Читать книгу Totenläufer - Mika M. Krüger - Страница 12

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Auf dem Flur war niemand zu sehen, als Rina das Zimmer verließ. Die Türen rechts und links vom Gang waren geschlossen und ein weißes Licht erhellte die Umgebung. Das Versteck der Rebellen war keine Höhle, die sie provisorisch ausgehoben und bewohnbar gemacht hatten, sondern ein unterirdisches Bürogebäude, in dem sie sich verschanzten. Es gab mehrere Etagen, die man über Treppen oder einen Fahrstuhl erreichen konnte. Alles war neu und klar strukturiert. Beinahe so, als sei sie in einem Verwaltungsgebäude von Ostend. Vielleicht gehörte dieser Teil zu einem der vielen Hochhäuser, die sich unauffällig in das Stadtbild einfügten, nur wieso sollte die Stadtplanung nichts von alldem mitbekommen? Wurden die Rebellen von einer einflussreichen Person gedeckt?

Rina sah den Flur entlang. Ihre Fingerspitzen kribbelten und eine innere Unruhe klopfte in ihrer Brust. Sie musste zu den Aufzügen, wenn sie mit dem Rotfuchs sprechen wollte. Die lagen am anderen Ende des Ganges, in unbekanntem Terrain. Kein Grund, in Panik zu verfallen, hier im Kaninchenbau würde man ihr nicht auflauern und sie verletzten. Deshalb straffte sie ihren Rücken und ging in die Richtung, die sie erkunden musste. Schritt für Schritt ging sie voran und erreichte den Fahrstuhl, wo sie ungeduldig wartete.

Als sich die metallenen Türen dann endlich öffneten, kamen zwei REKA-Mitglieder heraus. Sie unterhielten sich angeregt und bemerkten Rina nicht. Automatisch senkte sie den Blick, während sie sich unauffällig an ihnen vorbeistahl. Drinnen war ein Mann mit Brille, der auf einem Monotab tippte. Rasch drückte sie auf irgendeinen Etagenknopf, völlig egal wohin sie ging, an irgendeiner Stelle musste sie ja anfangen.

Das Tippen stoppte.

»Wo soll es hingehen?«, fragte der Mann.

»Zu meiner Kontaktperson, der Frau mit den roten Haaren«, antwortete sie und sah flüchtig auf. Er nickte, als habe er verstanden, und wandte sich erneut dem Monotab zu. Lautlos setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Das Schweigen fühlte sich an wie das Kratzen von Metall auf Metall.

Eine Etage tiefer hielten sie und der Mann ging an ihr vorbei. Erleichterung nahm sie ein, dann blieb er in der Tür stehen und drehte sich zu ihr.

»Caren ist im untersten Stockwerk bei einer Besprechung. Falls du sie wirklich suchst«, sagte er und betätigte den nötigen Knopf. Ein aufmunternder Blick stahl sich in sein Gesicht, dann wandte er sich ab und verschwand im Flur. Rina hörte ihr Herz laut gegen die Rippen hämmern. Diese Rebellen waren zu freundlich, zu aufgesetzt, zu alles. Ihre Augen hafteten auf dem roten Punkt, der in der Mitte des Etagenknopfes leuchtete. Er schickte sie in das unterste Stockwerk.

Dort angekommen, wurde sie beim Verlassen des Aufzugs von einer jungen Frau aufgehalten, die allem Anschein nach Wache stand. Auch sie fragte, wohin Rina wollte und wieder antwortete sie so kurz wie möglich. Dieses Mal wurde sie unfreundlich abgefertigt und in ein Zimmer abseits gebracht, wo sie warten musste. Die Frau, die sie bis zum Raum begleitet hatte, schärfte ihr noch ein, nicht ohne Grund durch die Gänge zu schleichen. Das mache einen verdächtigen Eindruck und sei nicht gern gesehen. Man brauche zwar keine Genehmigung wie sonst in Red-Mon-Stadt, aber einen Anlass, alles andere war nicht zu empfehlen. Als sie ging, schloss sie die Tür hinter sich und absolute Stille ummantelte Rina.

