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Kapitel 9

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McCall hatte das vierstöckige Apartmentgebäude an der Ecke 10th Street und Avenue C jetzt erreicht. Eine eiserne Feuerleiter reichte vom dritten Stock mit filigranen Balkonen aus Schmiedeeisen, hinab bis zum ersten. Eine weitere Leiter konnte von dort das letzte Stück bis zur Straße hinabgelassen werden. Zehn Sandsteinstufen führten zu einer hölzernen Wohnungstür hinauf. Zwei große Blumentöpfe aus Beton flankierten die beiden Seiten der Treppe, aber die Pflanzen waren offenbar schon lange verwelkt, vermutlich zur selben Zeit als die Pittsburgh Pirates das letzte Mal die World Series gewonnen hatten. Sechzehn schwarze Müllsäcke standen vor dem Gebäude am Straßenrand aufgereiht. Sie alle waren aufgerissen und ein Teil des Mülls war auf dem Gehweg verteilt worden.

McCall stieg langsam die Stufen hinauf. Die Vordertür war nicht verschlossen. Er trat in einen engen Flur, der nach Katzenpisse, Desinfektionsmitteln und kalter Pizza roch. Es gab keinen Aufzug. Er stieg also die Stufen in den ersten Stock hinauf und klopfte dort an die Tür von Apartment 1B. Ein Fernseher war dahinter zu hören. Schritte kamen an die Tür, ein Schatten verdunkelte kurz das Schlüsselloch, dann wurden vier Riegel geöffnet und die Tür öffnete sich vorsichtig. Die Geräuschkulisse des Fernsehers wurde daraufhin lauter – eine Menge bedrohlicher, donnernder Musik.

In der Tür stand eine Frau mit hellblonden Haaren, Mitte dreißig und nicht unattraktiv. Sie war allerdings ein wenig hager, hatte hellgrüne Augen und volle Lippen. Ihre Haare waren hochgesteckt. Sie trug ein schwarzes Sweatshirt mit der Skyline von New York über einer grauen Jogginghose und blauen Sandalen.

»Sie müssen der Equalizer sein.« Sie holte tief Luft. »Es würde sonst niemand an meine Tür klopfen, der so aussieht wie Sie. Ich bin Linda Hathaway. Bitte kommen Sie doch herein.« McCall trat in den Flur des Apartments. »Wie soll ich Sie nennen? Ich kann ja schlecht Mr. Equalizer zu Ihnen sagen.«

»Mein Name ist Robert McCall.«

»Ich habe meine Tochter gerade aus der Kindertagesstätte abgeholt und der Babysitter wird in weniger als einer Stunde hier sein, also habe ich es momentan ein wenig eilig.«

»Arbeiten Sie nachts?«

»Ja, nachts und an den Wochenenden. Kommen Sie bitte mit.«

McCall folgte ihr in ein großes Wohnzimmer, das geschmackvoll, wenn auch mit preiswerten Möbeln eingerichtet war. Auf dem Teppich lag Spielzeug herum und ein blauer Thomas the Tank Engine & Friends-Zug lag umgekippt neben den gelben Schienen. Ein dreijähriger Fratz saß auf dem Boden vor einem Flachbildfernseher und schaute dort einen Cartoon. Darin versteckte sich ein lila Hund in einer dunklen Höhle vor einem riesigen Wolf mit überdeutlich sichtbaren Zähnen.

Das kleine Mädchen sah unbefangen zu McCall hoch. »Sein Name ist Courage, der feige Hund, aber in Wirklichkeit ist er gar nicht feige, er ist sehr mutig.«

»Ich erlaube ihr immer eine Stunde Cartoon Network, bevor ich zur Arbeit gehe«, sagte Linda.

»Wo arbeiten Sie denn?«

»In einem Restaurant in Chelsea. The New York Minute.« Linda schüttelte den Kopf, als er nichts sagte. »Es ist nicht gerade die Art von Restaurant, in das Sie gehen würden. Es ist so viel Fett in der Küche, dass es mich wundert, dass der Laden noch nicht abgebrannt ist.« Sie lächelte plötzlich. »Wow, die würden mich in einer New Yorker Minute feuern, wenn mein Boss das hören würde.«

»Ich werde es ihm nicht verraten.«

»Ich komme mir plötzlich sehr dumm vor, weil ich Sie angerufen habe. Ich glaube gar nicht, dass Sie mir überhaupt irgendwie helfen können … aber ich bin ehrlich gesagt mit meinem Latein am Ende und … ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«

»Was genau ist denn Ihr Problem?«

»Gemma, komm mal hier rüber, okay, Süße? Nur eine Minute.«

Gemma riss sich widerstrebend von ihrem Courage der feige Hund-Cartoon los, stand auf und kam zu ihnen hinüber. Sie trug ein schönes Kleid mit Sonnenblumen darauf und war barfuß.

