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Kapitel 8
ОглавлениеSieben Leute waren vor der Intensivstation versammelt. Zwei davon waren uniformierte Polizisten des NYPD. Zwei waren Frauen aus Lateinamerika, eine Ende dreißig, schätzte McCall, die andere Anfang vierzig. Diese hatte einen fünfjährigen Jungen an der Hand. Neben ihnen stand eine junge blonde Frau um die zwanzig, die einen Leinenrucksack trug, auf den NYPD – CSI Unit gestickt war. Sie wartete geduldig. Ein Mann Ende dreißig redete gerade leise mit der jüngeren der beiden hispanischen Frauen. Er trug einen dunklen Anzug, eine schmale, rot gestreifte Krawatte und schwarze Schuhe. Fehlte nur noch der Trenchcoat. McCall erkannte sofort, dass er ein Detective war. Er hatte nämlich diese selbstsichere Kenn-ich-alles-schon-Einstellung, aber ohne den weltmüden Zynismus dabei. Er war groß, hatte kurz geschnittene, grau melierte Haare, hohe Wangenknochen und tief in den Höhlen liegende graue Augen. Seine Stimme war tief und rauchig und McCall zweifelte, dass er sie oft erhob.
Die jüngere hispanische Frau sah auf, als McCall und Cassie hereinkamen. Ihre schrille Stimme durchschnitt sofort das halblaute Gemurmel in der Krankenstation. »Ist er das?«
Im nächsten Moment kam sie auf McCall zugestürzt, als wolle sie ihm mit ihren langen roten Fingernägeln die Augen auskratzen. Doch einer der uniformierten Officer packte sie und hielt sie zurück.
Der Detective trat jetzt vor und erwischte ihren Arm. »Mrs. Reyes, lassen Sie mich das machen.«
»Aber er hat versucht, meinen Jungen zu ermorden!«, schrie sie. »Er hat ihm die Nase gebrochen und den Wangenknochen! Gott weiß, wie viele Zähne er ihm ausgeschlagen hat. Julios Gesicht ist gar nicht mehr wiederzuerkennen.«
»Ich kümmere mich schon darum, Sofia«, erwiderte der Detective. Dann sagte er etwas sanfter: »Okay?«
Sie versuchte zu Atem zu kommen, keuchte aber nur, als sie nickte. Der uniformierte Officer ließ sie nun los. McCall hatte nicht einmal gezuckt.
»Sie müssen jetzt ins Wartezimmer gehen«, sagte der Detective. »Eine Schwester wird zu Ihnen kommen, sobald es Neuigkeiten von Ihrem Sohn gibt.«
Der uniformierte Officer führte Sofia Reyes daraufhin die Station entlang.
»Ich gehe mit.« Cassie folgte der Mutter und dem Cop den Gang hinab. Die ältere hispanische Frau, deren Name Anita Delgado lautete, ließ die Hand ihres Sohnes jetzt los und trat vor. Ihre Reaktion war das genaue Gegenteil von der von Sofia Reyes. Sie war äußerst ruhig und von noch intensiverem Schmerz gezeichnet.
»Sie haben meinem Sohn Alejandro Tränengas in die Augen gesprüht«, sagte sie zu McCall. »Er ist erblindet, hat eine Gehirnerschütterung und sein Arm ist an zwei Stellen gebrochen. Was sind Sie nur für ein Tier? Und Sie sagen, dass Sie das alles im Namen der Gerechtigkeit getan haben, Mr. Equalizer?«
Sie hatte drei Schritte auf McCall zugemacht und spuckte ihm jetzt ins Gesicht.
Der zweite Uniformierte machte einen Satz nach vorn, aber sie winkte ab.
»Ich werde jetzt nach Sofia sehen.«
McCall wischte sich die Spucke mit einem Taschentuch von der Backe. Die hispanische Frau streckte die Hand aus und der fünfjährige Junge rannte zu ihr. Der zweite uniformierter Officer geleitete sie von der Station.
