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Kapitel 3
ОглавлениеDie Straße war verlassen, aber McCall hatte eine Bewegung zu seiner Linken gesehen. Dort, wo sich ein altes Theater an einer Straßenecke befand, etwa zehn Meter von der Whitehall-U-Bahnstation entfernt. Es war ein rotes Ziegelgebäude in schlechtem Zustand mit einem Gerüst auf einer Seite. Dieses sah allerdings so aus, als hätte man es unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet. Das Mondlicht hatte kurz die silbernen Strumpfhalter aufblitzen lassen, als Emily durch die Vordertür des Theaters rannte.
McCall spurtete über die Straße zum Theater hinüber. In verblichenen Lettern stand unter den Fenstern des ersten Stocks: Mercury Theater. Und auf den Überresten einer Markise, die einst an der Fassade angebracht gewesen war, konnte man in dünnen, unbeleuchteten Neonbuchstaben Crest lesen, wobei das C fehlte. Er hoffte, das war keine ironische Botschaft an ihn. Anscheinend war das Theater irgendwann einmal zu einem Kino umgebaut worden. Vermutlich hatte es in den Achtzigern Pornofilme gezeigt, bevor man diese im Internet genauso einfach finden konnte wie das Lieblings-Lasagne-Rezept.
McCall rannte hinüber zu einem großen blauen Müllcontainer, zog die beiden Smith & Wesson Pistolen hervor, die er sich geschnappt hatte und warf sie hinein, dann ging er zurück zum Haupteingang des Gebäudes. Er bemerkte, dass das verrostete Vorhängeschloss an der Tür aufgebrochen worden war. Vermutlich war das Gebäude in kalten Nächten ein sicherer Unterschlupf für Obdachlose. Die Tür ächzte in ihren schmutzig-schwarzen Angeln, als er sie aufschob.
In der Lobby war es totenstill. Staubpartikel tanzten in der Luft herum. Auf einer Seite waren rechteckige Bilderrahmen aus Glas zu sehen, die meisten davon waren jedoch leer, aber ein paar alte Theater-Poster waren noch übrig. Die Stadt hatte das Kino offenbar eine Weile wieder zum Theater gemacht, denn die Daten auf den beiden Theater-Postern waren von Beginn der 2000er. Auf einem kündigte das Mercury Theater stolz die Bühnenpremiere eines Thrillers namens Underground an und darauf war ein U-Bahnwaggon der Londoner Subway abgebildet, der anscheinend in einem Tunnel feststeckte. Zwölf Passagiere auf einer U-Bahnfahrt in die Hölle. Der Name über dem Titel des Stücks lautete Raymond Burr. Unter Eid hätte McCall wohl zugeben müssen, dass er sich gern alte Wiederholungen von Perry Mason im Fernsehen ansah. Neben diesem Poster war eines mit einer rustikalen Hütte auf einer nebligen Waldlichtung und einer spärlich bekleideten jungen Frau zu sehen, die von der Hütte wegrannte. Über dem Wald sah man das dämonische Gesicht einer Katze. Darüber stand: Catspaw – ein neuer Thriller auf der Bühne von Robert L. McCullough. Die Stars waren Greg Evigan und eine New Yorker Besetzung, von der McCall noch nie gehört hatte. Er dachte sarkastisch, dass dieses Theater wohl so weit vom Broadway entfernt war, wie es nur sein konnte, ohne außerhalb des Stadtgebiets von New York zu liegen.
Er blieb kurz stehen und lauschte. Er konnte jetzt ein leises Rascheln hören. Vermutlich Ratten, denn Kakerlaken machten keine Geräusche. Sonst hörte er nichts. Er ging zu einer schweren Tür mit kleinen Buntglasscheiben, die einen Ritter in grüner Rüstung darstellten, der einen Drachen tötete, und drückte sie vorsichtig auf.
Im Theater selbst war es genauso still. Zu beiden Seiten des Mittelganges befanden sich Reihen abgenutzter, einst bestimmt üppig gepolsterter Sitze. Es passten bestimmt an die dreihundertfünfzig Menschen hier hinein. Die Bühne war leer. Eine Arbeitslampe auf der rechten Seite spendete ein wenig Licht. Ein zerrissener roter Vorhang lag auf der linken Seite, der sich wohl nie wieder heben würde. Zwei verzierte Boxen standen auf beiden Seiten der Bühne. Als McCall den Mittelgang entlangging, sah er nach oben und entdeckte eine Empore mit zehn Sitzreihen über sich.