McCall sah das Problem sofort.

Rote, übel aussehende Bisse waren auf dem Gesicht und den Armen des kleinen Mädchens verteilt. »Das sind Rattenbisse«, erklärte Linda. »Ich habe sie heute Morgen sogar in die Notaufnahme gebracht. Sie haben antiseptische Salbe auf ihre Bisse gestrichen und mir gesagt, dass die Entzündung übers Wochenende verschwinden wird, aber es dauert ewig, bis die Wunden ganz verblasst sind.«

»Ist ihr das schon einmal passiert.«

»Schon zweimal.« Linda wuschelte ihrer Tochter über die Haare. »Danke, Süße. Du kannst weiterschauen.«

Gemma rannte wieder zu ihrem Platz auf dem Boden und sah sich weiter ihre Sendung an. Mit einem Stirnrunzeln bemerkte sie, dass ihr Thomas der Zug umgefallen war und stellte ihn wieder ordentlich auf die gelben Schienen.

»Lassen Sie uns in der Küche weiterreden, wenn das okay ist«, sagte Linda.

McCall folgte ihr in eine helle Küche mit alten Geräten und abgenutzten Schränken. Linda bereitete dort in der Zwischenzeit das Essen für die Babysitterin vor, damit sie es für sich und Gemma nur noch in die Mikrowelle schieben musste.

»Ich habe schon Rattengift verteilt, aber da muss man mit einer Dreijährigen sehr vorsichtig sein. In den letzten sechs Monaten habe ich schon vier riesige Ratten getötet … und ich meine riesige … so wie die aus einem Horrorfilm … und habe sie in den Müll geworfen, aber sie kommen immer wieder.«

»Haben Sie es schon dem Hausmeister gemeldet?«

»Das ist ein fetter, fauler Sack, der mehr Fernsehen guckt als Gemma, vermutlich aber denselben Sender, und er riecht wie eine ganze Brauerei. Er sagt, er hat Fallen aufgestellt, aber ich habe nie welche gesehen.«

»Wem gehört das Gebäude denn?«

»Ich weiß es nicht, irgendeinem Chef einer großen Firma. Ich glaube, dem gehören eine ganze Reihe an Wohnhäusern in Manhattan und Queens. Ich bin sogar schon im Rathaus gewesen und habe dort eine formale Beschwerde eingereicht, aber die haben auch nichts gemacht. Niemand macht irgendwas, weil mein Kind ein paar Rattenbisse hat.« Linda beendete die Essensvorbereitungen und drehte sich zu McCall um. Tränen glitzerten in ihren Augen. »Aber meine Tochter leidet. Die Bisse brennen unheimlich, und ich muss jeden Abend unter ihrem Bett nachsehen und ihr zeigen, dass darunter keine Ratten in Waschbär-Größe sind. Ich habe mit anderen Leuten im Gebäude geredet und sie haben durchaus Verständnis, haben aber alle ihre eigenen Probleme.« Sie bereitete weiter die Teller mit den Käse-Makkaroni und den Schinkensandwiches vor.

»Sind Sie eine alleinerziehende Mutter?«

»Woher wissen Sie das? Kann man das mittlerweile irgendwie riechen?«

»Keine Familienfotos im Wohnzimmer. Kein Ehemann, an den Sie sich gewendet haben.«

»Er hat mich verlassen, kurz nachdem Gemma geboren wurde. Gut, dass er weg ist, aber es war schwer allein.«

»Würden Sie es mir gestatten, dass ich einige Fotos von den Bissen in Gemmas Gesicht und auf den Armen mache?«

»Ja, das ist in Ordnung.«

Linda eilte wieder ins Wohnzimmer. McCall zog das iPhone aus seiner Tasche und folgte ihr.