Der Detective schob die Jacke zurück und zeigte ihm so die Dienstmarke, auf der City of New York – Detective stand und die an seinem Gürtel befestigt war. Unter dem Dienstwappen stand in Goldlettern die Nummer sieben.
»Detective First Grade Steve Lansing, siebter Precinct. Und Sie sind also Robert McCall … der Equalizer.« McCall sagte nichts. »Sie operieren angeblich seit ein paar Wochen auf den Straßen unseres Bezirks. Wir wussten zwar nicht genau, wer Sie sind, aber wir haben Ihre Karte schon mal gesehen. Das sind nämlich nicht die ersten Gangmitglieder, die Sie zusammengeschlagen haben. Diese Jungs hätten Sie allerdings fast getötet.«
»Das war ich nicht.«
Detective Lansing wandte sich an die Frau vom CSI. »Zeigen Sie ihm die Karte, Catelyn.«
Catelyn zog hautenge OP-Handschuhe an und holte einen kleinen Polyethylen-Beutel aus ihrem Segeltuchrucksack, dann fischte sie eine Visitenkarte heraus und hielt sie ihm vor die Nase. »Fassen Sie sie aber nicht an.«
McCall betrachtete die graue Karte. Er sah das Bild der schattenhaften Gestalt in der dunklen Gasse, die vor einem Jaguar stand, die Waffe in der Hand und die Skyline von New York im Hintergrund. Die Worte Justice is here standen über der Gestalt und darunter The Equalizer.
»Meine Kollegin würde gern eine DNA-Probe von Ihnen nehmen, Mr. McCall«, sagte Detective Lansing. »Dann können wir überprüfen, ob sie mit der DNA auf der Karte übereinstimmt.«
»Das wird sie nicht.«
»Dann haben Sie also nichts dagegen, wenn wir einen DNA-Abstrich machen? Sofort … hier und jetzt?«
»Nein.«
Die CSI-Technikerin streifte ihren Rucksack von der Schulter, steckte die graue Karte wieder in die schützende Polyethylen-Hülle und holte anschließend einen einfachen Q-Tipp aus dem Rucksack. McCall öffnete den Mund und sie strich damit ausgiebig über seinen Gaumen, bevor sie den Q-Tipp in eine schützende Plastikhülle steckte.
»Danke, Catelyn«, sagte Detective Lansing.
Die Blonde nickte kurz, zog die Handschuhe aus und packte alles wieder in den Rucksack. Dann warf sie ihn über die Schulter und ging fort.
»Es gibt ein Wartezimmer im nächsten Stockwerk, wo wir uns in Ruhe unterhalten können«, sagte Lansing.
Sie gingen die Station entlang, und drückten ein paar Doppeltüren auf, die zu einer Reihe von Aufzügen führten.
»Ich habe regelmäßig mit der stellvertretenden Bezirksstaatsanwältin Cassie Blake zu tun. Sie war diejenige, die zu mir kam und mir sagte, dass sie glaube, dass dieser Equalizer ihr Ex-Mann sei. Nachdem Julio und Alejandro letzte Nacht in die Notaufnahme gebracht wurden, hat der behandelnde Arzt Ihre Karte in Julio Reyes Hemdtasche gefunden und daraufhin den siebten Precinct angerufen.«
»Ich verteile aber keine Karten.«
»Aber Sie haben eine Anzeige als Equalizer in der Zeitung geschaltet, oder? Jemand, der für andere Selbstjustiz übt?«
»Ich helfe Menschen, wenn es sonst niemand tut. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich Selbstjustiz übe.«
»Sie halten sich dabei also stets an Recht und Gesetz? Und wenn Sie Zeuge illegaler Vorgänge werden würden, würde Sie das dann die Polizei erledigen lassen?«
»Nicht unbedingt«, murmelte McCall.