Emily stürzte sich aus dem Halbdunkel auf ihn.
Sie hatte einen vierzig Zentimeter langen Nagel aus irgendeinem Haufen Bauschutt in der Hand und stach damit in Richtung seines Gesichts. Er schnappte ihr Handgelenk und verdrehte es, gerade weit genug, dass sie aufschrie und den Nagel fallen ließ. Anschließend warf er sie sich über die Schulter, wobei ihr schwarzes Kleid über ihre Hüften rutschte und den oberen Rand der Strümpfe und die silbernen Strumpfhalter entblößte. Mit den Fäusten trommelte sie ihm auf den Rücken. Doch er reagierte nicht. Als er Reihe G in der Nähe der Bühne erreicht hatte, ließ er sie dort auf den erstbesten Sitz fallen. Trotzig starrte sie zu ihm hoch, senkte dann aber den Blick, als habe sie gerade erst bemerkt, dass ihr Kleid nach oben gerutscht war, und ihr schwarzes Höschen offenbarte. Sie zog das Kleid hastig wieder nach unten, aber es bedeckte noch nicht einmal ihre Strümpfe oder den Strumpfhalter. Dafür war es einfach nicht lang genug. Ihr Atem kam in abgehackten Stößen, und ihre Brust hob und senkte sich heftig. McCall stand regungslos über ihr, und ließ sie erst einmal ruhiger werden und zu Atem kommen.
Schließlich sagte sie: »Du hast vorgegeben, mein Dad zu sein. Du hast mich zu irgendeiner Frau geschleppt, die nicht meine Mom war. Du bist also einer von Blakes beschissenen Kumpels.«
»Wenn das wahr wäre, hätte ich dich doch wohl nicht da rausgeholt.«
»Du solltest mich bestimmt später zu ihm bringen.«
»Die haben gar nicht mitgekriegt, dass du aus dem Seiteneingang verschwunden bist. Hol ein paarmal tief Luft. Ich werde dir nicht wehtun, Emily.«
Sie nickte. Ihr Atem hatte sich beruhigt, sie kam also langsam von ihrem High runter. »Wie schlimm wird der Entzug werden?«
»Kommt ganz darauf an, wie viel man genommen hat. Was dagegen, wenn ich mich kurz setze?«
Sie rutschte einen Sitz weiter.
McCall nahm neben ihr Platz. »Wir können nicht hierbleiben.«
Sie sah zu der leeren Bühne hinauf. »Ich glaube nicht, dass sich der Vorhang in absehbarer Zeit noch einmal hebt.«
»Aber die könnten hier nach dir suchen. Das ist immerhin ein ziemlich offensichtliches Versteck.«
»Ich habe nicht großartig darüber nachgedacht, ich wollte einfach nur weg.«
»Wir können schon noch ein paar Minuten hierbleiben.«
»Ich muss nicht mit dir reden.«
»Ich kann dich auch gern wieder zur Party zurückbringen. Da kannst du dann mit jeder Menge anderer Leute reden.«
Sie schüttelte heftig den Kopf, dann griff sie plötzlich nach unten und entfernte die Strumpfbänder von beiden Strümpfen. Sie rollte sie die Beine hinab, zog sie aus, wickelte sie zu kleinen Bällen zusammen und warf sie in die Reihe vor sich. Dann schob sie ihr schwarzes Kleid ein Stückchen hoch, entfernte den Strumpfgürtel und warf ihn den Strümpfen hinterher. Danach zog sie sittsam das Kleid so weit über die Oberschenkel, wie es nur ging. Ihr Atem klang jetzt wieder normal. Sie sah ihn immer noch misstrauisch an.
