Читать книгу Totenläufer - Mika M. Krüger - Страница 4

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Kapitel 1

Die Welt drehte sich rückwärts. Sie waren tot. So tot wie zertretenes Ungeziefer oder Ratten mit Genickbruch. Keiner von ihnen würde erneut aufstehen, den Himmel sehen, das Wasser rauschen hören, atmen. Allein Rina hatte es geschafft, so wie immer.

Doch dieses Mal war sie nicht unbemerkt entkommen, denn ein SDF-Soldat folgte ihr. Seine vagen Schritte zwischen Regen und Wind glichen der Präsenz eines Raubtiers auf der Jagd. Niemals würde er sie laufen lassen. Dabei konnte sie nicht sterben. Nicht jetzt, wo alle anderen gegangen waren. Sie musste sich an ihre Überlebensformel erinnern: Schau niemals zurück, sprinte in die Zukunft, denn alles andere hat keine Bedeutung.

Rina rannte über die hohen Metallbrücken des Wohnviertels, die über ein weit verzweigtes Netz aus Straßen und Fußwegen führten und ließ silbergraue Hochhäuser hinter sich. Sie musste zum Stadtrand. Dort gab es ein Versteck, wo sie bis zum Morgengrauen sicher war. Wenn sie schnell genug dorthin gelangte, hatte sie eine Chance.

Hastig sprang sie die Treppen zum tiefergelegenen Stadtteil herunter, überquerte den Fußgängerweg, sah einen Monorailzug an sich vorbeirauschen, hörte, wie sich ihr Atem gehetzt aus der Lunge presste. Kalter Regen peitschte ihr ins Gesicht und sie glaubte, das Salz des Meeres zu schmecken. Ganz gleich, ob das Meer noch viel zu weit entfernt war.

Sie zwängte sich an Passanten vorbei, die sich angeregt unterhielten und richtete den Blick starr auf den Boden, um nicht erkannt zu werden. Hoffentlich tat man sie als verwirrte Person ab und ging nicht von einer Bedrohung aus.

Plötzlich stieß jemand heftig gegen sie. Rina stolperte und prallte gegen eine Frau, an der sie sich festklammern musste. Etwas ging zu Boden und zerbrach scheppernd.

Vor Schreck entfuhr der Frau ein erstickter Schrei und sie stieß Rina von sich weg.

»Pass doch auf, wo du hinläufst«, schimpfte sie, doch Rina gab nichts darauf, wandte sich ab und wollte fort. Sie durfte auf keinen Fall stehen bleiben und schon gar nicht diesen Leuten zu nahe kommen. Wenn sie ihr ins Gesicht sahen, dann …

Jemand packte ihren Arm und riss sie herum. Der Soldat? Nein, er hätte sie erschossen, wäre er schon so dicht bei ihr gewesen.

»Kannst du nicht die Augen aufmachen?«, fauchte ein Mann in blauem Overall. »Das Monotab wirst du mir ers…«

Er brach ab, sah sie an, lang und ausdauernd, bis er begriff, was da vor ihm stand. Ihre schneeweiße Haut und die goldenen Fäden in ihrer Iris ließen sich nicht verbergen. Sofort löste er seinen Griff und in seine Miene schlug sich blutrote Panik.

»Ein Lorca!«, brüllte er, »Sie ist ein Lorca! Und ich habe sie angefasst!« Ungläubige Blicke streiften sie, fühlten sich an wie heißes Metall auf nackter Haut. Einem Sicherheitsrisiko wie ihr auf offener Straße zu begegnen, waren die Stadtbürger nicht gewohnt, denn normalerweise entsorgte die Verwaltung jemanden wie sie. Da gab es keine Ausnahmen.

Eine Person schrie vor Entsetzen und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Rina. Ihr Atmen wurde unregelmäßig, der Körper bebte. Keine Zeit, sich darauf zu konzentrieren. Augenblicklich wandte sie sich ab, kämpfte sich durch die Menschen, die sich um sie drängten und hörte nicht auf die Worte, die ihr nachgerufen wurden. Sie wusste genau, was die Leute sagten. ›Stirb Lorca, stirb!‹

Der Soldat war bedrohlich näher gekommen. Trotz schwindender Kraft beschleunigte sie ihren Schritt, passierte die Bogenstraße, rannte an länglichen Wohnkomplexen mit Glasfassade vorbei, schlug Haken, um kein zu leichtes Ziel abzugeben.