Der Raum glich einer Abstellkammer. Drei Metallstühle standen dicht aneinander und ein runder Tisch füllte die restliche Fläche aus. Es war kaum mehr Platz zum Stehen. Rina hatte das Gefühl, eingesperrt zu sein. Sie knetete ihre Hände, die Zeit tickte in ihrem Kopf. Draußen hörte sie Stimmen und hastige Schritte. Ihre Füße wippten nervös und immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie an der rauen Haut an ihrem Unterarm kratzte.

Die Enge des Raums war so bedrückend, dass Rina letztendlich aufstand, die Metalltür vorsichtig öffnete und in den Flur spähte. Unweit entfernt konnte sie die Frau sehen, die vor dem Fahrstuhl Wache hielt. Sie sprach mit jemandem und hatte den Blick abgewandt.

Ihre Chance. Jetzt wo sie schon mal hier war, würde sie sich nicht auch noch sagen lassen, was sie tun oder lassen sollte. Niemand machte ihr Vorschriften.

Sie nahm an, dass die Besprechungsräume am anderen Ende des Flurs waren, dort, wo sich in ihrer Etage die Aufenthaltsräume befanden. Deshalb schlüpfte sie auf den Gang, stahl sich unbemerkt an einigen Rebellen vorbei und bog dann um die Ecke. Mit schnellen Schritten huschte sie an etlichen Türen vorbei, bis sie eine Stimme hörte, die sie aufhorchen ließ. Kalt und überheblich mit der Note feurigem Stolzes. Es war der Mann mit dem Adler auf der Wange. Innerlich nannte sie ihn Greif, obwohl die Anmut dieses Fabelwesens nichts mit ihm gemein hatte. Es war eher die Aggressivität, die sie mit ihm verband.

Vorsichtig ging sie näher heran und hörte seine Worte nun deutlicher.

»Es war von Anfang an ein Risiko. Dass Tom die Ausbildung als SDF-Soldat absolviert, die Beschattung des Totenläufers, unsere Einmischung in bestimmte Vorgänge der Stadtverwaltung. Diese ganze Organisation ist ein einziges Risiko. Es gibt da nichts zu diskutieren. Wir werden den Totenläufer stellen. Ob heute oder erst in ein paar Monaten ist dabei irrelevant.« Seine Stimme war abgeklärt und hart.

»Das mag ja vielleicht sein und trotzdem sage ich, dass die Sache bis zum Himmel stinkt. Wenn Neel Talwar wirklich der Totenläufer ist, dann verstehe ich nicht, wieso Tom ihn so leicht verfolgen konnte. Müsste er nicht unter ständiger Beobachtung stehen? Was ist, wenn das alles eine Falle ist?« Eine Frau sprach. Es war jedoch nicht der Rotfuchs, denn ihre Stimme war zu aufbrausend.

»Tom hat seinen Job gemacht«, sagte der Greif. »Ich werde nicht in Frage stellen, ob er ihn gut gemacht hat oder nicht.«

Daraufhin war es kurz still und ein Murmeln folgte: »Das wollte ich so nicht sagen.«

»Wer auf einer wackeligen Brücke läuft, hat nicht viele Möglichkeiten«, sagte der Greif. »Entweder es geht vorwärts, rückwärts oder mitten durch die Latten in den Tod. Rückwärts rudern ist keine Option. Tom muss da raus, und zwar bevor jemand Wind davon bekommt, was er die letzten Monate gemacht hat.«

»Das verstehe ich ja, nur …«

»Rina?« Eine Stimme direkt neben ihr. Abrupt drehte sie sich um und sah in die hellblauen Augen des Rotfuchses. Ihr Gesicht war überrascht, in den Händen hielt sie einige Papiere. Ein seltener Anblick in einer Stadt, die größtenteils auf elektrische Medien umgestiegen war. »Was suchst du denn hier?«, fragte sie und durch Rinas Körper jagte Nervosität.