»Es ist mir egal, wie Sie Ihre Handlungen rechtfertigen, doch soweit es das NYPD und Bezirksstaatsanwältin Blake betrifft, sind Sie lediglich ein Zivilist, der die Gerechtigkeit in die eigenen Hände nimmt, und das ist gegen das Gesetz. Verstehen wir uns da?«
»Verhaften Sie mich jetzt, Detective Lansing?«
McCall und Lansing gingen das Treppenhaus aus Beton hinab und ihre Stimmen hallten von den Wänden wider.
»Nein. Aber Sie dürfen New York nicht verlassen, bis wir sicher sind, dass diese beiden jungen Männer es aus der Intensivstation herausschaffen. Wir wissen, dass Sie Alejandro kein Tränengas in die Augen gesprüht haben, das war das Opfer, das er vergewaltigen wollte, Megan Forrester. Sie hat letzte Nacht auf dem Revier ausgesagt und kam anschließend hierher und hat beide Angreifer identifiziert.«
Sie erreichten nun das Erdgeschoss, drückten eine Tür auf und gelangten in einen keimfreien Korridor. Ein Pfleger in Dienstkleidung schob ein Krankenbett an ihnen vorbei, auf dem ein gebrechlicher alter Mann lag, der an einem Tropf hing, der seinem ausgemergelten Körper wahrscheinlich ein wenig Leben einhauchen sollte.
»Wer sind diese jungen Männer?«, fragte McCall.
»Sie gehören zu einer Gang auf der Lower East Side namens White Jaguars, und sind beide absoluter Abschaum. Die hätten Megan Forrester ohne mit der Wimper zu zucken, vergewaltigt und vielleicht sogar umgebracht, wenn nicht irgendjemand eingegriffen hätte. Dieser gute Samariter hat also vermutlich ihr Leben gerettet, aber die beiden Gangster danach fast totgeschlagen, und das wird in meinem Revier nicht noch einmal passieren.«
Sie erreichten nun die Lobby.
»Diese Verbrecher sind der letzte Abschaum, aber sie haben trotzdem Rechte«, sagte Detective Lansing. »Und diese müssen geschützt werden.« McCall wartete, denn da kam bestimmt noch was. Lansing sah sich kurz um, seufzte und sagte dann: »Hören Sie, manchmal würde ich mir wünschen, dass es tatsächlich einen Schutzengel da draußen auf den Straßen gäbe, der uns hilft, aber ich kann das offiziell einfach nicht billigen. Verstehen Sie?«
»Ja.«
»Wenn Ihr DNA-Test also negativ ist, werden wir nach diesem Typen suchen.«
»Der bleibt garantiert im Schatten. Den werden Sie nicht finden.«
»Aber Sie werden es?«
»Ich habe zumindest Methoden, die die Polizei nicht hat, und ich mache mir keinen Gedanken um Regeln.«
»Sie brechen sie einfach.«
»Ich breche dafür aber nie meine Regeln.«
Lansing holte eine Visitenkarte aus der Jackentasche und gab sie McCall. »Wenn Sie diesen Möchtegern-Equalizer finden, rufen Sie mich sofort auf dem Revier oder unter meiner persönlichen Handynummer an, die auf der Rückseite steht.«
»Wenn ich ihn finde, lasse ich es Sie wissen.«
»Wird er denn dann noch atmen?«
»Vielleicht.«
McCall verließ das Krankenhaus.
Cassie Blake wartete am Straßenrand auf ihn.