»Was willst du wissen?«
»Deine Mutter – also die Person, die vorgegeben hat, deine Mutter zu sein – hat gesagt, dass du nach Manhattan gekommen wärst, weil du am New York City Art Institute angenommen worden bist. Stimmt das?«
»Ja. Als ich sechs Jahre alt war, habe ich Feen, Goblins und Drachen für einen Feen-Aufkleber-Kalender gezeichnet, den meine Mom angeblich verlegen lassen wollte, aber das ist nie passiert.« Emily zuckte erneut mit den Achseln. Das tat sie wohl häufig. »Aber die Bilder waren anscheinend ziemlich gut für eine Sechsjährige.«
»Wieso hast du das Kunststudium geschmissen?«
»Mir wurde langweilig. Ich wollte einfach nur eine Ausrede haben …«
»… um von zu Hause wegkommen zu können?«
»Ja. Du kennst meine echte Mom schließlich nicht.«
»Dann beschreibe sie mir.«
»Sie ist dünn, sehr blass, hat blonde Haare, die aber immer strähnig sind, weißt du, so als würde sie diese nie waschen. Ihr Gesicht wirkt irgendwie immer verkniffen, so als würde sie etwas Schlechtes riechen. Sie schaut zwar immer freundlich, aber sie hat diesen gehetzten Blick. Sie bemüht sich nach Kräften«, fügte Emily beinahe entschuldigend hinzu. »Sie ist bipolar, weißt du. Das heißt, sie hat ziemliche Stimmungsschwankungen. Den einen Tag ist sie vollkommen aufgekratzt wegen irgendwelcher Sachen für die Schule und weil mein Dad die ganze Zeit nicht da ist und zwei Tage später ist sie dann eine tobende Irre.«
»Erzähl mir etwas über deinen Dad.«
Emily lächelte. »Deine Darstellung von ihm hätte nicht weiter daneben liegen können. Er ist Archäologe. Er ist also ständig irgendwo bei irgendwelchen Ausgrabungen in Zentralamerika oder Afrika oder in irgendwelchen arabischen Höhlen. Er sucht dort nach alten Knochen und Fossilien oder was auch immer die suchen, um die Geheimnisse von Menschen zu entschlüsseln, die seit Jahrhunderten tot sind. 2014 ist er nach Huamparán gegangen, das liegt irgendwo in Peru, für eine Ausgrabung der Pariser Universität. Sie haben rund um Huari und eine alte königliche Inka-Straße Ausgrabungen gemacht. Ich nehme mal an, es gab dort auch noch mehr coole Sachen zu entdecken, denn sie haben ihn anschließend gebeten, noch einmal dort hinzugehen. Er ist jetzt seit fast sechs Monaten wieder dort. Kleine Stückchen zerbrochene Töpferware finden, davon geht ihm offenbar echt einer ab.«
Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als wäre der Gedanke an den Penis ihres Dads äußerst unangemessen. Dann sah sie McCall wieder an. »Mein Dad wäre niemals so aggressiv wie du bei Blake gewesen. Er ist immer vernünftig und sanft, aber er hätte mich dennoch da rausgezerrt.«
»Er liebt seine Tochter eben.«
»Natürlich.«
»Ich bin mir sicher, deine Mutter liebt dich auch.«
»Sie ist aber nicht aus ihrem amerikanischen Durchschnitts-Kaff gekommen und hat nach ihrer Tochter gesucht, die seit drei Wochen vermisst wird.«
»Vielleicht hat sie ja stattdessen jemand anderen geschickt.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht.« Sie machte eine kurze Pause, dann sagte sie: »Tut mir leid, dass ich dich angegriffen habe.«
»Ich komm schon drüber weg. Wie hast du Blake Cunningham eigentlich kennengelernt?«
»Bei einer Cocktailparty in der Galerie eines Künstlers, dessen Arbeit gerade im Art Institute ausgestellt wurde. Blake war irgendwie faszinierend, mit seinen strahlend blauen Augen. Ich habe noch nie zuvor so kornblumenblaue Augen bei einem Mann gesehen. Du etwa?«
McCall dachte unwillkürlich an seinen Freund Granny mit den stechenden eiskalten blauen Augen. Er fragte sich, wie Granny wohl gerade bei der verdeckten Operation in Nordkorea zurechtkam, die er zusammen mit Mickey Kostmayer organisiert hatte. Es war durchaus eine gefährliche Mission.
»Nur einen«, sagte McCall wahrheitsgemäß.
»Blake hat mich zuerst mit seiner charmanten Persönlichkeit beeindruckt. Er war einfach nur wow, wie ein Tritt in den Magen. Er hat mich seinen Collegefreunden vorgestellt. Die meisten davon waren bereits in ihrem letzten Jahr auf der Columbia, aber ein paar hatten sogar schon ihren Abschluss und machten an der Wall Street Unmengen von Geld. Ich habe mich irgendwie in diesen berauschenden Lebensstil reinziehen lassen. Doch insgeheim wusste ich, dass da etwas nicht stimmte. Blake wollte mich ficken und ich wollte es auch, aber er blieb dennoch weiterhin distanziert. Er und seine Freunde stecken ganz offensichtlich in irgendwas drin – etwas Gefährlichem und Ekelhaftem, und sie machen anscheinend eine ganze Menge Geld damit.«
»Was tun sie denn?«
»Das weiß ich nicht. Sie waren immer alle sehr vorsichtig und haben sich nicht verplappert, wenn ich in der Nähe war.«
»Etwas Illegales?«
»Mehr als das. Etwas Finsteres. Es hat mir riesige Angst gemacht.«
»Wie gut kannst du dir Sachen merken?«
»Ziemlich gut.«
McCall nannte ihr daraufhin seine Handynummer, diejenige für sein zweites iPhone, das er als Equalizer benutzte. Sie wiederholte die Zahlen und nickte.
