Читать книгу Totenläufer - Mika M. Krüger - Страница 5

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Das stete Rauschen des Meeres war Rinas einziger Begleiter auf ihrem Weg in eine ungewisse Zukunft. Sie blieb nicht stehen, um sich auszuruhen, verschnaufte nicht, um nachzudenken, sondern war wachsam und auf der Hut. Wenn ihr am Stadtrand ein Mensch begegnete, musste sie mit allem rechnen.

In der Ferne konnte sie die Sicherheitstürme blinken sehen. Das rote Licht spiegelte sich auf den Wellen und zeigte an, wo die Grenze verlief. Red-Mon-Stadt war eine Insel inmitten des Ozeans. Erbaut, um Schutz vor den Gefahren des Festlands zu bieten. Sicherheit und Frieden galten als das größte Gut, denn sie alle waren hierhergekommen, um frei von Angst leben zu können. Nur für Lorca hatte sich alles anders entwickelt. Die Stadt hielt ihnen gegenüber keine Versprechen, denn sie zählten zu den Nutzlosen und mussten jeden Tag aufs Neue um ihr Überleben kämpfen. Die Stadt war eine Arena, in der sie stets auf der Flucht war. Sicher war es nirgendwo.

Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht versuchen sollte, auf das Festland zu gelangen. Egal, wie streng die Hygienepolizei den Hafen kontrollierte, um zu verhindern, dass jemand flüchtete. Womöglich wartete weit hinter dem Meer ein besseres Leben auf sie.

Doch jetzt war ihre letzte Chance eine Gruppe von Menschen erfüllt mit Hass. Die Rebellen forderten zwar das Ende der Lorcavernichtung, waren jedoch nicht besser als die Soldaten der Stadtverwaltung. Viktor hatte oft gesagt, sie solle sich von ihnen fernhalten, da für sie der Zweck die Mittel heiligte. Hinrichtungen gehörten zum Tagesgeschäft, wehrlose Stadtbürger wurden zu Opfern. Sobald sie dort war, wäre sie Teil eines Aufstands, den sie nicht unterstützen wollte.

Während sie lief, ließ sie den Sichelturm nicht aus den Augen. Bald musste sie ins Zentrum der Stadt und sich durch die taghell erleuchteten Straßen kämpfen. Sie zog in Erwägung, am Stadtrand zu bleiben und abzuwarten, bis die Nachtsperre einsetzte. Die Lichter waren dann ausgeschaltet und nur wenige Zivilisten mit Sondergenehmigung auf der Straße. Dann verwarf sie den Gedanken. Wenn die Lichter der Stadt ausgingen, war die SDF am aktivsten. Da Lorca nur an düsteren Orten ihre helle Haut und die unnatürliche Augenfarbe verbergen konnten, wagten sie sich meist nachts aus ihren Verstecken. Jeder wusste das, deshalb war es sicherer, im Hellen durch die Straßen zu schleichen.

Bevor sie jedoch den Stadtrand verließ, duckte sie sich in einen Schatten zwischen zwei Gebäuden. Sie knetete ihre kribbelnden Beine und schickte einen Wunsch in die Dunkelheit. Dann strich sie ihre zerzausten Haare glatt, richtete sie mit den Fingern so, dass sie ihr Gesicht zur Hälfte verdeckten und machte sich auf den Weg.

Während sie lief, senkte sie den Blick, zwang sich zur Ruhe und redete sich gut zu. Sie war nur ein Mensch, genauso wie jeder andere. Dabei zählte sie ihre Schritte. 1 … 2 … 3 … 4 … Ständig verlor sie den Faden, da ihre Gedanken wieder und wieder zu der Wohnung zurückkehrten, in der sie ihre Freunde zurückgelassen hatte. An irgendetwas musste sie sich jedoch festhalten, um nicht auf ihre Füße zu hören, die sie drängten, fluchtartig bis zum Südmarkt zu rennen. Kam ihr ein Mensch entgegen, schoss ihr feurige Hitze durch den Körper. Würde er sie erkennen, schreien und mit erhobenem Finger auf sie zeigen?

