Читать книгу 534 - Band I - Milena Himmerich-Chilla - Страница 12

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Kapitel VI

19:43 Uhr – Spedition Eurotrans, Am Flurkreuz 12

Elisabeth schloss instinktiv die Augen, als sie hinaus auf die stark belebte, sonnendurchflutete Straße trat. Die gold schimmernden Strahlen, welche sich heiß auf ihre Haut legten, provozierten den wohligen Schauer, der langsam ihren Rücken hinab glitt. Endlich war die kalte Jahreszeit vergangen. Das neue Leben zwang sich bereits an die Oberflächen und sog die aufgekommenen, länger gewordenen Sonnentage durstig in sich auf. Auch die kleinen, am Straßenrand drapierten Blumeninseln, waren über Nacht von einem Blütenmeer überschwemmt worden und verliehen der Grau gekleideten Stadt etwas Farbe. Der Gedanke an den bevorstehenden Sommer erfüllte Elisabeth mit Freude.

Jene verschwand unvermittelt, als sich ein vertrautes Geräusch erhob und sie aus ihren Tagträumen riss. Zeitgleich der Gewissheit, wieder allzu spät dran zu sein, kniff sie ihre Augen zusammen und biss sich auf die Lippe. Hatte sie sich doch wirklich vorgenommen, pünktlich Feierabend zu machen, um in Ruhe einkaufen gehen zu können, doch zur Bitte ihres Chefs konnte sie einfach nicht »Nein« sagen. Dieser hatte ihr kurz vor Feierabend eine weitere Mappe unsortierter Auslandslieferscheinen hingelegt und sie mit den Worten: »Danke Elisabeth, du bist meine Rettung. Die müssen morgen früh um sechs mit der Ware raus«, allein gelassen. Folgend war er eilig, nach dem Saum seines marineblauen Jacketts greifend, durch die milchverglaste Bürotür zu einer seiner vielen Verabredung gestürmt. Elisabeth jedoch war, wie zu oft in den letzten Wochen, zurück in den mausgrauen Büroräumen geblieben, stets unter den wachsamen Blicken der silbergrauen Wanduhren, die nebeneinander aufgereiht über dem Ausgang thronten.

Elisabeth wandte sich dem passierenden Bus zu, der nach wenigen Metern bereits mit gesetztem Blinker in die Seitenstraße einbog. Dabei ließ sie ihren Schlüsselbund in den Rucksack gleiten. Der flüchtige Blick auf ihre Armbanduhr verriet, dass eine halbe Stunde vergehen musste, bis sich die nächste Mitfahrgelegenheit für sie bot. So beschloss Elisabeth, als sie durch eine aufkommende Lücke im Verkehr die sonnige Straßenseite gegen die schattige eingetauscht hatte, die restliche Zeit wenigstens sinnvoll zu nutzen.

Schnellen Schrittes trugen ihre Beine sie zur ausgeblichenen Holzbank, welche neben dem schief stehenden Bushalteschild am Fuße der restaurierungsbedürftigen, pastellfarbenen Häuserfassaden ihr Dasein fristete. Sie mochte den alten Charme der umliegenden Vorkriegsvillen, deren kantige Formen und liebevoll verzierten Details, auch wenn diese weitestgehend bereits dem Zerfall erlagen.

Elisabeth genoss die Kühle des Schattens. Erneut rann ihr ein Schauer über den Rücken. So sehr sie den Sommer auch herbei sehnte, konnte sie noch nie mit der Hitze, welche jenen stets begleitete, umgehen. Belustigt jedoch über die natürliche Reaktion ihrer Haut, welche eine Gänsehaut überzogen hatte, strich sie sich über die aufgestellten Härchen ihres linken Unterarmes, bevor sie sich ihrem Rucksack zu wandte und aus jenem ein abgegriffenes Taschenbuch hervorzog. Selten hatte sie in den letzten Wochen die Zeit gefunden, sich durch dessen zahlreiche vergilbten Seiten hindurch zu fressen. Musste sie doch diese aufgekommene Chance dafür nutzen.

Elisabeths Zunge glitt vorsichtig über ihre auffällig aufgebissenen, schmalen Lippen, als sie mit der Handfläche über den geknickten Einband strich. Sie hatte dieses Buch schon hunderte Male gelesen, es in zahlreichen, einsamen Stunden, schlaflosen Nächten und an regnerischen Tagen zur Gänze verschlungen. Dennoch war es über all die Zeit hin immer wieder eine neue Erfahrung für sie geblieben. Zeigte es sich doch jedes Mal von einer anderen Seite, beleuchtete die Szenerien und Charaktere neu, die geschäftig ihren Handel auf den Basaren betrieben, ihre Schwerter für den bevorstehenden Kampf schliffen und auch die sich Liebenden nach einigen Schwierigkeiten doch noch zueinanderfanden.

