Читать книгу Totenläufer - Mika M. Krüger - Страница 20

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Kapitel 4

»Wir haben drei Soldaten verloren und Leutnant Talwar befindet sich in Gefangenschaft.« Die Stimme des Soldaten Rob McKanzie klang gefasst. Er stand aufrecht vor ihr, hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und seinen Blick auf einen Punkt an der Wand gerichtet. Doch so sehr er sich auch bemühte, seine Furcht nicht zu zeigen, vor Amanda konnte er sie nicht verbergen. Sie konnte seine Angst förmlich riechen. Es war der Duft eines Versagers und sie genoss ihn.

Als Verantwortliche für Einheit 203 hätte sie wohl wütend oder gar enttäuscht sein müssen, doch ihr Gemütszustand ließ sich vielmehr mit positiven Attributen beschreiben. Triumph, Bestätigung und Überlegenheit. Sie hatte dieses Ende lange vorausgesehen.

»Ich bin über den Ausgang des Einsatzes von Einheit 203 bereits informiert«, sagte sie und deutete auf den Stuhl gegenüber ihrem Bürotisch. »Setzen Sie sich Soldat.«

Ohne Umschweife kam er der Aufforderung nach und nahm in militärischer Manier Platz. Seine überkorrekten Bewegungen deuteten auf äußerste Anspannung hin. Er war kein Ersatz für Neel, vielleicht eine traurige Kopie, doch niemals so effektiv wie er, niemals so … anregend.

»Sir, ich wollte …«

»Madam«, berichtigte sie den Soldaten und beobachtete, wie ein Muskel unterhalb seines Mundes unruhig zuckte.

»Madam, natürlich. Es war ein Hinterhalt der REKA. Zwei von ihnen wurden von Leutnant Talwar während des Einsatzes erschossen. Ihre Leichen sind nach Safe City überstellt worden. Beides vermutlich Personen ohne Nutzen, deren RMS-ID gefälscht war. Die Gesichtserkennungssoftware hat ihre persönlichen Daten preisgegeben. Es kann aber sein, dass diese von der REKA frisiert worden sind. Ziel des Hinterhalts war allem Anschein nach die Gefangennahme von Leutnant Talwar.«

»Auch das, Soldat, ist mir bereits bekannt.« Sie ließ den Satz wirken, klopfte mit einem Finger auf den Tisch. Das Zucken an seinem Mundwinkel hörte auf. »Das Interessante ist nicht die Tatsache, dass ihr versagt habt oder weshalb die Aufständischen tun, was sie tun. Derlei Nebensächlichkeiten bringen uns nicht weiter. Von Bedeutung ist die Frage, wie sie einen Lorcaalarm auslösen konnten, ohne dass das Kontrollsystem einen Fehler gemeldet hat. Das ist bedenklich. Vermutlich hat jemand unser Sicherheitssystem gehackt. Weiterhin ist zu hinterfragen, woher sie wussten, dass Einheit 203 auf genau diesen Alarm reagiert. Können Sie mir folgen, Soldat?«

»Ich kann Ihnen folgen, Madam«, sagte er und ergänzte: »Mit diesen Fragen beschäftigt sich bereits die Hygienepolizei.«

»Die Hygienepolizei«, antwortete sie. »Das ist ein wirr zusammengewürfelter Haufen mit lascher Führung. Auf die kann sich doch niemand verlassen. Ist Ihnen klar, welche Auswirkungen dieser Fehlschlag für Red-Mon-Stadt hat?«

»Natürlich, Madam«, sagte er und käute schnell einen Leitsatz des von ihm abgelegten SDF-Kodex wieder. Auswendig gelernter Dreck ohne Inhalt: »Sollte Einheit 203 nicht mehr bestehen, ist die Sicherheit dieser Stadt gefährdet. Es ist das oberste Ziel, die Existenz dieser Einheit zu sichern, die in der Öffentlichkeit als Totenläufer bezeichnet wird. Deshalb habe ich mich bereit erklärt, die Aufgabe …«

»Und warum ist das so, Soldat McKanzie?«, unterbrach sie ihn abrupt. »Weshalb wird es Chaos geben, wenn diese Einheit nicht mehr existiert?«

Sie konnte sehen, wie er darüber nachdachte, versuchte, einen logischen Schluss zu ziehen, doch natürlich gelang ihm das nicht. Um diesen Zusammenhang begreifen zu können, hätte er verstehen müssen, wie die Menschen hier agierten. Und nicht nur das, er hätte wissen müssen, auf welch brüchigem Fundament die Stadt erbaut worden war. Auf haltlosen Idealen einer Utopie. Wer ein Ziel bekommt, ist keine Bedrohung. Ein Ort ohne jede Bedrohung ist ausnahmslos sicher. Sicherheit und Nutzen an erster Stelle, alles andere ordnete sich unter.

