Читать книгу Totenläufer - Mika M. Krüger - Страница 8

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Sie lebte. Es war nicht zu leugnen. Irgendwo in ihrem Kopf kreischte eine Stimme, dass es nicht fair war, doch sie hörte nicht hin. Was war schon fair in einer Stadt, in der die Farbe deiner Haut und Augen entschied, ob du sterben musstest oder nicht.

Der Rebell führte sie durch einen der U-Bahntunnel. Es war stockfinster und Rina hatte Mühe, ihm zu folgen. Immer wieder stolperte sie über ihre Füße und glaubte, vor Erschöpfung zusammenbrechen zu müssen. Ein Zittern hatte sich in ihren Körper geschlichen wie ein Virus. Der Rebell hingegen redete unentwegt. Er sagte, dass der Unterschlupf der REKA einem Kaninchenbau glich. Überall Tunnel mit zahllosen Ausgängen. Südmarkt sei schon seit Monaten von ihnen besetzt, doch die Stadtverwaltung vertuschte diese Tatsache. Sie sprach von einem Erdrutsch, obwohl es nie einen gegeben hatte.

Rina konnte sich nur schwer auf seine Worte konzentrieren. Die Realität begann an ihr abzuperlen wie Wasser an Folie. Ein stetes Rauschen hastete durch ihren Kopf und sie meinte, unter einer Kuppel zu sein. Alles war seltsam trüb und dumpf. Schritte trieben vor ihr her. Zwischendurch roch es nach Erde und feuchtem Untergrund. Es wurde hell und weißes Deckenlicht brannte in ihren Augen. Lippen bewegten sich. Eine Leibesvisitation schloss sich an. Sie wehrte sich nicht. Lief von hier nach dort. Etwas Weiches wurde ihr um die Schultern gelegt. Bleierne Stille hüllte sie ein und etwas fiel von ihr ab, landete auf dem Boden und sickerte in den Grund. Sie sank in sich zusammen, fühlte sich plötzlich winzig und bedeutungslos.

Niemand blieb für ewig. Nichts war für die Unendlichkeit bestimmt, denn eine Linie hatte stets ein Ende. Alles andere war paradox. Endlichkeit machte das Leben erst lebenswert, hatte mal jemand gesagt. Nicht irgendjemand. Viktor. Es war sein Motto. Trotz all der Entbehrungen blickte er stets optimistisch in die Zukunft.

»Im kalten Sturm wird Blut vergossen«, flüsterte Rina, ohne sich dessen bewusst zu sein. Schreie klopften an eine verschlossene Tür. Tropfen von Rot und ein tiefdunkler Hass vermischten sich, wurden zu einer Bedrohung, die hinter einem blickdichten Vorhang auf sie lauerte und das Ende vieler Linien zeichnete.

Jemand schnipste und Rina erwachte.

»Ich sagte doch, sie hat einen Schock.«

Als sie aufsah, stand ihr gegenüber eine Frau mit kurzen, fuchsroten Haaren. REKA stand auf einem Tuch, das sie um ihren Arm gewickelt hatte. Rebellen. Richtig. Sie war nicht mehr in der Wohnung. Sie war an einem fremden Ort mit fremden Menschen.

»Bist du jetzt endlich wach?«, fragte ein Mann, der schräg neben ihr auf einem Stuhl saß. Unter seinem linken Auge prangte das Tattoo eines Adlers im Sturzflug. Waren Tattoos nicht verboten?

»Sie braucht ein Bett, eine Dusche und Ruhe. Wir können auch morgen mit ihr reden.«

»Morgen ist zu spät. Wir halten uns an die Routinen«, wandte der Mann ein und die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und warf Rina einen entschuldigenden Blick zu. »Also, Sweetie, plaudern wir doch mal ein bisschen. Was verschlägt dich zum Südmarkt?«

»Ich will nicht reden«, sagte Rina aus einem inneren Impuls heraus. Dieser Mann kam ihr falsch vor wie eine Schlange. Lässig saß er da, musterte sie unverhohlen aufdringlich und sprach in einem Ton, der verdeutlichte, dass er allein entschied, was als Nächstes geschah.

»Was du willst oder nicht willst, interessiert mich nicht. Du hast nachher noch genügend Zeit zum Alleinsein. Wir wechseln jetzt ein paar Worte miteinander und alles wird gut. Glaub mir, so ein Gespräch wirkt Wunder.« Bitterer Sarkasmus. Sie erkannte es daran, wie er »glaub mir« betonte. Einen Hauch zu selbstgefällig.

