damit du nicht siehst, wie ich deine Karte in der linken verstecke.
McCall hatte es darauf angelegt, seinen Verfolger abzuschütteln, der ihm zu Fuß vom 21 Club gefolgt war. Er hatte den 65er Pontiac Lemans nicht bemerkt, der vom Parkplatz auf der anderen Straßenseite vom 21 Club gefahren war. Er hatte nicht gesehen, wie er hinter ihm den Broadway entlanggefahren war. Als er in der Menge der Theaterbesucher verschwunden war, die vor dem Winter Garden rauchten, waren die Männer im Pontiac näher an McCall gewesen als sein Verfolger. Sie hatten gesehen, wie er den Zuschauerraum betrat. Der Fahrer dachte sich schon, dass er nicht auf demselben Weg wieder rauskommen würde. Er hatte fälschlicherweise angenommen, McCall habe den Pontiac bemerkt. Er bezweifelte, dass McCall sich hinsetzen und den zweiten Akt des Stücks ansehen würde, auch wenn er selbst es vor einem Jahr gesehen hatte und es super fand. Ein paar Leute, die das sorgenfreie Leben in einem Tropenort genossen, während draußen auf der Straße das Leben brutal war. Aber die Musik war eingängig und man konnte nicht anders, als diese gottverdammten Lieder mitzusummen, wenn man aus dem Theater ging.
Nein, er glaubte, dass McCall einen anderen Ausgang benutzen würde, vermutlich den Hinterausgang des Theaters. Er lenkte den Pontiac neben einen Hydranten. Man musste die Augen offenhalten, wegen der Cops. Er wollte keinen Strafzettel kriegen oder schlimmer, mit auf die Wache genommen werden, weil irgendein abgehalfterter Cop ihn erkannte. Er hatte eine saubere Weste und einen gewissen Ruf, aber nicht in diesem Viertel.
Sie wurden fünf Minuten später belohnt, als er McCall auf der 8th Avenue sah. Er war die 50th entlang zur 7th Street gegangen. Ein Segen. Sie hätten ihm nicht die 8th runter folgen können; der Verkehr ging Richtung Uptown. McCall war nach Downtown unterwegs. Es regnete immer noch in Strömen, die Sicht war erheblich eingeschränkt und der Fahrer erwartete, dass er sich in einem Türeingang unterstellen würde, bis der Wolkenbruch ein wenig nachließ, oder dass er die U-Bahn nehmen würde, aber das tat er nicht. Er ging einfach weiter. Der Pontiac folgte ihm. Der Fahrer hatte ein wenig Probleme beim Steuern, aber er kam schon klar, danke der Nachfrage.
McCall überquerte den Broadway an der 44th Street und ging weiter. Block um Block, Richtung Village, bis er die Broome Street kreuzte. Sie hätten ihn da beinahe verloren, denn ein Wagen von der Straßenreinigung kam aus einer Gasse direkt vor ihnen. Der Fahrer umrundete ihn. Wieso holten die eigentlich um die Zeit den Müll ab? Er brauchte einen Moment, um sein Ziel wiederzufinden, aber er war immer noch auf dem Broadway. Dann steuerte er schließlich nach links in Richtung Grand Street. Dann direkt nach rechts auf die Crosby Street. Der Fahrer bog um die Ecke. Vor ihm blieb sein Ziel vor einem dreistöckigen Klinkerbau stehen. Der Fahrer parkte in zweiter Reihe. Er musste nicht lange warten. Durch die regenüberströmte Windschutzscheibe sah er, wie sein Ziel den Schlüssel benutzte, um ins Gebäude zu kommen. Er brauchte ein paar Sekunden, um die Treppen hochzusteigen – er war sicher, dass da drin kein Aufzug war –, und das Licht ging in einem der Fenster im dritten Stock an. Vermutlich das Wohnzimmer. Er wusste, dass die Apartments in diesen alten Ziegelsteinbauten renoviert worden waren. Einige wirklich geschmackvoll. Schon bald würde er das Innere der Wohnung im dritten Stock sehen.
Hinter ihm rutschten die beiden Brüder auf den Rücksitzen hin und her, weil es ihnen unbequem war. Big Gertie wog 160 Kilo und hatte sich mehr oder weniger in den Wagen gefaltet. Vermutlich gefiel ihm diese kleine Stadtrundfahrt im Schneckentempo ganz und gar nicht. Aber das war in Ordnung. Die Nacht war ein voller Erfolg gewesen.