»Vergisst du sie auch nicht?«
»Nein, aber wieso sollte ich dich anrufen wollen?«
»Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.«
Sie nickte wieder und berührte ihn dann am Arm. »Danke, dass du mich gerettet hast«, flüsterte sie nun.
Auf einmal stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie blickte in Richtung der Bühne, als würde sie vor ihrem geistigen Auge gerade eine Aufführung sehen.
»Im ersten Monat, als ich nach Manhattan gekommen bin, war ich in sieben Musicals. Wicked – Die Hexen von Oz – war das Beste. Es war wirklich lustig und man fühlte sich nachher richtig beschwingt. Magst du Musicals auch? Du siehst mir allerdings mehr nach dem Typ aus, dem Tod eines Handlungsreisenden gefällt.«
»Ich mag Musicals.«
»Und welches ist dein Lieblingsmusical?«
»Les Misérables.«
»Ich kenne nicht einmal deinen Namen.«
Doch McCall gab keine Antwort, denn er hörte ihr gar nicht mehr zu. Er hatte nämlich ein Geräusch gehört, das Emily offenbar entgangen war. Er drückte sanft ihre Schulter.
»Was ist los?«
»Irgendjemand ist reingekommen«, sagte er leise. »Könnte nur ein Obdachloser sein. Ich glaube, eine Menge von denen nutzen diesen Ort, besonders, wenn es regnet.«
Sie drehte sich um und spähte ins Halbdunkel.
»Ich sehe aber niemanden.«
»Beweg dich nicht von diesem Sitz weg. Duck dich aber ein wenig, damit man dich aus dem hinteren Teil des Theaters nicht sehen kann.«
Sie tat wie geheißen. McCall stand auf und ging leise den Mittelgang entlang. Er warf einen Blick zurück und konnte Emily auf dem Sitz nicht mehr sehen, auch wenn er wusste, dass sie noch da war.
Er entdeckte niemanden auf den anderen Plätzen. McCall erreichte jetzt das Ende der letzten Reihe, und machte einen Schritt in die Dunkelheit des schmalen Korridors im hinteren Teil. In dem Buntglasfenster der Tür konnte er jetzt die Spiegelung eines Schattens auf der Bühne sehen.
Er wirbelte nach links.
Es war einer der beiden jungen Männer aus dem River Café. Die Faust des Mannes zielte genau auf McCalls Hals. Er hatte ihn offenbar unvorbereitet treffen wollen. Doch McCall duckte sich mühelos unter dem Schlag weg und schickte den Angreifer mit einem Hieb in den Solarplexus auf die Knie. Dann packte er dessen wellige schwarze Haare und knallte das Gesicht des Mannes gegen sein Knie. Er hörte einen Übelkeit erregenden Knacks, als dessen Wangenknochen brach.
Den anderen Mann aus dem River Café bemerkte er allerdings nicht, bis es zu spät war.
Daher konnte dieser einen Arm um McCalls Hals legen und ihn nach hinten zerren.
McCall schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er den Männern auf der Party wenigstens ihre Waffen abgenommen hatte, denn er wäre mausetot, wenn sie diese immer noch bei sich tragen würden.
McCall ging auf ein Knie hinunter. Er hatte den Mantelsaum des zweiten Schlägertypens in beide Hände genommen und zog ihn jetzt mit aller Kraft nach vorn. Der Kerl ging daraufhin hart zu Boden … genau in dem Moment, als der erste junge Mann nach Luft schnappend wieder aufstand.
Er trat ihm gegen den gebrochenen Kiefer, woraufhin er auf die Seite kippte und laut stöhnte. McCall nahm den anderen in den Schwitzkasten und dachte kurz darüber nach, ihm das Genick zu brechen, aber sie hatten ja nicht wirklich versucht, ihn zu töten. Sie waren offenbar nur angepisst, dass McCall ihnen die Knarren abgenommen hatte. Das konnte er durchaus verstehen. Es war immerhin ganz schön peinlich.