»Ich glaube nicht, dass du diese beiden Latino-Jungs halb totgeschlagen hast«, sagte sie leise. »Das ist einfach nicht dein Stil. Ich habe uns ein Uber gerufen. Du kannst am Liberty Belle Hotel aussteigen.«
»Ich muss vorher noch woanders hin.«
»Equalizer-Geschäfte?« McCall reagierte nicht auf ihren Sarkasmus. »Dein neues Alias wird dich noch ins Gefängnis bringen oder umbringen.«
Eine Limousine fuhr vor. Cassie stieg ohne ein weiteres Wort auf den Rücksitz und das Uber fuhr in den dichten Verkehr. McCall dachte über die beiden jungen Männer nach, die Megan Forrester angegriffen hatten. Er hätte sie auch aufgehalten, wenn sie versucht hätten, die Frau zu vergewaltigen oder umzubringen, aber er hätte es zu seinen Bedingungen getan. Er würde herausfinden, wer dieser anonyme Rächer war, und er würde ihn aufhalten.
Bevor noch mehr Menschen in seinem Namen verletzt wurden.
Helen Coleman starrte auf die Pistole.
Wenigstens war diese nicht auf sie gerichtet.
Sie war eine attraktive Brünette Anfang sechzig, sah aber aus, als habe sie mit vierzig einfach zu altern aufgehört. Sie hatte einige Lachfältchen um die haselnussbraunen Augen herum, aber diese passten gut zu ihr. Ihre Haare waren lang und fielen ihr bis auf die Schultern. Sie trug sie stets offen, denn ihrer Meinung nach gab ihr das einen nonchalanten Look, was durchaus ein Vorteil war, wenn man es mit Diplomaten aus hundertdreiundneunzig Ländern und verkrampften Regierungsbürokraten zu tun hatte. Sie trug einen fuchsiafarbenen Wollblazer von Christian Dior und einen dazu passenden Rock. Ihre Figur war absolut umwerfend, aber sie hielt sie meist sorgsam bedeckt, aus Rücksicht auf ihre Position. Denn sie arbeitete für den Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen. Sie engagierte sich leidenschaftlich für ihren Beruf, was ein Vorteil war, denn er kostete sie all ihre Zeit. Vor fast dreißig Jahren hatte sie sich von ihrem ersten Ehemann scheiden lassen und vor zehn Jahren von ihrem zweiten. Sie hatte zwei Söhne und eine Tochter, außerdem eine Handvoll Freunde, die sie nicht häufig sah. Sie war einfach zu beschäftigt für ein Privatleben.
Sie aß niemals in der UN-Cafeteria im Gebäude des Generalsekretariats, auch wenn diese eine spektakuläre Aussicht auf den East River bot. Lieber saß sie auf einer Bank vor dem Besucherzentrum und verzehrte ihr eingepacktes Mittagessen, das sie selbst zubereitete, bevor sie ihr prächtiges Haus im Kolonialstil am Ufer des Navesink River in Red Bank, New Jersey, verließ. Es dauerte über eine Stunde, bis sie früh am Morgen mit dem Pendlerzug in der Penn Station in Manhattan ankam, dennoch konnte sie pünktlich um halb neun an ihrem Schreibtisch im Gebäude des Generalsekretariats sein. Heute hatte sie ein Sandwich aus Roggenbrot mit Thunfisch und Käse, einen kleinen grünen Salat und einen Balance-Energieriegel mit Mandeln und Schokolade dabei. Wie gewöhnlich strömten jede Menge Touristen durch den Sicherheitseingang hinaus auf den Platz. Helen mischte sich gern unter sie, denn das waren die gewöhnlichen Menschen, die sie schützen wollte.
Die Waffe stand auf einem Podest. Es war ein riesiger Colt Python, Kaliber .357 Magnum, dessen Lauf zu einem Knoten verschlungen war, der harmlos in den Himmel hinaufzeigte. Er war von dem verstorbenen schwedischen Bildhauer Fredrik Reuterswärd geschaffen worden, inspiriert durch den Tod seines Freundes John Lennon, der 1980 erschossen worden war. Luxemburg hatte ihn 1988 der UN geschenkt. Helen beobachtete, wie ein chinesischer Teenager nach oben griff und die Hand um den Abzug der Waffe legte, als könne er sie abfeuern. Seine Freunde machten jede Menge Bilder mit ihren Smartphones davon.