Rina sammelte sich. Erst jetzt bemerkte sie die weiche Decke über ihren Schultern. Die Rebellen mussten sie ihr bei der Ankunft gegeben haben. Ein Symbol ihrer falschen Gutmütigkeit. Sie zog die Decke herunter und legte sie neben sich ab. Mit solch einer albernen Geste würde sie sich nicht auf ihre Seite ziehen lassen.

Ihr entging nicht, dass die Frau verwundert die Stirn runzelte.

»Dann reden wir«, meinte sie und zwang sich, ihrer Stimme eine kräftige Note zu geben.

»Schön, dass wir das geklärt haben. Beginnen wir beim Standard, bevor wir zu den Details kommen. Wer bist du, woher kommst du und wie zum Teufel hast du es hierher geschafft?«

»Mein Name ist Rina Morita, ich hatte eine Nutzversicherung als Transporteurin, komme aus dem Wohnviertel von Westend und habe dort mit acht Lorca gelebt. Ein Mann namens Viktor hat uns versteckt. Vor einem Tag …« War es wirklich erst einen Tag her? »… hat uns die SDF entdeckt und ich bin geflohen. Am Stadtrand entlang bis zum Sichelturm und dann weiter zum Südmarkt.«

»Geflohen also. Und wie hast du das angestellt? Die SDF hat bei solchen Einsätzen eine Erfolgsquote von, lass mich lügen, hundert Prozent.«

»Ich war schnell.«

»Du warst schnell?«

»Ja.«

»Wie muss ich mir das vorstellen? Du bist in einer Wohnung, die SDF stürmt sie und du kannst einfach durch die Vordertür fliehen?«

»Durch das Fenster. Ich bin durch das Fenster, dann eine Etage nach unten geklettert, habe dort die Scheibe eingetreten und bin weggelaufen.«

»Und die Leute in der Wohnung darunter?«

»Es war niemand da.«

»Dann muss die Wohnungstür verschlossen gewesen sein.«

»War sie nicht.«

Der Mann schnalzte mit der Zunge.

»Das nenne ich ja mal Glück. Und von der SDF hat das niemand bemerkt?«

Rina dachte an den Soldaten und seine unglaublichen Worte im Regen. Sie antwortete nicht.

»Okay, anderes Thema. Vorhin hast du einen Satz gesagt. Erinnerst du dich noch daran?«

Der Satz, stimmt, sie hatte ihn ausgesprochen, dabei war das nicht nötig gewesen. Die Rebellen nahmen jeden Lorca auf. Zumindest waren das die Gerüchte.

»Rina, du brauchst vor uns keine Angst haben. Niemand wird dir etwas tun.« Nun sprach wieder die Frau. »Es ist nur so, dass nur ein paar Mitglieder diesen Satz überhaupt kennen. Er ist ein gut gehütetes Geheimnis und wir müssen wissen, woher du ihn kennst.«

Sie spürte, wie sich ein Knoten um ihre Kehle schnürte. Nur ausgewählte Mitglieder. Ein Geheimnis. Aber er war doch Soldat und hatte nichts mit der REKA zu tun.

»Hat ihn dir der Mann gesagt, der dich versteckt hat?«

Viktor? Nein, er war tot. War vor ihren Augen auf die Knie gesunken und zwischen seine grauen Haare hatte sich Blut gemischt.

»Viktor war das nicht.« Sie musste den Knoten um ihre Kehle nur lösen und die Worte aussprechen. So schwer war es nicht. Vier Worte. Nur vier Worte. »Es war ein SDF-Soldat.«

Ungläubiges Schweigen dehnte sich aus.

»Ein SDF-Soldat?«, fragte die Frau.

»Ja, es war einer von denen. Er hat die anderen umgebracht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Trotzdem hat er mich laufen lassen.« Welch Ironie des Schicksals.

»Und da bist du dir hundertprozentig sicher?«

»Das bin ich. Er hat mir auch gesagt, dass ich zum Südmarkt muss.«

Der Mann pfiff durch die Zähne und lehnte sich im Stuhl zurück.

»Das ist ja mal eine Aneinanderreihung von Zufällen.«

»Zufälle? Ich dachte, du bist der Letzte, der an so etwas glaubt?«

»Ich hab ja auch nicht gesagt, dass ich daran glaube.« Erneut betrachtete er Rina und schien ihre Miene deuten zu wollen. Hitze stieg in ihr auf. Unterstellte er ihr etwa, dass sie log?

»Ich lüge nicht«, sagte sie.

»Auch das habe ich nicht behauptet«, meinte er nur und fuhr sich mit den Fingern über das Kinn. »Wir haben kein Leck. So viel steht fest. Jedes unserer Mitglieder ist loyal.«

Rina sah auf die Hände in ihrem Schoß. Die Haut war rau und an einigen Stellen aufgeschürft.