Er rammte dem jungen Gangster jetzt das Knie in den Rücken. Dieser krümmte sich und versuchte hinter sich nach McCalls Gesicht zu greifen. Er übte stärkeren Druck auf den Hals des Schlägertyps aus und dieser sackte nun endlich nach vorn. McCall legte ihn beinahe sanft auf den durchgetretenen Teppich.
Der erste Gangster aus dem River Café hatte offenbar schon vor langer Zeit das Interesse an dem Kampf verloren. Er hielt sich mit beiden Händen den Kiefer, als habe er Angst, dass er abfallen könnte. McCall war fertig mit ihm und seinem Partner. Die würden nirgendwo mehr hingehen.
Aber es war an der Zeit, Emily hier rauszuschaffen.
McCall rannte den Mittelgang zu Reihe G hinunter und machte sie dabei klar, dass er Emily nicht sehen würde, bevor er direkt vor dem Sessel stand.
Doch sie war schon wieder verschwunden.
Ein polterndes Geräusch ließ McCall ruckartig nach oben blicken, und er erhaschte noch einen kurzen Blick auf zwei schattenhafte Gestalten auf der Empore. Eine davon war anscheinend Emily, die sich heftig wehrte und einer von Blakes College-Kumpels, der sie festhielt. McCall hastete die Sitzreihen entlang, rannte durch die Seitentür und nahm dann immer zwei Stufen auf einmal. Die Treppe führte direkt auf die Empore. Er rannte den rechten Gang entlang. Die beiden Männer, die er eigentlich ausgeschaltet hatte, waren verschwunden. Ein Pistolenschuss hallte durch den Saal und eine Kugel flog nur wenige Zentimeter an McCalls Gesicht vorbei und schlug in die Wand hinter ihm ein. Er duckte sich, als zwei weitere Kugeln einen Sitz vor ihm mit dumpfen widerhallenden Schlägen trafen. Er wartete regungslos, denn eine weitere Kugel würde bestimmt gleich folgen. Doch nichts geschah. Der Schütze versuchte also offenbar gerade zu fliehen.
Emily war nebenbei bemerkt bestimmt auch nicht gerade eine problemlose Gefangene.
Vor seinem geistigen Auge konnte McCall sehen, wie sie gegen den Griff des Angreifers kämpfte … wie sie ihn trat und mit ihren langen schwarzen Fingernägeln sein Gesicht zu zerkratzen versuchte.
McCall ging nun hastig eine Reihe Sitze entlang in den Mittelgang der Empore und duckte sich dort schnell wieder. Vor ihm war zwar keine Bewegung zu sehen, aber er konnte immer noch Geräusche hören … etwas Kratzendes … das war ein Fenster, das hochgeschoben wurde.
McCall rannte die Stufen des Mittelgangs zu dem schmalen Korridor am Ende der Empore hoch. Zwei Türen befanden sich dort, wovon eine offenstand. Dahinter war ein kleines Büro zu sehen, dessen Möbel und leere Bücherregale mit Staub und Schmutz bedeckt waren.
Das Fenster im ersten Stock war tatsächlich offen.
Der Angreifer zerrte Emily gerade auf eine breite Planke des Außen-Gerüsts. Sie biss ihm in die Hand. Er knurrte und wirbelte herum, aber McCall war inzwischen schon durch das offene Fenster gestiegen. Er schnappte sich Emily und schob sie hinter sich. In derselben flüssigen Bewegung führte er einen schnellen Frontkick aus, der den Angreifer taumeln ließ. Da es mittlerweile ununterbrochen regnete, rutschte der Mann aus und schlug hart auf die Gerüstmatte.
Dadurch taumelte allerdings auch Emily und stürzte.
McCall wirbelte herum und griff hastig nach ihrem Arm.
Sie fiel von der Planke ins Leere.
Doch er hatte es geschafft, sie mit einer Hand festzuhalten. Es fühlte sich an, als würde ihm durch das Gewicht der Arm aus dem Gelenk gerissen werden. Er kniete auf der rutschigen Gerüstmatte, packte sie mit der anderen Hand und zog sie dann langsam hoch.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Mann, der sie angegriffen hatte, wieder auf die Beine kam.
Emilys rechte Hand rutschte jetzt aus McCalls linker und sie schrie erschrocken auf.
Doch er erwischte ihr Handgelenk erneut.
Zwei quälende Sekunden lang baumelte Emily weiter über dem Beton tief unter ihnen.