J. T. wusste, wo Bobby Maclain arbeitete.
Nun wusste er auch, wo er wohnte.
Das Büro lag im Dunkeln. So mochte es Kontrolle. Er war erschöpft. Sie waren um 6:30 Uhr mit einem Flug von Turkish Airlines vom International Airport Scheremetjewo in Moskau losgeflogen und in Dulles in D. C. um 19:30 Uhr gelandet. Er war um etwa 20:30 Uhr bei dem Gebäude in Virginia angekommen. Er saß am Schreibtisch, der Bildschirm des Mac leuchtete im Schatten. Ein diskretes Klopfen an der Tür und seine Chefassistentin kam herein. Ihr Name war Emma Marshall; sie war Britin, Ende 20, bildhübsch, versuchte jedoch, diese Tatsache hinter einer getönten Brille zu verstecken. Die blonden Haare hatte sie etwas streng zurückgebunden und sie kleidete sich konservativ, stets mit einem Männerhemd und langem Rock, um ihre umwerfende Figur zu kaschieren, womit sie umwerfend erfolglos war. Sie hatte einen verdrehten Sinn für Humor, aber im Moment war die Lage im Büro ein wenig angespannt.
Sein Büro war in einem unscheinbaren Gebäude in einem Bürokomplex in Hemdon, Virginia. In Langley war es nicht als Außenstelle verzeichnet. Es war nirgendwo verzeichnet. Offiziell existierte die »Company« gar nicht. Es handelte sich um sechs achtstöckige Gebäude, die alle gleich aussahen, auf einem sorgfältig gepflegten Gelände. Das Gebäude von Kontrolle war das letzte in dem Industriegebiet, am nächsten am Highway. Man kam zu seinem Büro, indem man in den sechsten Stock eskortiert wurde, durch ein paar winzige Büros hindurch. Sein Büro war das einzige auf dem Stockwerk, das ein Fenster hatte. Nicht weit davon befand sich ein Einsatzraum, der von 40 Analysten besetzt war, die an Computerbildschirmen saßen. Vor ihnen zwei große Leinwände, auf der einen sah man Konfliktherde in verschiedenen Ländern auf der ganzen Welt, auf der zweiten lief ein konstanter Newsfeed von CNN, Fox News, MSNBC, BBC, Al Jazeera und anderen ausländischen Nachrichtensendern.
»Mr. Kostmayer ist hier«, sagte sie mit dem tollen britischen Akzent, den Kontrolle so liebte.
»Schick ihn rein«, meinte Kontrolle.
Sie blieb in der Tür stehen. »Du solltest dir nicht so viele Vorwürfe machen für das, was in Moskau passiert ist. Elena würde das gar nicht gefallen.« Kontrolle sah zu ihr auf. »Wenn du mal darüber reden willst: Briten sind gute Zuhörer. Außer, wenn man mit uns über diese ganze no-taxation-without-representation-Geschichte redet. Wie gefällt dir denn so das Leben ohne Steuern?« Kontrolle konnte nicht anders, als zu lächeln. »Und falls du mal eine Schulter zum Ausweinen brauchst, meine ist gut gepolstert.«
Kontrolle sah unwillkürlich auf ihre rechte Brust und Schulter und bemerkte das verschmitzte Grinsen, das stets ihre Lippen zu umspielen schien. »Schick Mr. Kostmayer rein.«
Emma verschwand. Kostmayer kam in den abgedunkelten Raum und schloss die Tür hinter sich.
»Sieh dir das mal an«, sagte Kontrolle.
Kostmayer kam um den Schreibtisch herum, stützte sich darauf und sah Kontrolle über die Schulter. Auf dem Computerbildschirm war das zu sehen, was sie auf dem USB-Stick gefunden hatten, den Elena von Alexei Berezovsky geklaut hatte. Es war ein Diagramm von langen, sich windenden Schlangen, die sich an manchen Stellen überschnitten, wobei mehrere hervorgehoben waren. Unten war ein Rechteck und oben ein Quadrat. Einige der Tunnel – wenn es welche sein sollten – waren blau eingefärbt. Das war alles. Keine Zahlen, keine Buchstaben, keine verschlüsselten Botschaften.
»Es sieht aus wie eine Reihe unterirdischer Tunnel«, sagte Kostmayer.