Als sie in jungen Jahren die gebundenen Seiten, mit ihrem unscheinbaren Einband in den spärlich beleuchteten Gängen eines abseits gelegenen Buchladens entdeckt hatte, war es ihr gewesen, als hätte sie das Schicksal dort hingeleitet. Sie hatte an jenem Tag eigentlich nur der Hitze des Hochsommers entgehen wollen und deshalb den Mut gefasst, die schwere Metalltür, verraten von einem müden Geläut, zu öffnen. Die veraltete Dekoration, welche lieblos in den Ecken abgestellt und von Staubfäden behangen war, hatte damals schon seine besten Tage hinter sich gelassen. Elisabeths Blick war mit schwindendem Interesse über die zahlreichen Bücherregale geglitten, wobei sie wenig beeindruckt mit ihrer Handfläche über die Buchrücken gestrichen war. Nach und nach hatte sie die vereinzelt da stehenden Drehständer angeschubst, bis sie am Letzten angekommen war. Dieser, der sich im hinteren Bereich des Ladens befunden hatte, beschwerte sich lautstark über die plötzliche Störung seines Schlafs. Elisabeth war gleich darauf fasziniert vom rhythmischen Geräusch gewesen, so dass sie vor jenem im Gehen innehielt und seiner Bewegung folgte. Die an ihr vorbeiziehenden Bücher waren ineinander verschwommen, während sich ihre Titel zu einem durchlässigen, grauen Schleier formten. Immer langsamer werdend hatte sich der Ständer gedreht, als auch sein begleitendes Quietschen immer leiser wurde und irgendwann erlosch. Just in jenem Moment, da dieser zum Stehen kam, war Elisabeths Blick auf den Rücken jenes Buches gefallen, welches sie nun in ihren Händen hielt.

Erneut berührte sie vorsichtig den Einband und schloss ihre Augen. Sie wusste alles über die darin existierende junge Frau mit ihren wilden, in roten Locken herabfallenden Haare. Sie hatte in jeder dunklen Stunde mit ihr gelitten, gelacht, wenn sie sich wie ein kleines Kind auf den darauf folgenden Seiten freute. Sie hatte sich von der ersten Seite an in sie verliebt. Schon der erste Satz, den Elisabeth damals im Buchladen selbst überflogen hatte, band ihren Geist an jene Geschichte in ihren Händen. Noch immer war es ihr unbegreiflich, wie ein Buch sie so fesseln hatte können, wie jenes Werk dieses einst getan hatte.

Natürlich hatte sie in ihrem Leben schon Vieles gelesen, wenn nicht sogar schon Massen an Büchern verschlungen. Angefangen bei Goethe über Nietzsche, bis hin zu aktuellen Verkaufsschlagern. Kein Genre war ihr fremd geblieben, während sie an der Seite des Gesetzes gegen größenwahnsinnige Serienmörder gekämpft, als Geisteskranker in Gefangenschaft, als Dozent zu Zeiten des Dritten Reiches, als Fee, als Baum, als Gefühl, selbst als ein purer, flüchtiger Gedanke existiert hatte. All das war sie in der Vielfalt der tausendfach existenten Welten gewesen, die über Jahre hinweg ihr Leben begleitet hatten.

Elisabeth konnte sich, laut ihrer Mutter, noch nie wirklich, wie ein »normaler« Mensch verhalten. Jedenfalls war es dieser Vorwurf, der den Höhepunkt jedes langatmigen und verstaubten Monologs aufzeigte, den sie, beim allwöchentlichen Sonntags Kaffee mit akribisch abgemessenen, im perfekten rechten Winkel geschnittenen Kuchenstücken, von sich gab. Die anklagenden Vorhaltungen ihrer eigenen Mutter zu hören war alleine schon schlimm genug, jedoch die darauf folgenden haltlosen Anschuldigungen, sie würde es nicht anders wollen, trafen Elisabeth jedes Mal aufs Neue. Die Hoffnung, im Laufe der Zeit und der Mengen an überlebten Kaffeemittagen ein dickeres Fell zu erhalten, war bei jedem Schluck des löslichen Kaffees aus dem mit kobaltblauen Blumen verzierten Sonntagsgeschirr geschwunden.