Der Schlägertyp hatte das Gleichgewicht wiedergefunden und griff jetzt nach der Waffe in seinem Gürtel.
McCall zog Emily hastig zurück auf die Gerüstmatte, setzte sie mit Schwung hinter sich ab, drehte sich in einer fließenden Bewegung um und trat dem Angreifer die Waffe aus der Hand. Anschließend warf er sich gegen ihn, sodass der Mann vom Gerüst nach unten segelte. Er knallte mit einem üblen Klatschen auf den Boden und sein Schädel platzte auf.
McCall war mittlerweile komplett durchnässt. Er drehte sich vorsichtig auf der schwankenden Gerüstplanke um und sah, wie Emily durch das Fenster wieder in das Gebäude zurückkrabbelte. Er wollte ihr gerade folgen, als sich ein Arm von hinten um seinen Hals schloss und ihn zurückriss.
Es war einer der Männer, die auf der Rave-Party so beiläufig die Treppe heruntergekommen waren. McCall rammte ihm dreimal schnell hintereinander den Ellbogen in die Niere und schwächte dadurch den Griff um seinen Hals. Dann stach er mit den Daumen nach hinten ins Gesicht des Mannes und traf dessen Augen. Der Kerl schrie wütend auf und der Arm um McCalls Hals löste sich.
McCall drehte sich hastig um und führte einen Shuto-uchi Handkantenschlag auf die Kehle des Mannes aus. Dieser ging daraufhin sofort auf die Knie, während er sich die Hände auf die Augen presste. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Das Gesicht des Mannes sah aus wie eine Maske in einem Horrorfilm. Trotz allem packte er McCalls linkes Bein und versuchte ihn auf der wackligen Gerüstbohle aus dem Gleichgewicht zu bringen.
McCall hob ihn im Gegenzug hoch und warf ihn kurzerhand vom Gerüst. Der Kerl landete daraufhin mit einem Schrei direkt neben seinem Freund und blieb verdreht und mit gebrochenen Knochen, reglos liegen.
McCall hatte die Ausbuchtung einer Pistole in der Tasche des zweiten Angreifers gespürt und fragte sich kurz, wieso der Mann sie nicht benutzt hatte. Aber vielleicht hatte man ihm aufgetragen, McCall lebend zu schnappen, um herausfinden zu können, was dieser über Blake Cunningham und dessen Operationen wusste.
Das war allerdings leider rein gar nichts.
Er sah hinab zu den beiden toten Männern.
Auf der Stahltreppe bei der Rave-Party waren es drei gewesen.
Er rannte deshalb sofort zurück zum offenen Bürofenster, rutschte aber prompt auf dem nassen Gerüstboden aus und musste sich am Fensterbrett festhalten, damit er nicht in die Dunkelheit stürzte und sich zu den anderen gesellte. Er schaffte es, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, und kletterte durch das offene Fenster.
Emily war nicht mehr im Büro und sie war auch nicht auf der Empore.
McCall rannte zu der vordersten Sitzreihe und blickte hinab auf die restlichen Sessel, doch er sah sie nirgendwo. Er ging eine Sitzreihe auf der Empore entlang zum rechten Gang, rannte dort die Treppe hinab und schoss hinaus in den Hauptsaal des Theaters. Dann zog er seine Glock 19, die er bisher nicht hatte benutzen müssen, und eilte in den Mittelgang. Er warf die Theatertüren auf und rannte durch die Lobby.
Es goss immer noch in Strömen. Die beiden toten Angreifer waren weg und lagen nicht mehr unter dem Gerüst. McCall rannte hastig über die Straße. Er rüttelte an der Tür des Seiteneingangs des halb fertigen Gebäudes, aber sie war von innen verschlossen. Also steckte er die Glock ein und rannte zur Rückseite. Der Lärm war einfach überwältigend. Sie hatten die Lautstärke offenbar noch mehr erhöht. Vielleicht waren noch nicht genug Leute mit blutenden Ohren da. McCall lief durch die Partygäste und suchte nach Emily. Doch es gab weder eine Spur von ihr, noch von Blake Cunningham und seinen beschissenen Helfern. Auch die Frau, die McCall gesagt hatte, dass sie Emilys Mutter, Laura Masden wäre, war verschwunden.
McCall blieb abrupt stehen. Das Licht, die Menschen und die Musik verschmolzen in seinem Kopf zu einem brachialen Mosaik. Das Opfer und seine angebliche Klientin waren weg und die Gangster waren ebenfalls verschwunden.
So viel also zu seinem ersten Fall als Equalizer.