»Ich weiß es nicht, Madam«, sagte er nach einer Weile und sie schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. Dummkopf.

Am Rand des weiß lackierten Bürotisches befand sich ein Sensor, über den sie nun ihren Zeigefinger gleiten ließ. Augenblicklich öffnete sich in der Mitte des Tisches eine spiegelglatte Bedienoberfläche, die als Touchscreen diente. Aus einem Schubfach holte sie einen länglichen Kopfhörer heraus, steckte ihn sich ins Ohr und öffnete in rascher Geschwindigkeit das Telefonbuch auf dem Screen. Sie wählte eine Durchwahl, die sie blind hätte eingeben können.

Während sie wartete, lehnte sich Amanda im Stuhl zurück und musterte den Soldaten erneut. Inzwischen war seine Anspannung so groß, dass seine Hände, die flach auf den Oberschenkeln lagen, bebten. Er wusste sehr genau, wer sie war und was sie tun konnte. Sehr schön, zumindest in diesem Punkt hatte er keine Wissenslücke.

Eine vertraute Stimme meldete sich: »Amanda, ich bin mitten in einer Besprechung. Wir verschieben das auf Später.« Stadtverwalter Katsura Okanawa. Wie immer hielt er die Farce des starken Mannes aufrecht und versuchte, ihr Vorschriften zu machen. Doch auch heute war er darin nicht konsequent. Anstatt einfach aufzulegen, wartete er auf ihre Zustimmung. Sie hatte ihn gut erzogen. Angst war ein effektiver Lehrmeister.

»Das ist natürlich bedauerlich, Okanawa. Nur habe ich hier ein Problem, das wir nicht aufschieben werden.«

»Wie ich sagte, das müssen wir später klären. Ich melde mich in einer Stunde.«

»Diese Option steht nicht zur Debatte. Entweder finden wir jetzt sofort eine Lösung oder gar nicht.«

»Amanda, ist das jetzt wirklich nötig?«

»Das ist es.«

Es raschelte und sie hörte, wie er sich bei den Anwesenden entschuldigte. Das Surren einer elektrischen Türvorrichtung und seine Schritte auf dem Gang ertönten.

»Ich höre«, erwiderte er knapp. Den Unmut über ihre Störung konnte er nicht verstecken.

»Ich brauche drei neue Männer für Einheit 203 und einen Leutnant«, sagte sie und dachte bei sich, dass es schon bedauerlich war, die Hälfte ihrer Einheit durch die Rebellen verloren zu haben. Sie hatte angenommen, Neels Gefangennahme könne ohne große Verluste zum Ende gebracht werden, immerhin war das doch die Philosophie der REKA. So wenig Opfer wie möglich. Da hatte sie Tom Lichterfeld und Jay McCullum wohl falsch eingeschätzt.

»Du musst dich gedulden. Wir haben die Ausbilder der SDF informiert, es ist nur sehr schwierig, Soldaten mit passender Qualifikation zu finden. Hast du mit Rob McKanzie gesprochen? Seine Statistik ist tadellos.«

Tadellos war eine Übertreibung. Er mochte überall die neunzig Prozentmarke überschritten haben, aber von einem Perfekt war er weit entfernt.

»Du brauchst mir nicht mit den Zahlen meiner eigenen Einheit kommen. Ich kenne sie besser als jeder andere«, sagte sie. »Rob McKanzie ist keine Alternative. Selbst wenn er die Kurzausbildung zum Leutnant durchläuft, wird er den Anforderungen nicht gerecht.«

»Er ist die einzige Alternative, die wir haben. Zeit ist ein wichtiger Faktor, Amanda, und die brauchen wir, um Ersatz zu finden. Zumindest die Frage des Leutnants muss schnell geklärt werden. Um die anderen drei kümmern wir uns später. Einheit 203 muss einsatzfähig bleiben. Das ist alles, was zählt.«

»Sag du mir nicht, was geht und was nicht. Ich brauche einen Mann, der versteht, was ich ihm sage und diese Anweisungen konsequent umsetzt. Bereits Neel Talwar war ein Kompromiss. Sein Alleingang hat diese Situation provoziert. Ich habe meine Bedenken zu seiner Person mehr als einmal geäußert. Dass wir jetzt in dieser Lage sind, ist die logische Konsequenz aus einer Reihe von Fehlentscheidungen. Dir wird klar sein, dass ich mich aus eben diesen Gründen nicht weiter zurückhalten werde. Es ist meine Einheit. Ich entscheide.«

»Wir lassen uns nicht erpressen«, entgegnete er, doch Amanda wusste es besser. Alle Menschen waren erpressbar. Man musste ihnen nur den richtigen Brocken zuwerfen und schon fügten sie sich ganz von allein.