»Das könnte überall sein. Sehen wir uns ein Diagramm von Tunneln in einer Stadt in den USA an oder von einer in Europa? In Nahost? Irgendwo in China? Und was für Tunnel? Unterirdische Durchgänge? Das wissen wir nicht. Das könnte auch ein Labyrinth in einem Maisfeld sein. Es könnten Gänge in einem großen Lagerhaus sein. Es gibt eine Route durch das Labyrinth, die von einem Rechteck zu einem Quadrat führt. Punkt A zu Punkt B. Ich muss wissen, was bei Punkt A und was bei Punkt B ist.«
»Sonst war gar nichts auf dem USB-Stick?«
»Die Computertechniker untersuchen ihn, aber bisher ist das alles, was wir haben.« Kontrolle lehnte sich zurück und brachte ein wenig Abstand zwischen sich und den blass leuchtenden Bildschirm mit den sich kreuzenden Linien. »Nicht gerade viel im Tausch gegen Elenas Leben, oder?«
»Sie kannte das Risiko.«
»Ich war ihr Kontrolloffizier im Einsatz. Ich habe das persönlich übernommen, weil ich an sie geglaubt habe. Ich wollte mir außerdem selbst etwas beweisen. Dass ich es immer noch drauf hatte, einen Agenten im Einsatz anzuleiten und nicht nur von hinter einem Schreibtisch. Ich hab’s versaut. Ich hab das Risiko nicht richtig eingeschätzt.«
»Manchmal hat man einfach keine Chance, egal wie gut man vorbereitet ist.«
»Dann muss man die Chancen verbessern.«
»Bezerovsky war uns einen Schritt voraus.«
»Es war mehr als das. Es war ein Test. Er hat seinem neuen Killer einen schnellen Auftrag zuschanzen wollen. Vermutlich hatte er nicht mehr als 20 Minuten für die Entscheidung gehabt, den Einsatzbefehl zu geben. Der Killer hat den USB-Stick nicht geborgen. Das war der Hauptpreis, auch wenn Berezovsky wusste, dass nichts darauf war, was irgendwem außer ihm selbst etwas gesagt hätte. Aber der Killer hat Berezovskys Test bestanden. Das Ziel wurde eliminiert.«
»Nicht sauber.«
»Nein. Wieso hat der Killer nicht den entscheidenden Schuss angebracht? Elena hätte uns Sachen sagen können, die seinen Boss in Schwierigkeiten bringen. Wieso hat er sie nur verwundet?«
Kostmayer zählte die Gründe an seinen Fingern ab. »Wind. Wenig Sicht bei dem Sturm. Er hat uns kommen hören und den Schuss übereilt.«
»Nicht, wenn er ein Profi ist. Da ist noch was anderes. Was Persönliches. Haben wir irgendwelche Infos über den Kerl?«
»Vermutlich ein Codename. Diablo. Die Station in Bosnien hat ihn erwähnt.«
»Mir sagt der Name nichts.«
»Er sagt niemandem was. Wir durchsuchen gerade die Datenbanken von Interpol. Vielleicht ist es gar nicht derselbe Typ. Aber wenn er Berezovskys Test bestanden hat, was passiert dann als Nächstes?«
»Ein Anschlag. Das ist Berezovskys Geschäft.«
»Haben wir eine Ahnung, auf wen?«
»Einen Politiker auf oberster Ebene. Vielleicht der Präsident oder jemand aus dem Kabinett. Könnte einer unserer Botschafter sein. Unsere Aufklärungsdaten sagen, dass es ein amerikanisches Ziel ist. Und bei Berezovsky bekommt man alles, wie in einem Supermarkt. Wenn man eine Terroristenzelle führt oder einen Coup im eigenen Land plant oder man der CEO einer großen Firma ist, der die Konkurrenz loswerden will, dann liefert Berezovsky das Scharfschützengewehr oder die Bombenbauteile, er heuert den Attentäter an oder die Selbstmordbomber. Die Mission wird plangemäß erfüllt und er stopft alle Löcher.«
»Haben wir einen Zeitrahmen?«
»Noch nicht.«
»Zu dumm, dass wir McCall nicht haben. Er und Berezovsky sind sich schon mal über den Weg gelaufen.«
»Ich will McCall zurück.«
»Der bleibt lieber untergetaucht.«
Kontrolle stand auf und trat an das dunkle Fenster. Der Mond schien nicht. Er sah hinaus in den Regen, der über den glitzernden Highway und die Zubringerstraße fegte. Die Zweige der Bäume waren schwarze Silhouetten, die sich im Wind beugten.