Dann endlich taten sich vor ihr die skeletthaften Neubauten auf, die den Stadtrand ankündigten. Nur noch ein paar Schritte und ihr konnte nichts mehr geschehen. Sie setzte zum Sprint an, nahm all ihre verbliebene Kraft zusammen, um schneller zu sein als ihr Verfolger.

Am Meer angelangt, blieb sie kurz stehen, sah nach rechts und links und entdeckte den Bootssteg, unter dem sich in der aus Beton gefertigten Stadtplattform ein Ablaufkanal befand. Rasch lief sie dorthin, kroch über den Rand der Stadtgrenze, stieg auf einen Vorsprung, kletterte zur Seite, erreichte den Metallsteg, sah das runde Loch unter sich, streckte das Bein aus, um es zu erreichen.

Das Klicken einer Waffe über ihrem Kopf. Sie sah auf. Der SDF-Soldat in tiefdunkelblauer Uniform hatte seine Waffe auf sie gerichtet. Regentropfen prasselten auf seinen Helm. Der Tod höchstpersönlich stand vor ihr.

Rina wollte einen seiner Gedanken greifen und dafür sorgen, dass er es sich anders überlegte, aber es gelang ihr nicht. Sein Geist war ungewöhnlich stur und schien von dichtem Nebel umgeben zu sein. Trotzdem zögerte er. Zögerte, zögerte, zögerte …

Drei kurz aufeinanderfolgende Schüsse hallten durch die Dämmerung. Rina konnte fühlen, wie die eiskalten Klauen des Todes ihren Körper packten und fortrissen. Doch er rauschte an ihr vorbei und strandete im Meer.

Der Soldat hatte neben sie gezielt. Er schulterte seine Waffe, hockte sich hin und betrachtete sie. Wollte er mit ihr spielen? War das sein Plan? Würde er seine Überlegenheit nutzen, um ihr wehzutun, so wie es andere vor ihm getan hatten?

Sie rührte sich nicht, starrte ihn an, bis er mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung ihres Verstecks deutete. Ihr Hals wurde trocken und alle Kraft schien aus ihrem Körper zu weichen. Das konnte er unmöglich ernst meinen.

»Jetzt versteck dich da schon«, flüsterte er, als er merkte, dass sie sich noch immer nicht bewegte. »Hier taucht gleich noch wer auf.«

Und sie tat es, setzte einen Fuß auf die untere Kante des Ablaufkanals, suchte Halt an der Wand und kletterte hinein. Entkräftet duckte sie sich in die Dunkelheit und rutschte ein Stück nach hinten, bis sie im Rücken ein Metallgitter spürte. Sicher. Für den Moment.

Sie hielt den Atem an und lauschte auf jedes Geräusch. Erst war es still, dann hörte sie schwere Schritte und jemand fragte, wo der Lorca sei. Ins Meer gestürzt, war die knappe Antwort des Soldaten und sein Gesprächspartner stieß einen lauten Fluch aus. Der Mann sprach von Versagen, einer Verantwortung der Stadt gegenüber und Pflichten. Leichen durften nicht einfach verschwinden. Seine Worte glichen einer ängstlichen Belehrung, die er wohl nur formulierte, weil er genau wusste, wie gefährlich es war, Fehler zu begehen. Bis ihn der Soldat schroff unterbrach. Er solle nicht vergessen, vor wem er stand. Wenn die Statistik mal nicht stimmte, würde sich das nicht negativ auf das Ansehen der Einheit auswirken. Selbst ihre Vorgesetzte Amanda Whitman sei leicht zu besänftigen. Es lohne sich nicht, wegen solch einer Kleinigkeit die Fassung zu verlieren. Daraufhin folgte ein unverständliches Murmeln und erneut waren Schritte zu hören. Dann wurde es still.

Rina hatte die Arme um ihre Beine geschlungen. Ihre nasse Kleidung klebte an ihrem Körper, der vor Erschöpfung schmerzte. Ihre Gedanken kreisten inhaltslos und wirr durch ihren Kopf. Überall sah sie Blut. An den Wänden, an ihrer Haut, an ihrer Kleidung.

»Komm raus, wir sind allein.« Die Stimme des SDF-Soldaten drang aus der Ferne zu ihr. Er war noch da. Nur warum? Was wollte er von ihr? Sie blieb sitzen, hoffte, dass er sich auflöste wie manche ihrer dunkelsten Erinnerungen.