»Er hat sie umgebracht«, murmelte sie. »Ich habe gesehen, wie er die Waffe auf sie gerichtet und abgedrückt hat. Emotionslos und gradlinig. Ohne ein kurzes Zögern. Er war der Erste in der Wohnung und der Einzige, der mich gesehen hat.«

Ein Soldat. Ein Mörder. Es war ihr zuwider. Die Frau legte eine Hand auf Rinas Arm, doch sie zuckte sofort zurück. Distanz. Sie brauchte Distanz. Wollte einfach nur ihre Ruhe, damit sie einen klaren Kopf bekommen konnte.

»Du kannst uns vertrauen. Wir werden dir nichts tun.« Vertrauen. Was bedeutete dieses Wort? Sie konnte sich nicht daran erinnern.

»Wieso hat er mich laufen lassen?«

Rina sah die Frau an, als könne sie ihr eine Antwort geben. Doch der Einzige, der diese Frage beantworten konnte, war der Soldat selbst.

»Ich weiß, es ist schwer, aber versuch dich noch einmal zu konzentrieren. Der Soldat, hattest du den Eindruck, dass er dich hinters Licht führen wollte?«

»Wieso sollte er das tun?«

»Um herauszufinden, wo wir unser Versteck haben. Die Stadtverwaltung weiß, dass wir am Südmarkt sind, aber nicht, wo unser Zugang ist. Das U-Bahnnetz ist weit verzweigt und nicht beleuchtet. Sie riskieren keinen SDF-Einsatz, wenn sie nicht genau wissen, an welcher Stelle ihr Ziel liegt. Also, hattest du den Eindruck, dass er dich laufen lassen hat, um dir später zu folgen?«

»Nein«, antwortete sie sofort. »Er, er hat mich nicht benutzt.« Dabei war sie sich in Wirklichkeit gar nicht sicher. Sie war gut darin, an dem Gesicht und den Bewegungen eines Menschen zu erkennen, ob er eine Bedrohung war oder nicht, und sie täuschte sich nie. Der Soldat jedoch war widersinnig gewesen, so als kämpften in ihm zwei gegensätzliche Pole miteinander, aber doch nicht, weil er sie betrügen wollte. Das konnte nicht sein.

»Wie gesagt, Caren, wir haben kein Leck«, wiederholte der Mann, woraufhin die Frau entnervt seufzte.

»Dein Vertrauen in allen Ehren Jay, aber es ist eine Möglichkeit, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Wir sollten zumindest überprüfen, ob vor unserer Tür jemand lauert oder Rina verwanzt ist.«

»Meinetwegen. Aber ich garantiere dir, wir werden nichts finden. Wenn du einen Moment scharf nachdenkst, weißt du, wer ihr den Satz gesagt hat.«

Die Frau fixierte ihn, dann drängte sich ihr eine Erkenntnis auf.

»Niemals. Das ist absolut unmöglich. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Tom …«

»… was? Dass er zu so etwas nicht fähig ist? Unterschätz ihn nicht. Er ist alles andere als nur ein guter Schauspieler. Es passt zu ihm. Es passt wie die Faust aufs Auge. Aber gut, schauen wir erstmal, ob du Recht hast. Der Sicherheitscheck ist vorhin ja schon gelaufen, also bringst du sie am besten ins Technikzimmer.«

Der Mann stand auf, zog aus seiner Tasche eine Schachtel Zigaretten, klopfte eine heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen. Als er weitersprach, nuschelte er.

»Caren ist deine direkte Ansprechpartnerin und mich wirst du hoffentlich nicht allzu oft sehen«, sagte er, holte eine Streichholzschachtel hervor und zündete sich die Zigarette an. »Ich bin immer ein schlechtes Omen.«

Er schüttelte das Streichholz aus, zog einmal an der Zigarette und verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort.

»Was hat er gemeint?«, fragte Rina und die Frau stemmte die Arme in die Seite.

»Er denkt, es war einer von uns, der seit ein paar Monaten bei der SDF ist, um Informationen zu sammeln. Ein Schleuser. An sich ist er nicht zuständig für Einsätze gegen Lorca, aber es könnte sein, dass sie ihn dazu abkommandiert haben.« Sie machte eine kurze Pause und fügte hinzu: »Wenn das so ist, tut es mir sehr leid.«

Unweigerlich kehrten ihre Gedanken zurück zu dem Soldaten. Er war also ein Schleuser der Rebellen. Jemand, der glaubte, die richtigen Dinge zu tun, obwohl er das Leben ihrer Freunde gestohlen hatte. Für sie war er nicht mehr als ein Heuchler.

Totenläufer

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