Endlich erreichte sie den Sichelturm. Auf die gläsernen Eingangstüren war das Wappen Red-Mon-Stadts geschliffen. Ein gestauchtes Verteidigungsschild mit den Buchstaben RMS, das oberhalb die Form der Stadtsilhouette nachbildete. Über den Türen war ein metergroßes Display angebracht, welches einen ihr wohl bekannten Werbespot zeigte: Zuerst sah man die Stadt aus der Vogelperspektive. In der Mitte thronte das Verwaltungszentrum wie ein kostbares Juwel auf einem samtenen Podest. Von dort aus gingen in alle Richtungen strahlenförmig Straßen und Monoraillinien ab, die bis zum Stadtrand führten. Ein Szenenwechsel folgte und es wurde ein SDF-Soldat gezeigt. Das Bild eines anonymen Mannes, dessen Gesicht nicht zu erkennen war und der mit einer Waffe in der Hand von einem Dach aus die Stadt im Auge behielt. Sie erkannte ihn sofort – den Totenläufer. »Wir garantieren euch Sicherheit, solange ihr der Stadt treu bleibt«, propagierte eine Männerstimme. Wieder wechselte die Szene. Die Einkaufspassage Maxshopper wurde eingeblendet. Ein Gewimmel aus bunt leuchtenden Reklameschildern und Bürgern, die friedlich durch die Straße schlenderten. Dann wurde der Bildschirm abgedunkelt und Schrift brach aus der Schwärze hervor: »Im Namen der Bewohner Red-Mon-Stadts kämpfen Soldaten, egal wie gefährlich die Mission ist.« Ein Schwenk auf einen streunenden Lorca, der hässlich die Zähne bleckte. Aus Angst, aber sie verkauften es so, als täte er es mutwillig. Danach Bilder von sterbenden Menschen, zuletzt ein Schnitt, und eine dumpfe Stimme echote über den Vorplatz: »Der Totenläufer ist unsere Antwort auf die Lorcagefahr.«

Rina wandte sich ab. Ihr Herz raste. Sie musste ein Versteck finden und zwar schnell. Irgendwo zwischen den Brücken wäre eine Möglichkeit. Es gab ab und an Hohlräume in der Struktur, die groß genug waren, um sich darin zu verbergen, doch so einen Platz zu finden, konnte im schlimmsten Fall Stunden dauern.

Ihre Gedanken wirbelten unruhig durch ihren Geist, obwohl Nachdenken sie nicht weiterbrachte. Sie musste sich bewegen, durfte nicht verharren. Wenn sie wartete, konnte ihr Gesicht jederzeit von einer Kamera aufgenommen und als Bedrohung enttarnt werden.

Mit den Augen suchte sie die Umgebung ab und entdeckte eine Transportröhre. Sie diente der Warensendung und war groß genug, um sich geduckt darin aufhalten zu können. Ihr Blick wanderte auf die Straße. Bis auf ein oder zwei Fußgänger war niemand in der Nähe.

Jetzt oder nie. Rina huschte wie eine streunende Katze entlang der umliegenden Häuser und umging dabei den Vorplatz des Sichelturms weitläufig. Die Hälfte war geschafft. Nur noch ein paar Meter. Schnell lief sie über eine Brückenkonstruktion. Unter ihr rauschten Monorailautos dahin und verloren sich irgendwo zwischen den Häusern wie Blitze in einer dunklen Nacht. Das Licht der Brückenlaternen fiel auf sie. Jeder konnte in diesem Moment ihr verräterisches Äußeres erkennen. Sie rannte. Nicht mehr weit. Nicht mehr weit. Gerade als sie sich aufmachte, auf einen Baum zu steigen, von dem aus sie die Transportröhre erreichte, hallte ein schrilles Heulen über den Vorplatz.