Vielleicht kommt die Friedensbotschaft der Skulptur nicht bei jedem an, dachte sie mit trockenem Humor.
Sie packte jetzt ihr Thunfischsandwich mit dem geschmolzenen Käse aus. Ihr LG-Smartphone vibrierte genau in diesem Moment auf ihrem Schoß. Aus irgendeinem Grund musste sie dabei an einen Witz von Jay Leno denken, den er in seiner Zeit bei der Tonight Show erzählt hatte: Neulich hat man eine Umfrage gemacht und vierundzwanzig Prozent der Frauen sagten, sie würden auch beim Sex ans Handy gehen. Pause. Die anderen sechsundsiebzig Prozent lassen es einfach vibrieren. Als das Gelächter einsetzte, sagte er: Also, Leute, Leute …
Helen ging dran, denn Josh hatte ihr versprochen, er würde sie Punkt 12:20 Uhr anrufen. In Syrien war es schon sieben Stunden später, also 19:20 Uhr.
Er war allerdings etwas spät dran.
Joshs Gesicht erschien jetzt strahlend auf dem LED-Display. Er hatte sein iPad auf dem Schreibtisch in irgendeinem großen farblosen Raum aufgestellt. Er war von Armeeangehörigen umgeben und sie sah eine große weiße Tafel mit Daten, die sie nicht verstand und blauen Linien, die sich überkreuzten. Darüber waren grobkörnige Bilder von Terroristen befestigt, die wahrscheinlich aus Überwachungskameras stammten. Josh hielt ein kleines Schwarz-Weiß-Foto in den Händen. Er sah erschöpft aus und seine Uniform war zerknittert und staubig, aber er lächelte und sagte: »Hey, Mom.«
»Was ist passiert?«, fragte sie sofort.
»Wir haben einer YPG-Miliz in einem Dorf namens ath-Thaura geholfen. Wir mussten die Dorfbewohner evakuieren, wurden aber von einer Dschihadisten-Patrouille schwer getroffen.«
»Wie viele Opfer?«
»Sechsundzwanzig Dorfbewohner, vierzehn Tote, der Rest schwer verwundet. Ich habe auch einen Streifschuss an der Stirn abgekriegt, darauf starrst du vermutlich gerade, aber du weißt ja, was ich für einen Dickschädel habe. Hat kaum einen Kratzer hinterlassen.«
»Wo bist du jetzt?«
»Unser Hauptquartier befindet sich in einem Haus in ar-Raqqa.«
Colonel Michael G. Ralston erschien nun ebenfalls auf dem Display des LG. »Hey, Helen.« Er lächelte. »Du siehst toll aus.«
»Ich dachte, du deckst meinem Sohn den Rücken, Gunner.«
»Das hat er«, verteidigte ihn Josh. »Wenn er mich nicht hinter einen umgedrehten Obstkarren auf dem Marktplatz gezerrt hätte, hätte die Kugel mehr hinterlassen als nur eine Narbe.«
»Es war ein paar Minuten lang die Hölle los«, erklärte Gunner. »Die feindliche Patrouille wurde überrascht. Sie hatten keine Ahnung, dass sich eine syrische Rebellentruppe im Dorf befand.«
»Und was habt ihr dort gemacht? Ich dachte, ihr beobachtet nur.«
Gunners breites Lächeln erschien wieder, aber es reichte nicht bis zu seinen Augen. »Wir haben beobachtet. Zumindest eine Weile.«
Josh gab Gunner jetzt ein Foto.
»Ist das unser Mann?«, fragte dieser ihn.