»Gemma, Süße, kannst du mal eine Minute aufstehen und dich ganz ruhig hinstellen«, bat Linda. »Mr. McCall wird jetzt ein paar Fotos von den furchtbaren Bissen machen.«

Gemma sprang auf und stand etwas unbeholfen da, als wäre sie im Studio eines Modefotografen und als würde ihr das gar nicht gefallen. McCall machte schnell mit dem iPhone mehrere Bilder von ihrem Gesicht und den Armen. Linda hob Gemmas Sommerkleid ein wenig an, damit er Fotos von den Bissen an ihren Beinen machen konnte. Er sah sich die Aufnahmen kurz an und steckte das iPhone dann wieder ein.

»Ich muss jetzt wieder los und Sie müssen das Essen fertigmachen.«

Linda Hathaway geleitete McCall durch den Flur und öffnete die Wohnungstür. Sie sah ihn mit ihren hellgrünen Augen fragend an. »Ich weiß nicht das Geringste über Sie.«

»Sie müssen nur wissen, dass ich Ihnen helfen werde.«

»Wieso sollten Sie unsere Probleme interessieren? Und sagen Sie nicht, weil es irgendjemand tun muss

McCall lächelte. »Jemand muss es aber tun. Stellen Sie in der Zwischenzeit noch mehr Fallen auf, und beruhigen Sie Ihre Tochter, indem Sie abends immer sorgfältig unter ihrem Bett nachsehen. Ich kümmere mich darum!« Er trat in den fahl beleuchteten Korridor.

Doch Linda griff nach seinem Arm und drehte ihn zu sich um. »Tun Sie das wirklich?«

»Ja. Ich melde mich in Kürze wieder bei Ihnen, Linda.«

Als sie die Tür schloss, konnte man ihre Tochter schreien hören, aber McCall glaubte nicht, dass sie von einer weiteren riesigen Ratte angegriffen worden war. Er vermutete eher, dass Courage der feige Hund gerade um sein Leben kämpfte.

McCall wusste nicht, ob ihm ein Blick in die Gasse weiterhelfen würde. Detective Lansing hatte ihm erlaubt, Megan Forresters Aussage zu lesen, aber die Beleuchtung in der Essex Street reichte nicht wirklich in den Tunnel aus Beton hinein. Wenn er in einem Schwarz-Weiß-Detektiv-Film aus den 1940er-Jahren gewesen wäre, mit Bogart oder Robert Mitchum in der Hauptrolle, hätte McCall dort wahrscheinlich ein verlorenes Streichholzbriefchen aus einer eleganten Bar mit einem Namen oder einer Telefonnummer auf der Innenseite gefunden.

Doch es gab kein Streichholzbriefchen.

Dafür bewegte sich allerdings ein Schatten zu seiner Rechten.

McCall wirbelte herum und sah einen jungen Mann aus dem Hintereingang eines Gebäudes stolpern. Er trug eine dunkle Jeans, einen grauen Kapuzenpulli über einem grünen Polohemd und schwarze Adidas Cosmic Boost-Laufschuhe, die so alt waren, dass sie aussahen, als würden sie gleich auseinanderfallen. McCall ergriff den Arm des Mannes, bevor dieser wegrennen konnte. Die Kapuze fiel herunter und entblößte strähniges dunkles Haar, ein schmales Gesicht und einen fusseligen Bart. Er hatte kleine runde Ohrringe in beiden Ohren und ein Piercing in der Oberlippe. Außerdem stank er nach Schweiß, mit dem süßen Aroma von Old Kentucky Bourbon versetzt. Seine Augen und Augenbrauen, waren es allerdings, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Denn die Augen waren von einem so hellen Blau, dass sie beinahe im Dunkeln zu leuchten schienen und die Augenbrauen wirkten wie feines weißes Pulver, das man einfach so wegblasen könnte. McCall ging davon aus, dass die Hautpigmente für braune, schwarze und gelbe Töne fehlten. Aber er hatte nicht alle Merkmale eines Albinos, wenn er sich seine Haare ansah. Die Augen waren blutunterlaufen, als hätte er geweint, aber das war vielleicht immer so. Als er redete, war seine Stimme heiser.

»Ich habe nichts gesehen! Ich habe geschlafen! Ich bin erst aufgewacht, als sie weggelaufen ist. Aber die haben verdient, was Sie mit ihnen gemacht haben!«

»Ich dachte, Sie haben gar nichts gesehen.« Als der Mann nicht antwortete, schüttelte McCall ihn wie eine Lumpenpuppe. »Was haben Sie denn gesehen?«

»Zwei Gangmitglieder, die auf dem Boden lagen.«

McCall zerrte ihn zum Eingang hinüber. Er bemerkte, dass es dort eine Tür gab, die aussah, als wäre sie in diesem Jahrhundert noch nicht geöffnet worden. Eine Sprite-Dose, ein großer Pappkarton und ein paar Zeitungen waren in den Eingang gestopft worden. Außerdem lag dort ein L.L.-Bean-Rucksack aus dem oben eine Gideon-Bibel herauslugte.