Das unverkennbare Geräusch eines Alarms.

Hastig kletterte sie den Baum hinauf, stieg über einen Ast auf die Transportröhre, lief bis zur nächsten Häuserwand. Der Einlasser für Pakete war geschlossen. Hoffentlich war der Sicherheitsschlüssel zum Öffnen noch immer so simpel wie vor einem Jahr. Mit kalten Fingern drückte sie auf das Display. 1-3-5. Nichts rührte sich. Variante zwei. 2-4-6. Immer noch nichts. Der Alarm klingelte in ihren Ohren. Ihr blieben nur noch zwei Nummern.

»Bitte«, flüsterte Rina und tippte 3-5-7. Ein Klicken ertönte und die Klappe öffnete sich.

Rasch ließ sie sich in die Transportröhre hinunter, zog den Deckel zu und horchte auf das, was sich draußen abspielte. Das Geräusch von Stiefelsohlen, die auf den Boden schlugen, ertönte. Rina biss sich auf die Lippe. Sie waren bestimmt nicht wegen ihr da. Schüsse ertönten. Der Geschmack von eisiger Kälte lag ihr auf der Zunge. Ihre Glieder wurden steif, verkrampften sich, sie presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie glaubte, sie würden zerspringen. Doch Rina behielt Recht, die Schüsse galten nicht ihr. Vorsichtig kroch sie durch die Röhre, bis zu einer Stelle, wo ein Spalt im Metall zu finden war. Sie blickte hindurch und sah den Vorplatz. Eine Gruppe von Leuten stürmte aus dem Haupteingang des Sichelturms heraus. In ihren Händen hielten sie Maschinengewehre, trugen jedoch keine Soldatenuniform. Rebellen. Das da draußen waren Rebellen.

›Hier bin ich‹, rief sie in Gedanken. ›Ich bin hier!‹

Ihre Finger legten sich auf das kalte Metall. Niemand sah sie, niemand hörte sie.

Sie strebten in Richtung Südmarkt, kamen jedoch nicht weit. Von der Seite her tauchten SDF-Soldaten auf. Gewehrfeuer durchkämmte die Stille der Nacht. Befehle wurden gebrüllt. Schmerzerfüllte Schreie mischten sich darunter. Das Lärmen eines Hubschraubers war zu hören. Keine Chance. Die Rebellen hatten keine Chance. Einer nach dem anderen fiel, sank auf die Knie. Blut verteilte sich auf den Platten des Vorplatzes. Eine Bombe explodierte im Sichelturm. Qualm, Chaos, Durcheinander.

Rina wandte sich ab. Kauerte sich in der Röhre zusammen und presste ihr Gesicht auf die Knie. Jeder Schuss ließ sie zusammenfahren. Tot. Alle tot, so wie Viktor und die anderen, die sie im Stich gelassen hatte. Wie sehr sie es hasste, das Lied des Todes. Warum konnte es nicht aufhören? Wieso war der Kampf nötig? Rebellen gegen Soldaten. Nutzlose gegen Nutzvolle. Schwarz gegen Weiß. Sinnlos. Besser war es, wenn niemand mehr auf diese Weise starb. War das wirklich so schwer?

Die Einzigen, die lebend den Vorplatz verließen, waren die SDF-Soldaten. Sie waren bereit, alles zu tun, was man ihnen befahl. Die Sondereinheit Red-Mon-Stadts. Vielleicht war er unter ihnen. Der Soldat, der sie verschont hatte. Vielleicht dachte er gerade an sie und zweifelte an der Entscheidung, sie ausgerechnet hierher geschickt zu haben. »Ich muss verrückt sein«, waren seine Worte gewesen und das war er. Ab jetzt zählte er zu den Mittätern, zu den Verrätern, zu den Rebellen. Menschlichkeit wurde bestraft, denn diese Stadt ernährte sich von Angst und Grausamkeit.

Totenläufer

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