Читать книгу 534 - Band I - Milena Himmerich-Chilla - Страница 20

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Kapitel XIV

21. des Ankh 534 | Stadt Fernwald – Stadtbibliothek

Das Kratzen der beiden Federkiele, die über Pergament geschoben wurden, dominierte die ausladende Bibliothek mit seinen gelb-braunen Eichenregalen. Schon längst war die Tür zur Straße hin verschlossen und der tägliche Betrieb verebbt, dennoch wurde hinter den Wänden eifrig weiter gearbeitet.

Andrey saß seinem Sohn gegenüber und studierte das wellige, grob geschöpfte Papier, welches immer noch vor ihm lag. Die Zeilen verschwammen dabei vor seinen geröteten Augen, welche er hin und wieder zusammen kniff. Zu viele Mahnungen hatte er an jenem Abend ausstellen müssen.

Seufzend hielt er inne und streckte seine Glieder aus. Jene knackten dankbar unter der unerwarteten Bewegung. Hierbei lenkte er seine Aufmerksamkeit jenem jungen Alben zu, der nicht unweit von ihm vertieft seiner Arbeit nachging. »Wie weit bist du, Auriel?«

Der Angesprochene hob just seine eisblauen Augen von der Bestandsrolle, über welcher er gebeugt gesessen war und strich mit der freien Hand eine seiner herabfallenden Haarsträhnen hinter das spitz zulaufende Ohr. »Ich habe nicht mehr viel, dann bin ich mit der Bücherrückgabe fertig.« Andrey nickte zufrieden und begann zu lächeln. Auf seinen Sohn war eben Verlass.

Als Sira vor gut zwanzig Jahren starb, war es jener gewesen, der ihn immer unterstützt und stets bei seiner Arbeit in der Bibliothek helfend unter die Arme gegriffen hatte. Für dessen selbstloses Handeln war er seinem Sohn zutiefst dankbar, auch wenn ihm deswegen ab und an eine bleierne Schuldigkeit überfiel. Wollte er doch nie Grund werden, dass Auriel sein Leben verpasste.

Andrey atmete tief ein und beobachtete seinen Sohn, der mit hellen, zusammen gezogenen Brauen angestrengt den roten Einband eines der Rückgaben betrachtete. Er liebte seinen Sohn, der ihn sehr an seine Frau erinnerte. Dieser hatte ihre Augen und das schmale, von weiblichen Zügen dominierte, Gesicht geerbt. Von Andreys Aussehen war er dabei weitestgehend verschont geblieben, nur der Ansatz einer Hakennase ließ erahnen, dass sie miteinander verwandt waren. Anders war es bei Dendayar, seinem Ältesten. Jener war das Ebenbild Andreys. Dessen groß gewachsene Statur und ausgeprägten Züge hatten stets hart gewirkt, selbst wenn dieser sich anstrengte, freundlich zu schauen. Doch hier hörte ihre Gemeinsamkeit schon auf, denn ansonsten war Dendayar niemandem aus seiner Familie ähnlich. Anders als Auriel, der, genau wie Andrey selbst, mit der Geschichte Frieden geschlossen hatte, war Dendayar von klein auf um das Ansehen seiner Familie bemüht gewesen und mit der Volljährigkeit, entgegen dem Rat seines Vaters, der Armee beigetreten. Dort war er, dank seines übermäßigen Eifers und Simon, bald darauf in seinem Rang aufgestiegen und seit gut einem Monat Befehlshaber des vierten Bataillons. Auch wenn Andrey es nur ungern zugab, war er stolz auf seinen Ältesten.

Seufzend widmete sich der grauhaarige Alb erneut jenem Brief, der vor ihm lag, tauchte den Kiel seiner Feder in die dunkelblaue Flüssigkeit des Tintenfasses und begann, zu schreiben. Die gespenstige Ruhe, welche die Bibliothek im eisernen Griff hielt, wirkte erdrückend auf beide Gestalten, die sich ihren Feierabend seit Stunden herbei sehnten.

Auriel musterte den nachtblauen Einband der letzten Rückgabe in seiner Hand, erpicht darauf, jeden noch so kleinen Makel ausfindig zu machen, während er das kühle Buch in seinen Fingern um die eigene Achse drehte. Die Minuten zogen sich zäh, doch erst als er restlos zufrieden mit dessen Zustand war, setzte er einen Haken in das Register unter ihm. Mit dem letzten Schwung seines Kiels drang eine polternde Männerstimme durch die Mauer der Bibliothek und riss beide Alben je aus ihren Gedanken.

Der Ruf der Stadtwache erklang erneut, dieses Mal jedoch penetranter, mit dem Anflug eines Singsangs. Andrey, dessen Neugier unaufhörlich anschwoll, stützte sich auf den Tisch und richtete sich unter einem Stöhnen auf, bevor seine schmalen Beine ihn zum hochragenden Fenster trugen, das ihm einen Blick nach draußen auf die sich füllende Gasse eröffnete. Auriel unterdessen presste seine Lippen fest aufeinander und zog die Augenbrauen tiefer als gewöhnlich. Wusste er doch um die Bedeutung der undeutlichen Rufe. War jenes Datum zu tief in seinen Geist eingebrannt, als dass er es je wieder vergessen konnte.