Elisabeth, die ihre Augen geschlossen gehalten hatte, wurde jäh aus den bitteren Gedanken gerissen, als eine immer lauter werdende Melodie aus ihrer Hosentasche drang. Geistesabwesend legte sie ihr Buch zur Seite und ließ ihre Hand hinab und in die Tasche gleiten, aus der sie, ihre Augen wieder geöffnet, ein silbern glänzendes Telefon zog und auf das grüne Icon tippte. Zögerlich legte sie den Hörer an ihr Ohr und meldete sich mit schwacher Stimme. »Heyn?«

»Elisabeth, bist du es?«, erklang die gehetzte Frauenstimme am anderen Ende.

»Wer soll es sonst sein?«

»Was soll denn das heißen? Bist du zu Hause?«

»Nein, ich warte auf den Bus.«

»Aha.« Eine kurze Pause trat ein, als Elisabeth ihren Kopf in den Nacken legte und die vereinzelten Wolken, über den bereits von Lila und Blau durchzogenen Himmel betrachtete.

»Hättest du einmal deinen Führerschein gemacht, wie ich es dir mit achtzehn gesagt habe, wärst du jetzt unabhängiger.«

Elisabeth presste die Luft aus ihren Lungen und rollte mit ihren Augen. So war sie, ihre Mutter. »Wie dem auch sei. Warum ich anrufe: Ewald, also unser Nachbar, meinte, wir sollten einmal eine Grillparty veranstalten. Er hat natürlich auch nach dir gefragt. Nicht, weil er wissen wollte, wie es dir geht – ich habe ihm übrigens gesagt, dass du dich in deiner neuen Umgebung wohl fühlst, das tust du doch oder? - na ja, egal, jedenfalls, du wirst es nicht glauben. Ewalds Sohn ist aus New York zu Besuch gekommen. Ein hübscher junger Mann, das muss ich einmal sagen. Glaube, Ewald hat einmal erwähnt, dass er Börsenmakler ist,... oder so etwas in der Art ...«

»Mama, ich ...«, versuchte Elisabeth den Redefluss ihrer Mutter zu unterbrechen, dennoch blieb der Erfolg ihres Versuchs aus und die sich überschlagende Stimme ihrer Mutter prasselte weiter wie kühler Regen auf sie hernieder.

»Jedenfalls erwarten ich und dein Vater dich nächste Woche Samstag. Bring dein Rosenkleid mit, oder lieber das mit den Orchideen, jedenfalls eins mit dezentem Ausschnitt. Wir wollen ja nicht, dass Ewalds Sohn – ich glaube er heißt Sebastian, WOLFGANG?! EWALDS SOHN HEIßT DOCH SEBASTIAN, NICHT?! Ha, wusste ich es doch – na ja, er soll jedenfalls nicht denken, dass du leicht zu haben bist.«

Elisabeth zuckte zusammen. »Da kann ich nicht, Mama«, entgegnete sie, ihre Emotionen unterdrückend, während sie mit Gewalt den Nagel des Daumens in das weiche Fleisch ihres Zeigefingers drückte. »Ach, was hast du denn so Wichtiges vor?«

Elisabeths Gedanken überschlugen sich, während sie krampfhaft versuchte, eine Ausrede aus ihrem Dilemma zu finden. »Na, dann ist die Sache klar. Bis Samstag dann um 11 Uhr.«

Elisabeth wollte ihr noch etwas entgegnen, doch bekam keine Möglichkeit mehr dazu, da ihre Mutter bereits aufgelegt hatte und nur noch ein rhythmisches Tuten im Ohr zurückließ.

Die Szenerie aus vorbei fahrenden Autos, Mofas und wild schimpfenden Radfahrern hatte ihren Blick festgehalten, während sie ihre Hände im Schoß abgelegt hielt. Wie sehr sie es doch hasste, von ihrer Mutter überrumpelt zu werden. Noch mehr jedoch missfiel ihr der Umstand, jener in all den vergangenen Jahren nicht einmal die Stirn geboten zu haben.

Mit geröteten Wangen und verengten Augen brannte sich Elisabeths wütender Blick über die Straßen hinweg. »Er soll jedenfalls nicht denken, dass du leicht zu haben bist«, äffte sie ihre Mutter nach und sank dabei auf der Bank in sich zusammen. An das Lesen jenes Buches, welches nunmehr unbeachtet neben ihr auf dem verschlissenen Holz lag, war nicht mehr zu denken. Sie seufzte.

534 - Band I

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