Читать книгу Totenläufer - Mika M. Krüger - Страница 17

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Es war eine absolute Kurzschlussreaktion. Rina hörte die Worte des Rotfuchses und etwas in ihr änderte sich schlagartig. Tom im Notausgang. Ihm auf den Fersen: der vermeintliche Totenläufer. Zwei Soldaten auf dem Weg zu ihm. Nicht sicher, ob er es schaffte. Sie mussten ihm helfen, hatten jedoch nur eingeschränkte Möglichkeiten, denn niemand wusste, in welchem Teil des Gebäudes sich die anderen beiden Soldaten befanden. Ob sie aus dem Obergeschoss kamen oder jene waren, die unten die Lage kontrolliert hatten. Als dann unweit von ihnen entfernt ein Soldaten-Duo in Position ging und sie in Schach hielt, wurde ihr eines klar: Er würde sterben und sie mit all den Vorwürfen zurücklassen, die durch ihren Kopf geisterten. Die Zeit in der kleinen Wohnung, die Nähe, die sie Viktor gegenüber empfunden hatte, all die Momente in ständiger Sorge, entdeckt zu werden und das zerbrechliche Gefühl, irgendwo dazuzugehören – mit dem Tod des Soldaten wäre das vergessen. Genauso wie bei den Malen davor. Sie brauchte ihn, musste ihn zur Rede stellen und seinen Geist zerstören, damit er lernte, wie schmerzhaft es war, jeden Einzelnen sterben zu sehen.

Deshalb tat sie es, entgegen aller Vernunft und im Widerspruch zu ihrem panischen Überlebensinstinkt. Sie trennte sich von der Gruppe, unbemerkt, weil sie es gewohnt war, lautlos durch die Welt zu schleichen.

Leichtfüßig wie eine Katze streunte sie durch die Gänge, bis sie einen Raum erreichte, von dessen Fenster aus sie in den Hinterhof sehen konnte. Der Nebel behinderte die Sicht, aber sie entdeckte einige Gestalten, die zügig näher kamen. Der Soldat musste dort draußen sein und die SDF war ihm bedrohlich dicht auf den Fersen.

Sie duckte sich unter das Fenster und lauschte. Die Zeit verstrich. Jede Sekunde konnte die letzte sein. Angst kreischte in ihrem Körper, ihre Finger waren eisig.

Dann sah sie erneut über die Fensterkante hinweg auf den Hof. Scheu wie ein in die Enge getriebenes Tier. Und tatsächlich erkannte sie eine Person mit der Kleidung eines Rebellen. Ihre Finger krallten sich um den Stoff ihrer Hose. Hinter ihm waren zwei SDF Männer und weiter entfernt ein dritter. Sie hatten sich aufgeteilt, kreisten ihn ein und wollten verhindern, dass er über den Häuserdurchgang zur Seitengasse gelangte.

Sie musste sich auf die Männer konzentrieren. Die Entfernung stellte ein Problem dar, aber es war nicht unmöglich. Zuerst der Soldat vorn. Ihr Geist öffnete sich und zahllose wirre Gedanken prasselten auf sie ein. Ein Stich raste durch ihren Kopf und ließ sie erschauern. Ihre Lippen bewegten sich unruhig. Sortieren, sortieren, sie musste das Chaos sortieren. Dann fand sie einen Gedanken und packte ihn mit aller Kraft. Er war dem Unterbewusstsein des Soldaten entsprungen und so belanglos, dass er vielleicht nicht stark genug war, aber sie versuchte es. Ließ ihn wachsen, damit er eine klare Form annahm und gab ihm dem Mann zurück. Abrupt blieb er stehen, drehte sich in die entgegengesetzte Richtung und sah zum Himmel. Die Waffe glitt aus seinen Händen. Wieso hatte er heute Morgen eigentlich keinen Kaffee getrunken? Kaffee, ja, den sollte er sich jetzt gönnen. Im Schlenderschritt lief er in Richtung Rohbau und vergaß seinen Einsatz.

Nun der Zweite. Als sie sich seinen Gedanken näherte, schlug ihr Schwärze entgegen und sie krümmte sich vor Schmerz. Aus der Übung. Sie war aus der Übung. Doch sie ließ nicht nach, entdeckte, verwarf, spürte, verwarf, bis sie etwas Nützliches fand und diesen Gedanken mit aller Macht in den Vordergrund rückte. Es war ein hässlicher Gedanke, einer, den sie so nicht hatte finden wollen. Auch er blieb stehen, sah sich nicht um, lockerte nur seine Haltung und tat das, worüber er seit Monaten nachgedacht hatte aus einem Impuls heraus. Rinas Stimme flüsterte ihm zu, es sei in Ordnung, er bräuchte sich nicht schämen. Niemand wartete auf ihn. Er richtete die Waffe auf sich selbst und drückte ab.

Rina wollte auch den dritten Soldaten. Sie versuchte es, doch erreichte ihn nicht. Zu erschöpft, zu sehr überanstrengt. Ihr war bitterlich kalt, so als hätte man alles Leben aus ihr herausgezogen. Kalt. Nur noch kalt und erschöpft. So stark durfte sie keinen Einfluss nehmen, das war gefährlich. Aber was hätte sie tun sollen? Was hätte sie anderes tun sollen?

Totenläufer

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