Andrey, der erst jetzt erkannte, welcher Tag war, drehte sich zu seinem Sohn und bedachte diesen mit sorgenvoller Mine. »Es ist das vierzehnte Mal, dass du fern bleibst«, sprach er besorgt.

Auriel war das unvermeidliche, alljährliche Gespräch schon jetzt leid. So beschloss er, nicht auf die aufkommenden Vorwürfe seines Vaters einzugehen. Stattdessen schenkte er weiter jener Arbeit vor sich demonstrativ seine gesamte Aufmerksamkeit.

»Auriel, vielleicht ist es heute so weit. Wenn du nur hier herum sitzt, wirst du es womöglich verpassen.«

Andreys Sohn zog die Augenbrauen enger zusammen, dass diese nunmehr eine einzige Linie bildeten. Seine Schultern wanderten dabei bedrohlich weit herauf. Standen doch jene kurz davor, die Ohren zu berühren, als sein Blick sich in das Pergament vor ihm brannte. »Auriel, ich weiß ...«

»Was weißt du?«

Der junge Alb richtete sich im Sitzen auf und betrachtete Andrey mit wütendem Blick. Seine Hände hatte er dabei unbewusst zu Fäusten geballt. Warum hatte er das Thema nicht einfach ruhen lassen können? Sah er denn nicht, wie sehr ihn jenes schmerzte? »Aber Auriel ...«

Andrey war verwundert über den plötzlichen Gemütszustand seines Sohnes und sog scharf die Luft ein. So kannte er ihn nicht.

Beide starrten einander an, während die gellenden Jubelschreie von draußen herein drangen. Hierbei ließ Auriel seine Gedanken gleiten und stellte sich die freudigen Gesichter der Jungen und Mädchen vor, welche, auf ihren Traumpartner hoffend, sich auf dem kleinen Dorfplatz versammelt hielten und beim vollendeten Sonnenuntergang, geleitet durch eine Hand voll Wachen, zum Nachbarort eskortiert werden würden. Er konnte sich mit einem Mal an alle vergangenen Sommersonnenwenden erinnern, an denen er voller Hoffnung teilgenommen hatte.

Er biss sich auf die Lippe, als der altbekannte Schmerz sich auf seine Brust legte. Verletzt wandte er den Blick von seinem erschütterten Vater ab und stand auf. Der hölzerne Stuhl, auf dem er zuvor gesessen hatte, hüpfte dabei von ihm getrieben über den Boden hinweg. »Den Rest erledige ich morgen früh. Bitte entschuldige mich.«

Ohne auch noch einmal zurückzuschauen, schritt Auriel an der Vielzahl überfüllter Regale vorbei, Richtung Wendeltreppe, die ihn hinauf in die gemeinsame Wohnung führte.

Andreys Blick lag noch lange auf dem Rücken seines Sohnes, bis dieser die Treppe hinauf geschritten und aus seinem Blickfeld verschwunden war. »Ach Auriel«, seufzte der Alte und schaute erneut aus dem Fenster, diesmal auf die lachenden Gesichter der Jugend.

* * *

Auriel schloss die massive Buchenholztür seines Zimmers lauter, als er es beabsichtigt hatte und stob auf das geöffnete Fenster zu, durch welches das aufgekommene Musikspiel, untermalt von Lachen zu ihm herauf drang. Seine Wut klang zunehmend ab, als er jenes endlich schloss und sich mit einem lauten Seufzen auf sein hartes Bett fallen ließ. Mit einem Mal fühlte er sich beschämt der Gefühle und des pubertären Verhaltens, welches er in der Bibliothek zum Besten gegeben hatte. Trug sein Vater doch nicht Schuld an jenem Zustand. Er alleine war das Problem und würde es wohl immer bleiben.

Die vielen Male, in denen er der Zeremonie und dem folgenden Tanz beiwohnte, hatten sich, einem Eisen gleich, in sein Herz gebrannt. Missgünstig hatte er bei seiner letzten Teilnahme das Strahlen der Augen seiner Freunde beobachtet, während jene ihre Partner in der Masse der Teilnehmer gefunden hatten. So ging alljährlich eine Vielzahl an Paaren nach Hause und bildete lebenslange Partnerschaften. Der klägliche Rest, welcher an einem Abend übrig blieb, prägte sich im Folgejahr, nur er war immerfort alleine unter dem Spott der anderen nach Hause gekehrt. Irgendwann hatte er für sich entschieden, den Versuch einfach sein zu lassen. Wollte er doch nicht weiter verletzt werden, als er es schon war.

Auriel legte seinen Kopf zur Seite und blickte auf den verstaubten Koffer, der hochkant in der Ecke seines Zimmers stand, während er seinen Haarknoten löste und die Finger durch das weiß-fließende Haar zog. Das darin ruhende Instrument war genau jene Ablenkung, die er brauchen konnte.