»Schlafen Sie hier?«, fragte McCall in einem behutsameren Tonfall.

Der junge Mann nickte eifrig. »Das ist mein Platz! Isaacs Platz! Das weiß jeder. Die lassen mich in Ruhe. Ich tue nämlich keinem was. Ich störe niemanden. Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängstigter Geist. Ein geängstigtes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten

»Glauben Sie, dass ich der Mann bin, der die beiden Gangmitglieder zusammengeschlagen hat?«

Isaac stiegen Tränen in die Augen, aber sie wirkten fremdartig, als könnten sie nicht über seine Wangen laufen. »Natürlich, ich weiß, dass Sie es waren!«

»Wieso glauben Sie das? Haben Sie mein Gesicht gesehen?« Isaac schüttelte heftig den Kopf. »Wieso glauben Sie dann, dass ich es war?«

»Weil Sie genauso aussehen. Sie haben dieselbe Größe, denselben Körperbau, dieselben Haare und sogar den gleichen Mantel.«

»Den gleichen Mantel?«

Isaac nickte wieder. McCall ließ ihn los, doch er rannte nicht fort. Er trat nur von einem Fuß auf den anderen, während sein Atem stoßweise kam und er schniefte, als sei er erkältet oder hätte irgendetwas geschnupft.

»Sie meinen, er trug einen Mantel im selben Stil und der derselben Farbe?«

»Nein, den gleichen Mantel, Mann. Sie versuchen doch nur, mich zu verarschen, und dann brechen Sie mir gleich den Arm und schlagen mich ins Gesicht. Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden

»Genesis 9,6.«

Ein breites Lächeln erschien daraufhin auf Isaacs Gesicht. »Sie kennen die Bibel aber gut, Sir!«

»Ich habe diese Gangmitglieder nicht zusammengeschlagen. Aber der Angreifer wird Sie bestimmt in Ruhe lassen, wenn Sie sein Gesicht gar nicht gesehen haben. Waren Sie die ganze Zeit über im Schatten in diesem Eingang?«

»Ja! Auf Isaacs Platz!« Plötzlich sah er schuldbewusst aus. Er griff in die Tasche seines Kapuzenpullis und holte ein paar türkise Knöpfe heraus. »Die sind davongeflogen, als einer der Typen der Frau die Bluse aufgerissen hat. Hat einfach ihre Brüste freigelegt. Die waren sehr groß. Es war ihr sehr peinlich. Ich dachte, die Knöpfe sind vielleicht etwas wert. Deshalb habe ich sie rüber zu Gems in der Houston Street gebracht. Wissen Sie, der Pfandleiher? Aber die waren einen Scheiß wert.« Isaac ließ die Perlmuttknöpfe in McCalls Hand fallen. »Vielleicht können Sie ihr die Knöpfe ja wiedergeben.«

»Natürlich, das kann ich machen.« McCall ließ die türkisen Knöpfe in die Manteltasche gleiten. »Was können Sie mir noch über den Mann sagen, Isaac? War er weiß, schwarz, oder ein Latino? Wie genau hat er sich bewegt? Wissen Sie irgendwas, was mir weiterhelfen könnte?«

Isaac schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe meinen Platz nicht verlassen. Isaacs Platz.«

»Wie alt sind Sie?«

»Vielleicht sechsundzwanzig? Kann ich jetzt gehen?«

»Wohin denn?«

Er zuckte mit den Achseln. »Irgendwohin, wo man was abstauben kann, oder ein nettes Wort hört.« Plötzlich grinste er. »Ein Glas Bourbon wäre nicht schlecht.«

»Sie müssen nicht in einem Türeingang schlafen, Isaac. Ich wohne in einem Hotel, in dem es jede Menge leere Zimmer gibt. Ich kann dafür sorgen, dass Sie dort etwas zu essen und ein Bett und vielleicht auch das Glas Whiskey kriegen.«

Doch Isaac schüttelte vehement den Kopf und machte einen wankenden Schritt von McCall weg. »Ich bin es nicht wert, dass Sie versuchen, mich zu retten.« Er hob seinen Rucksack auf und stopfte die Bibel wieder ganz hinein. »›Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet viel mehr den, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.‹« Er drehte sich um. »Kennen Sie das auch?«

»Matthäus 10,28.«

Isaac hielt den Daumen in die Höhe, dann schlüpfte er in die Riemen des Rucksacks und ging hastig die Gasse entlang, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde.