»Da unten wird dich die Hygienepolizei finden. Sie kennen die typischen Lorcaverstecke. Vor mir brauchst du dich nicht mehr fürchten. Wenn ich dich hätte töten wollen, dann wärst du es bereits. Ich bin niemand, der lange zögert.«

Was sollte sie tun? Jemandem wie ihm konnte sie nicht vertrauen. Erstarrt saß sie da, blickte hinaus auf das Meer und wünschte sich Ruhe. Einfach nur Ruhe.

»Ich sag es nicht noch mal. Wenn du da nicht rauskommst, bist du tot und ich warte nicht ewig.«

Ihr blieb keine andere Wahl. Deshalb kam sie aus dem Versteck heraus und griff mit ihren eisigen Händen nach der Plattformkante, um sich hochzuziehen. Jeder Muskel kreischte, beinahe rutschte sie ab und stürzte ins Meer, doch der Soldat packte sie am Arm und zog sie nach oben. Sein fester Griff schmerzte sie. Dann stand sie vor ihm, durchweicht und zittrig atmend. Ein ungeliebter Mensch mit einem panischen Überlebensinstinkt.

Er deutete die Stadtgrenze entlang. Hochhäuser türmten sich hinauf in den Himmel. Ihre Spitzen versanken im diesigen Schleier des Regens. Weißgelbes Licht drängte sich vereinzelt durch die weiße Wand. Red-Mon-Stadt war schön und hässlich zugleich.

»Siehst du das Hochhaus mit der Lichtersichel an der Fassade?«

Sie nickte stumm.

»Wenn du dich am Stadtrand hältst, kommst du in weniger als zwanzig Minuten da hin. Versteck dich in der Nähe. Sobald die Nachtsperre beginnt, gehst du bis zur U-Bahnstation Südmarkt.«

Wieder nickte Rina, obwohl sie nicht verstand, was sie dort sollte. Die U-Bahn war eine Einbahnstraße. Die Stadtverwaltung schickte seit Jahren ihre Schergen durch die Stationen, um Lorca aufzuspüren, die sich im Untergrund versteckten.

»Hast du verstanden? Das Gebäude mit der Sichel und dann Südmarkt, wenn die Nachtsperre ist. Sie werden dir helfen, wenn du dort ankommst.«

»Sie?«, brachte Rina hervor und hatte eine dumpfe Vorahnung. Es gab nur eine Gruppe von Leuten, die einem Lorca Zuflucht gewährten.

»Die Rebellen. Sie sind dort. Die Stadtverwaltung hält es geheim, aber sie haben die Kontrolle über das Gebiet. Also, findest du den Weg?«

»Ich finde ihn«, sagte sie.

»Und nicht vergessen: Kommt dir ein Mensch entgegen, siehst du nach unten. Von den Wohngegenden hältst du dich fern und mach einen Bogen um jeden, der zu offiziell aussieht.« Er pausierte. »Aber das muss ich dir wohl nicht erklären.«

Als sie in die Blende seines Helms sah, entdeckte sie dahinter ein paar Augen in Blattgrün. Sie wirkten ehrlich und ungewohnt vertraut. Wer war er? Ein Soldat? Ein Mörder? Ein Lorcafreund?

»Ich muss verrückt sein«, flüsterte er und innerlich stimmte sie ihm zu. Wer einem Lorca half, musste mit dem Tod rechnen.

›Danke‹, wollte sie sagen, aber das Wort steckte in ihrer Kehle fest. Diese eine Geste des guten Willens wog die unzähligen schlechten Taten nicht auf, die er im Namen der Stadtverwaltung begangen haben musste.

Gerade als er gehen wollte, zögerte er erneut.

»Wenn du den Rebellen begegnest, dann sag ihnen: Im kalten Sturm wird Blut vergossen.«

Dann lief er los. Seine Gestalt wurde schon nach kurzer Zeit vom Regenschleier verschluckt.

Rina war allein, durchnässt, verwirrt, aber entkommen. Sie war wirklich das Glückskind, von dem Viktor immer gesprochen hatte. Warum sonst sollte ein Soldat ihr Leben verschonen? Es war pures Glück. Nur manchmal fragte sie sich, ob es überhaupt noch eine Rolle spielte, wenn sie als Einzige zurückblieb. Ihr traten Tränen in die Augen. Die Welt drehte sich rückwärts.

Totenläufer

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