»Okanawa«, sagte sie gespielt freundlich. »Ich nehme an, ein weiterer Skandal würde deine Karriere beenden? Oder stehen die anderen Stadtverwalter neuerdings geschlossen zu dir?«

Am anderen Ende rang der Stadtverwalter mit seiner Antwort. Er wollte es nicht darauf ankommen lassen, ihr gleichzeitig aber auch nicht zu viel Macht gewähren. Zu spät. Sie hatte ihn bereits unter Kontrolle.

»Vier Männer?«, fragte er.

»Richtig.«

»Ich gebe dieser Sache die höchste Priorität. Eventuell bekommst du jemanden aus der Marine. Was passiert mit McKanzie?«

»Oh, ich hätte da einige angenehme Ideen«, antwortete sie, sah flüchtig zu dem Soldaten herüber und stellte sich vor, wie sie ihm mit einer fließenden Bewegung die Kehle aufschnitt, damit er vor ihren Füßen ausblutete. Das war eine gute Fantasie.

»Darüber diskutieren wir nicht. Er ist einer unserer Männer und hat sich nichts zu Schulden kommen lassen.«

»Wenn das so ist, bleibt er in Einheit 203.«

»In Ordnung«, Okanawa machte eine Pause und sagte mehr zu sich selbst: »Jemanden wie Neel Talwar werden wir jedoch nicht so schnell finden. Er war ein absoluter Glückstreffer.«

»Gib dir Mühe«, antwortete Amanda und beendete das Gespräch. Glück gehörte nicht zu den Wörtern, die sie verwendete, denn es existierte nicht. Man musste Chancen nutzen, zur rechten Zeit agieren und Situationen richtig einschätzen, mehr zählte nicht.

Sie hatte sich der Glasfront ihres Büros zugewandt und konnte auf die Skyline Red-Mon-Stadts blicken. Zahlreiche Hochhäuser verdeckten den Horizont, unten bewegten sich Menschen wie Ameisen auf der Flucht und dazwischen rasten die Monorailbahnen kreuz und quer durch ein Netz aus Brücken, Straßen und Fußgängerwegen. Jeder Zentimeter wurde genutzt, jedes Detail war perfekt ausbalanciert. Diese Stadt gehörte ihr. Sie war ihr Baby und sie allein wusste, an welchem Strang man ziehen musste, um alles zum Einstürzen zu bringen. Ihre Entscheidungen beeinflussten maßgeblich das Denken der Menschen, dazu musste sie keine Verwalterin sein.

»Herzlichen Glückwunsch, Rob«, sagte Amanda und wandte sich dem Soldaten zu, der auf dem Stuhl ein klein wenig nach unten gerutscht war. »Sie werden die Stelle als Nachfolger des Totenläufers nicht ausfüllen.«

Der Geruch von Angst verflog, sein Gesicht entspannte sich. Die Züge wurden weicher. Hässlich, dieser Mann war einfach widerwärtig schwach.

»Sie können abtreten.«

Er stand auf, klappte die Füße aneinander und verabschiedete sich mit einem knappen: »Madam.« Dann verließ er den Raum.

Sie betrachtete die geschlossene Automatiktür und dachte an nicht viel.

Nach einiger Zeit flüsterte sie: »Was für ein Pech, dass ich dich weggeben musste.«

Sie würden sich wiedersehen, wenn es so weit war. Vermutlich glaubte er dann, sich von der Verwaltung gelöst zu haben. Eine naive Überzeugung. Sie würde ihn niemals freigeben.

Hastig strich sie über den Touchscreen. In einem Ordner, den sie auf dem Desktop abgelegt hatte, fand sie eine Datei, die sie öffnete. In simplen, schwarzen Lettern stand dort: Nutzversicherung. Ein Wort, welches nicht annähernd ausdrückte, welch ausgeklügeltes Konzept von Abhängigkeit sich dahinter verbarg. Darunter waren in einer Tabelle die Ergebnisse des Fähigkeitstests notiert. Werte, die über die Zukunft eines Menschen entschieden. Werte, die leicht zu fälschen waren. Sie scrollte nach unten und betrachtete die saubere Unterschrift. Die makellosen Buchstaben, das stählerne Blau. Zwei Worte, die ihr jedes Mal ein Gefühl übermächtiger Genugtuung verschafften: Neel Talwar. Wenn er wüsste, wenn er auch nur ahnte ...

Ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. Gläsern und maskenhaft. Er war eine Marionette und ein Idealist. Unglaublich, wie leicht er sich von scheinheiligen Motiven leiten ließ. Ein Musterbeispiel an Selbstaufgabe. Sie kannte ihn, doch begreifen konnte sie es nicht. Diese Hingabe, mit der er verzweifelt an etwas festhielt, was längst verloren war. Er konnte Schmerzen ertragen, doch das war nicht, was sie wollte. Sie wollte sehen, wie er an seine Grenzen ging, diese überschritt und in tausend Teile zersplitterte, damit sie auf seinen Resten tanzen konnte.

Totenläufer

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