»Ich, ich will …«, begann sie und verhaspelte sich. Kein guter Einstieg für ein Gespräch, in dem sie Forderungen stellen wollte. Sie durfte nicht den Faden verlieren. »Ich möchte Antworten. Wo ist der Soldat?«

»Du meinst den Soldaten von deiner Flucht?«

Sie antwortete nicht. Es musste doch klar sein, dass es um ihn ging. Der Rotfuchs betrachtete sie nachdenklich.

»Tom ist nicht hier, Rina. Er ist bei einem Einsatz und wird noch etwas brauchen, ehe er zurück ist. Wenn du darüber sprechen möchtest, können wir das in ein paar Minuten machen. Warte in deinem Zimmer, ich komme dann zu dir und versuche, alle Fragen zu klären, die dir einfallen. Bist du damit einverstanden?«

Das war nicht, was sie wollte.

»Nein«, sagte sie. »Ich werde nicht hinnehmen, dass er weiter Unschuldige tötet.«

Der Rotfuchs seufzte.

»Darum geht es dir also. Ich versichere dir, Tom wird niemandem mehr schaden. Sein Einsatz ist so gut wie beendet. Lass uns darüber reden, aber nicht hier. Diese Etage ist normalerweise für Neulinge tabu. Wenn du ohne Anmeldung hier herumläufst, kannst du Ärger bekommen. Ich dachte, das hatte ich dir schon gesagt.«

Daran erinnerte sich Rina nicht. Das Einzige, was ihr deutlich vor Augen stand, war der dunkle Ort, an dem sie geschuftet hatte. Die Gesichter der Toten und der Teer unter ihren Füßen. Sie konnte diese Sache nicht einfach so auf sich beruhen lassen.

»Ich muss mit ihm reden«, sagte Rina. »Ich will wissen, warum er das getan hat.«

»Du wirst mit ihm reden können, aber alles braucht seine Zeit.« Die Papiere drohten dem Rotfuchs aus dem Arm zu rutschen, weshalb sie sie mit einem Ruck wieder nach oben schob. »Ich bin gerade wirklich beschäftigt. Gib mir wenigstens zehn Minuten und dann nehme ich mir die Zeit, die du brauchst.«

Doch Rina wollte nicht warten.

»Der Einsatz«, sagte sie. »Es geht darum, dass der Soldat den Totenläufer schnappt, richtig?«

»Rina, das ist wirklich nichts, was dich beschäftigen sollte.«

»Wieso, weil es geheim ist? So wie die Ausrottung der Lorca und die Tatsache, dass es gar keine Krankheit gibt? Niemand soll seine Nase in Sachen stecken, die ihn nichts angehen. So funktioniert das, nicht wahr? Wir für die Stadt. Wir für die Sicherheit. Das sagen sie doch immer. Die Leute von der Verwaltung. Ich kann mit Geheimnissen leben, denn ich bin selbst eins. Und deshalb bleibe ich hier, bis ich weiß, wo der Soldat ist.«

Ein metallisches Klopfen erklang neben ihr. Als sie sich zur Seite drehte, stand der Greif lässig im Türrahmen. Auf seinen Lippen lag ein interessiertes Grinsen.

»Dein Wort in den heiligen Ohren der Verwaltung«, meinte er. »Bleibt offen, was du tun wirst, wenn du deine Antwort hast, Sweetie. Dich aus dieser Unterkunft schleichen, die SDF überlisten und … ihn hinrichten?«

Er musterte sie aufmerksam. Der Greif, der genüsslich seine Beute betrachtete. Für ihn war sie doch nur jemand, den man gut und gerne entbehren konnte. Und so jemand nannte sich Lorcafreund.

»Ich tue, was nötig ist«, sagte sie mit Nachdruck, dabei fühlte sie sich längst nicht mehr wohl in ihrer Haut.