»Ja, das würde ich sagen.«
Gunner nickte und sah wieder auf das iPad. »Ich lasse dich jetzt mal mit deinem Sohn reden, Helen. Wir haben nämlich in fünf Minuten eine Einsatznachbesprechung.«
Er ging, doch im Hintergrund hörte man weiterhin Stimmengemurmel. Helen war froh, dass sie nicht verstehen konnte, was genau besprochen wurde. Denn ihre ganze Welt drehte sich um das Konzept des Friedens. Die Realität des Krieges zu sehen – besonders, wenn ihr ältester Sohn daran beteiligt war – machte sie immer noch fassungslos.
»Habt ihr einen der Terroristen gefunden, nach dem ihr gesucht habt?«, fragte sie Josh.
»Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, denn man hat uns gesagt, dass er bei einem türkischen Luftangriff gestorben wäre. Doch vor zwei Stunden hat er offenbar noch gelebt und war wohlauf.«
»Geht es dir wirklich gut?«
»Bestens. Aber ich habe angerufen, um zu sehen, wie es dir geht.«
»Ich bin wie immer mitten in der Löwengrube. Es gab einen Exodus von Tausenden Flüchtlingen, hauptsächlich Frauen und Kinder, aus Dörfern in Nord-Darfur diese Woche. Sie werden jetzt auf unserer UNAMID-Basis in Um Baru untergebracht. Ich stehe bereits in Kontakt mit den örtlichen Behörden dort, aber denen sind Menschenrechtsverletzungen ja bekanntlich scheißegal.«
Josh sagte gespielt tadelnd: »Na was sind denn das für Ausdrücke, Mom?«
»Ja, ich weiß. Doch die Regierung in Darfur hat komplett versagt, wenn es darum geht, die weitverbreitete Straflosigkeit zu beseitigen.«
»Deswegen arbeitest du doch für die UN … um zu versuchen, denen ein wenig Moral einzuimpfen.«
»Was du nicht sagst«, meinte Helen. »Dafür habe ich den ganzen Morgen aber irgendwie nur herumgeschrien, gedrängt und gedroht.«
»Hört sich doch wie ein guter Anfang an. Aber geht es dir gut?«
»Ich habe vor zwei Tagen meine Medikamente abgesetzt, deshalb bin ich nervös, fahrig und habe nicht gut geschlafen.«
»Wieso hast du das denn gemacht?«
»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen davon bekommen. Meinem Kopf ging es heute eigentlich ein wenig besser, bis ich den Streifschuss auf deiner Stirn gesehen habe.«
»Das ist wirklich keine große Sache. Hast du mittlerweile was von Tom gehört?«
»Diese Woche noch nicht. Dein Bruder hat allerdings einen Test in arabischer Kultur und weiß deshalb gar nicht, wo ihm der Kopf steht.«
»Aber er ist immer noch in Istanbul?«
»Natürlich. Er büffelt, als wäre er wieder an der NYU und müsste dort einen Mathetest absolvieren.«
»Hast du vielleicht eine Telefonnummer, unter der ich ihn erreichen kann? Ich würde ihm gern viel Glück wünschen.«
»Aber sicher, ich texte sie dir, wenn wir mit unserem Gespräch fertig sind.«
Gunner war jetzt wieder auf dem Display des LG zu sehen. »Ich muss ihn dir leider abspenstig machen, Helen«, sagte er entschuldigend.
»Okay. Dann ruf mich aber morgen zur selben Zeit an, Josh. Versprichst du es?«
»Wenn ich kann. Aber du musst deine Medikamente wieder nehmen oder du steckst bald in Schwierigkeiten. Tschüss, Mom.«
Das Bild ihres ältesten Sohnes verschwand vom Display. Dass er so weit weg war, und noch dazu innerhalb des Territoriums der Dschihadisten, machte ihr eine höllische Angst, aber sie konnte leider nicht das Geringste dagegen tun.
Helen ließ das Smartphone in ihre Dior-Jacke gleiten, nahm einen weiteren Bissen von ihrem Sandwich und sah wieder zu der verknoteten Waffe hinüber, dem Symbol der Gewaltlosigkeit.
Wenn es nur wirklich etwas bedeutet hätte.