Seine Lippen waren trocken, als er sich zum Bettende hin rollte und mit der rechten Hand den Griff des Koffers umfasste. Strähnen seines hüftlangen Haares lagen in seinem Gesicht, als er sich aufrichtete. Vor dem Spiel würde er sich jedoch um etwas anderes kümmern.

Er stand im Zentrum der abgeschnittenen Strähnen, die seine Füße nunmehr ringsum säumten. Dabei legte er die alte Violine seiner Mutter auf der Schulter ab, bevor er den schmalen Bogen ansetzte, und die ersten Töne den Raum auszufüllen begannen. So schloss er die Augen, während das Holz, das gebettet unter der geröteten Wange lag, seine Körpertemperatur annahm und so mit ihm zu verschmelzen schien. Seine feingliedrigen Finger rutschten gekonnt über die fest gespannten Saiten.

Auriel spielte ohne sich an Noten zu halten, konnte er doch so seinen Gefühlen Ausdruck verleihen, ihnen eine Stimme schenken, während er selbst weiterhin stumm blieb. Die angespannten Bewegungen vertrieben hierbei jene Gedanken, die ihn bis zu diesem Tage hin gequält hatten. Er riss sich los vom Leben, das er kannte und träumte sich an fremde Orte, als die Geschwindigkeit seines Spiels stetig zunahm und seinen Höhepunkt in schiefen Tönen fand.

Das Rosshaar riss an einigen Stellen und hing faserig herab, doch dies störte ihn nicht in seinem aufgekommenen Wahn. Wie besessen zog er den Bogen weiter in seiner Hand über das kreischende Instrument, sich seinem Schmerz ergebend. Schweißperlen standen ihm dabei auf er Stirn und funkelten im Schein der wild zuckenden Kerzenflammen.

* * *

Andrey stand noch immer am Fenster, hatte jedoch seinen Kopf in den Nacken gelegt und musterte die Holzdecke eingehend. Er lauschte dem Spiel seines Sohnes. Beklemmung erfüllte just sein schwer schlagendes Herz. In jenem Moment war es ihm vergönnt, die Trauer seines Sohnes erkennen zu dürfen, den Schmerz und die Verzweiflung, während sich die Töne nunmehr gehäufter überschlugen.

Tränen standen dem Alb in den Augen, der seinem Sohn immer nur das Beste im Leben gewünscht hatte. Nun fand er sich wider seines Wunsches, hilflos, ohne zu wissen, wie er ihm hätte helfen können. Jener Moment war es auch, als seine Brust eine überraschende Wärme berührte.

Andrey erschrak und blickte seinen Körper herab, während er das Pulsieren des blauen Lichtes unter seinem Leinenhemd wahrnahm und eilig nach der silbernen Kette tastete, die er jeher um seinen Hals trug. Geschwind riss er, nachdem er das Metall umgriffen hatte, daran und holte den Stein hervor.

»Was?« Der Alte öffnete auch schon hektische den Verschluss und hielt das Schmuckstück vor seine Augen. Das blaue Licht, welches in regelmäßigen Abständen vom sonst grauen Stein aus ging, ließ ihn dabei entsetzt aufstöhnen. Dies konnte nichts Gutes bedeuten, davon war er überzeugt.

Zögernd umschloss er den Stein mit seiner freien Hand und erfühlte jene wohlige Wärme, die von diesem ausging. Im Takt des Leuchtens vibrierte der Stein in seiner Handfläche. Andrey lief es augenblicklich eiskalt den Rücken herunter. War ihm doch, als hielte er ein schlagendes Herz. Diese Vorstellung bescherte ihm Übelkeit, während die Erinnerungen an den Tod seines Vaters aufkamen. So begann der Alte mit benebelten Gedanken durch die Bibliothek zu taumeln. Was sollte er tun?

Das Violinenspiel Auriels fand ein abruptes Ende, als auch der Stein erstarb. Der Alte stöhnte erneut und legte eine Hand vor seinen Mund, als ihm bewusst wurde, dass die Reaktion des Steines einem Grund unterlegen war. Die längst vergessenen Worte seines Vaters fielen just über ihn her, während seine gestolperten Schritte ihn eilig zu einem der hinteren Regale führten. Dort angekommen, riss er panisch »Die Geschichte von Dunkelwald« und »Fichten und Tannen«, aus dem Regal. Beide Bücher landeten geräuschvoll auf dem matten Steinboden, wobei ihre Seiten knickten. Jener Umstand war Andrey im Moment egal. Mit vor Angst zitternden Händen warf er die Kette in das Fach, bückte sich und hob die beiden Bücher wieder auf. Diese schob er eilig zurück an ihren angestammten Platz. Er hatte nicht vor, die Kette in die Nähe seines Sohnes zu lassen, da er wusste, welch Schicksal mit dieser verknüpft war. »Du wirst ihn nicht bekommen!«

534 - Band I

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