McCall murmelte: »Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Offenbarung 21,4.«

Er dachte unwillkürlich an Serena Johanssen und Elena Petrov. Zwei Frauen, die er geliebt und die er beide verloren hatte. Er sah zu der Stelle hinüber, wo Isaac verschwunden war. Der obdachlose Mann war zu verängstigt gewesen, um seinen Platz zu verlassen – Isaacs Platz –, als Megan Forrester angegriffen worden war, aber etwas in seinen feuchten Augen hatte McCall gesagt, dass Isaac mehr hätte erzählen können.

McCall ging zu der Ziegelmauer hinüber, gegen die Julio und Alejandro Megan gepresst hatten. Er bemerkte etwas Glitzerndes auf dem Boden. Er trat eine Mars-Schokoriegel-Verpackung beiseite, kniete sich hin und hob einen Diamant-Ohrring auf. Er funkelte im Licht. So etwas fand man ganz bestimmt nicht beim Gems-Pfandleiher. Er konnte sich von Megans Ohr gelöst haben, als die Gangster sie geschlagen hatten. McCall ließ den Ohrring zu den türkisen Knöpfen in seine Manteltasche fallen. Vielleicht war es ein Hinweis, vielleicht aber auch nicht.

Er war immer noch nicht näher dran, den Möchtegern-Equalizer zu finden als vorher.

McCall traf sich am nächsten Morgen mit Brahms, der auf einer Bank im St. Catherine’s Park saß, einen Block vom Memorial Sloan Kettering Krebszentrum entfernt. Sein wirklicher Name war Chaim Mendleman, aber man nannte ihn Brahms, wegen seiner Liebe – man konnte es sogar fast Sucht nennen – zur Musik des Meisters, seit er sechs Jahre alt war. Er erinnerte McCall irgendwie immer an Jerry Stiller, den Schauspieler, der George Costanzas Vater in Seinfeld gespielt hatte. Einige Mütter, die Kinderwagen vor sich herschoben, unterhielten sich über die Geheimnisse des Lebens, eine Gruppe Kinder warfen ein paar Körbe und Menschen durchquerten den Park, um zur 1st Avenue zu kommen.

Brahms sah McCall nicht an, sondern betrachtete weiterhin die Umgebung, als dieser sich setzte. »Wusstest du, dass der Grundriss des Parks auf der Kirche Santa Maria sopra Minerva in Rom basiert, wo die Überreste der Heiligen Katharina begraben liegen? Der Flaggenmast repräsentiert dabei den Altar, die Spielbereiche sind das Kirchengestühl und der Springbrunnen in Elefantenform ist eine Anlehnung an die Skulpturen vor der römischen Kirche.«

»Das wusste ich tatsächlich nicht.«

McCall fand, dass Brahms so aussah, als sei er in den letzten zwei Monaten zwanzig Jahre gealtert. Unter seinen Augen waren dunkle Tränensäcke zu sehen und die Falten auf seinem sowieso schon runzligen Gesicht waren noch tiefer geworden. Seine grauen Haare standen in alle Richtungen ab. McCall bezweifelte, dass Brahms je einen Kamm gefunden hatte, der ihm wirklich zusagte. Seine Stimme war zwar sonor und ausdrucksstark, aber es schien so, als würde er eine ganze Flut an Emotionen zurückhalten.