»Was nötig ist, also? Starke Worte aus dem Mund einer Frau, die sich seit Tagen in ihre Zimmer verkriecht.«

»Jay, es reicht. Das ist alles andere als zielführend.«

»Das ist es durchaus«, sagte er, ohne den Blick von Rina abzuwenden. »Willst du ihn töten, den Soldaten? Bist du bereit, für deine Rache jemanden bluten zu lassen? Wenn ja, dann hast du eine Ahnung davon, was wir hier tun. Wir spielen nicht mit harmlosen Plastikwaffen. Es ist bitterer Ernst und manchmal verfehlen wir das Ziel. Das gehört dazu. Dein Problem ist nicht der Soldat, sondern die Verwaltung und was sie aus uns macht: Mörder.«

Etwas in Rina kreischte laut auf und wollte ausbrechen. Wie er so dastand und auf sie herabsah, verströmte er selbst die Aura eines Stadtverwalters.

»Ich töte niemanden. Was ich tun werde, ist meine Sache.«

Er pfiff durch die Zähne und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich nehme an, es hat etwas mit deinem Lorcaism zu tun. Der Einzigartigkeit, die dich neben den äußerlichen Dingen von uns unterscheidet. Was hat dir deine genetische Abnormität geschenkt? Du bist schnell, hast verhältnismäßig viel Glück und kannst dich offenbar gut anschleichen, aber das ist es nicht. Es muss etwas sein, was dir stets den Arsch gerettet hat. Ein fotografisches Gedächtnis, ein überdurchschnittliches Gehör, Nachtsicht?«

»Ich besitze keinen Lorcaism«, sagte sie, doch der Greif blieb unbeeindruckt.

»Du lügst, das kann ich dir von der Nasenspitze ablesen. Du wirfst uns vor, Geheimnisse zu haben, aber verrätst nicht, was dir Vorteile bringt. Merkst du, dass da ein Missverhältnis besteht?«

Nun mischte sich der Rotfuchs wieder ein, doch ihre Worte hörte Rina nicht. Sie konnte die Gedankenfetzen des Greifs lesen. Sie waren sortiert und so durchschaubar wie Glas. Ihn zu steuern war keine Herausforderung. Es wäre sogar eine Leichtigkeit, gleich einem Räuspern, doch sie fiel nicht auf ihn herein. Er provozierte sie, um ihr zu entlocken, was sie selbst vor der Verwaltung verborgen hatte. Nun gut, dann würde sie ihm etwas geben, was ihn zufrieden stellte.

»Ja, ich habe einen Lorcaism«, sagte Rina. »Und ich kann euch helfen, den Totenläufer zu fangen. Wenn es eine Falle ist, dann lähme ich ihn, damit nichts passiert. Und danach spreche ich mit dem Soldaten.«

»Du kannst ihn lähmen?« Der Greif wusste, dass sie log. Sie bemerkte es an der Art, wie er den Kopf zur Seite legte und die Stirn runzelte. Der Adler auf seiner Wange zuckte. »Und das sollen wir dir glauben?«

»Es ist die Wahrheit.«

»Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist, immerhin …«

Der Greif unterbrach den Rotfuchs abrupt. »Wir brauchen einen Lorca bei dem Einsatz, darüber haben wir gerade noch gesprochen.«

»Jay, sie ist neu. Muss ich dir erklären, wie unsere Schonfristen sind und welche Trainings absolviert werden müssen, bevor jemand in einen Einsatz geschickt wird? Ganz zu schweigen davon, dass sie eben noch einem unserer Männer gedroht hat.«

Der Greif sah den Rotfuchs an. Eindringlich und ausdauernd. Es war fast so, als spräche er damit Worte aus, die nur sie beide verstehen konnten. Eine stille Kommunikation, die gewöhnlich nur unter guten Freunden gelang. Rina war sich jedoch nicht sicher, ob sie einander hassten, respektierten oder sogar mochten.

»Schön«, sagte der Rotfuchs. »Wie du willst, aber ich mache deinen Dreck dieses Mal nicht weg.« Damit schob sie sich an ihm vorbei.

Zum ersten Mal wagte Rina den Blick in das Besprechungszimmer. Drei weitere Mitglieder der REKA saßen schweigend im Raum. Ihre Blicke waren auf sie gerichtet. Sie wirkten interessiert, aber auch gefährlich fordernd. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Wollte sie wirklich daran beteiligt sein, wie man den gefährlichsten Mann Red-Mon-Stadts jagte? Nein, aber sie wollte den Soldaten.

Totenläufer

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