»Meine Tochter Lindsay wird im Juni 24. Sie ist nur vier Jahre jünger als Elena. Lindsay arbeitet für die französische Botschaft hier in D. C. Soweit alle wissen, arbeitet ihr alter Herr in irgendeiner bürokratischen Behörde auf niedriger Regierungsebene, spielt oft Golf und trinkt 40 Jahre alten Strathisla Single-Malt-Whisky im Capitol Grill. Aber was, wenn da draußen irgendwelche Informationen im Umlauf sind, die sie mit einem hochrangigen Spion in Verbindung bringen? Wie soll ich da noch nachts schlafen, wenn ich ihr Leben in Gefahr gebracht hätte?«
»McCall ist schon seit Jahren von seiner Familie entfremdet. Niemand weiß, dass es sie überhaupt gibt.«
Kontrolle nahm sein iPhone raus, tippte auf ein paar Buttons und warf es Kostmayer hin. Auf dem LED-Display sah man das Foto eines Mannes, der mit einer attraktiven Blondine Mitte 40 im 21 Club saß. Der Mann hatte der Kamera den Rücken zugewandt.
»Das wurde heute Abend mit einem Smartphone im 21 Club in New York City aufgenommen. Man kann das Gesicht des Mannes aus diesem Winkel nicht sehen. Die Frau, mit der er zusammensitzt, ist eine stellvertretende Bezirksstaatsanwältin namens Cassandra Blake. Sie ist McCalls Ex-Frau.«
»Also trinkt sie ein paar Cocktails mit ihrem neuen Mann.«
»Ihr Mann ist ein Strafverteidiger namens Tom Blake, der gerade einen Mafiainformanten in Philadelphia verhört. Er kommt nur am Wochenende heim.«
»Okay, es ist ein Kollege von der Arbeit.«
»Oder es ist Robert McCall.«
»Der sich nach dem sehnt, was er vor all den Jahren verloren hat? Das scheint mir nicht typisch für McCall.«
»Du weißt nicht, was er tun oder nicht tun würde. Glaubst du, du hättest McCall gut gekannt? Überdenk das noch mal. Niemand hat ihn gekannt. Ich will, dass du morgen früh nach New York fliegst. Wenn er sich bei Leuten von früher meldet, dann will ich nicht, dass er das mit Elena Petrova von jemand anderem erfährt. Du hast ihr dein Wort gegeben.«
»Er hat mit diesem Leben nichts mehr zu tun.«
Kontrolle wandte sich vom Fenster ab. »Dem entkommt man nicht so leicht. Die Vergangenheit ist nie einfach vorbei. Sie wirkt auf die Gegenwart. Sie wird Teil deiner Zukunft.«
»Also findet er es heraus. Von mir oder von jemand anderem. Er kann deswegen nichts unternehmen.«
»Wir reden hier von Robert McCall.«
Stille, dann nickte Kostmayer.
»Okay.«
»Wenn wir McCall gefunden haben, will ich, dass du dich mit ihm in Verbindung setzt. Bring ihn zurück. Bevor er diesen Attentäter verfolgt oder der Killer sein Scharfschützengewehr auf dem Dach gegenüber von McCalls New Yorker Apartment aufbaut. Wer zur Hölle er auch ist.«
»Wieso sollte der Schütze hinter McCall her sein?«
»Elena Petrova hatte eine Beziehung mit ihm. Berezovsky stopft gerne alle undichten Stellen. Und er weiß, zu was McCall in der Lage ist.«
Kostmayer nickte und trat an die Tür.
»Und Mickey …«
Kostmayer öffnete die Tür und drehte sich um. Es war spät, nur eine Handvoll Analysten arbeitete noch in den Büronischen vor Kontrolles Büro. Es herrschte erwartungsvolle Stille. Wie wenn man den Donner in der Luft schon riechen kann, aber der Sturm noch nicht losgeschlagen hat.
»Sag ihm, es tut mir sehr leid, dass sie in meinen Armen gestorben ist«, Kontrolle setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und starrte auf das Labyrinth aus Tunneln oder Durchgängen, die nirgendwohin führten.
Kostmayer schloss behutsam die Tür.