»Wie geht es Hilda?«

»Sie hat gute Tage und sie hat schlechte Tage. Gestern war ein guter Tag. Ihre Augen haben gestrahlt und sie hatte dieses neckische Grinsen im Gesicht. Sie hat mich an die Princess-Kreuzfahrt erinnert, die wir gemacht haben. Das Schiff hatte einen Maschinenschaden und hat zwei Tage im Mittelmeer getrieben und wir Passagiere haben uns schließlich so verbunden gefühlt, als hätten wir uns auf der Titanic befunden, natürlich abgesehen davon, dass wir nicht gesunken sind und ich fast wie ein Reiseleiter war und die Leute zu Shuffleboard-Turnieren eingeteilt habe und Schwimmwettbewerbe veranstaltet habe und wir haben Preise an die Paare verteilt, die beweisen konnten, dass sie an sehr unangemessenen Orten auf dem Schiff Sex gehabt hatten.« Brahms lächelte, als er sich daran zurückerinnerte. »Hilda und ich haben übrigens gewonnen.«

»Und wie geht es ihr heute?«

»Kein guter Tag bisher. Ich habe eigentlich gehofft, dass sie Ende der Woche nach Hause kommen könnte, aber ihre Ärzte haben gesagt, dass sie noch mindestens einen ganzen Monat im Sloan Kettering bleiben muss. Ich würde mir ja Sorgen wegen der ganzen Ausgaben machen, aber offenbar hat jemand für all ihre medizinischen Behandlungen bezahlt. Der Scheck war unterzeichnet mit W. Mays. Glaubst du eigentlich immer noch, dass Willie Mays der tollste Baseballspieler aller Zeiten war? Ich würde diese Ehre ja eher Ty Cobb geben. Sicher, er war ein echt fieser Drecksack, aber er hat nur einmal unter dreihundert in seiner Karriere geschlagen und das war in der ersten Saison und er hat die Homebase sogar noch erobert, als er schon zweiundvierzig war! Hilda weiß nicht, wer den Scheck unterzeichnet hat, denn sonst würde sie mich garantiert zwingen, dich ins Krankenhaus zu schleifen, damit sie dich umarmen kann.«

»Hat Mary es dir gesagt?«

»Nein, aber glaubst du etwa, ich würde deine Handschrift nicht erkennen?«

»Wie geht es Mary denn?«

»Ich habe sie gerade erst zum Senior Vice President für interne Angelegenheiten bei Manhattan Electronics ernannt.«

»Was bedeutet das?«

»Dass sie sich um den Laden kümmert, wenn ich nicht da bin.«

Der Laden war ein Elektronikgeschäft an der Ecke Lexington und 52nd Street, den man getrost als antiquarisch bezeichnen konnte. McCall dachte an Brahms Assistentin, die Anfang zwanzig, bildhübsch und zierlich war. Außerdem hatte sie Stil, eine umwerfende Figur und trug eine dieser charakteristischen dunklen Diane-von-Furstenberg-Schildpattbrillen. McCall und Brahms hatten bereits darüber diskutiert, ob Mary ihre Brille wohl aufbehielt, wenn sie Sex hatte. Brahms hatte die Debatte schließlich als zu verstörend beendet. McCall hingegen wusste inzwischen, dass Mary nur ihre Diane-von-Furstenberg-Brille trug, wenn sie Sex hatte, er wusste es aber bloß deswegen, weil sie es ihm offen gesagt hatte.

Brahms überreichte McCall jetzt etwas Unförmiges, aber nicht sehr Schweres, in einem braunen Umschlag.

»Hier ist das, worum du mich gebeten hast. Will ich wissen, was du damit vorhast?«

»Vermutlich nicht.«

McCall steckte den Umschlag sorgfältig in seine Manteltasche.

»Hast du mittlerweile etwas von Mickey Kostmayer gehört?«, fragte Brahms.

»Ich dachte, du magst ihn nicht?«

»Er ist unbesonnen und waghalsig, aber so war ich selbst auch einmal. Ich weiß, dass er zu einer geheimen Rettungsoperation aufgebrochen ist … entweder für die Company oder freiberuflich. Die Kanäle der Geheimdienste haben da leider nicht viel hergegeben, sonst hätte Sam Kinney etwas gehört.«

»Ich kann Kostmayer leider nicht erreichen.«

»Ist Granny mit ihm gegangen?«

»Ja.«

»Das ist zwar noch lange nicht dasselbe, als wenn du dabei wärst, aber gut genug. Ruf Kontrolle an. Er wird wissen, was mit ihnen passiert ist.«

McCall stand auf. »Vielleicht mache ich das tatsächlich. Richte Hilda einen lieben Gruß von mir aus.«

Brahms nickte und blickte wieder in den Park, aber er war mit den Gedanken offensichtlich ganz woanders. Vielleicht spazierte er gerade mit seiner Frau über eine Straße in Manhattan auf der East Side, hielt Händchen, war glücklich und zufrieden und sämtliche Worte waren unnötig.

EQUALIZER - KILLED IN ACTION

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