Читать книгу 534 - Band I - Milena Himmerich-Chilla - Страница 19
ОглавлениеKapitel XIII
01.04.2017 | 15:15 Uhr – Begonienpfad 6
Das Fleisch war zäh und der Wein schmeckte wässrig, jedoch wunderte es Elisabeth kein Stück. Die Grillkünste ihres Vaters, gepaart mit dem unglücklichen Händchen ihrer Mutter beim Einkauf, ergaben doch regelmäßig ungenießbare Genüsse. Wolfgang nahm es gelassen, während sich seine Grillschürze über dem ausgeprägten Bauch in Falten zog und er an seinem warm gewordenen Bier nippte. »Hast du das Spiel gesehen? Das war doch die Krönung!«, sprach Ewald, ihr Nachbar, neben ihm. Er wirkte im starken Kontrast zu Elisabeths Vater.
Noch immer trug der knochige Mann seine akkurat gebundene, nachtblaue, mit gelben Sternen verzierte Krawatte über dem weißen Hemd. Seine schwarze Bundfaltenhose und verstaubten Herrenschuhe rundeten für Elisabeth das Bild ab. Als er die Flasche in seiner Hand fester umgriff und Wolfgang einen Stups gab, traten dessen Knöchel weiß unter der dünnen Haut hervor.
»Ach Ewald, was regst du dich denn so auf? Es ist doch nur ein Spiel?«
»Pah, du hast ja keine Ahnung!«
Ja, Wolfgang hatte keine Ahnung von Fußball. Wenn er die Wahl gehabt hatte, zog er die Golf Championships mit einer leicht abgekühlten Tasse schwarzen Tees jeder anderen Sportübertragung vor.
Elisabeth saß auf dem ausklappbaren Gartenstuhl und starrte auf das Glas Wasser vor sich. Das Licht, welches es dezent brach, erstreckte sich über die gestickte Tischdecke hinweg. Immer wieder mischten sich die Farben neu und bildeten so die abstraktesten Formen vor ihren Augen, während ein hagerer junger Mann, in schwarzem Anzug neben ihr sitzend, eilig auf seinem Blackberry herum drückte. Als das Gerät unter seinen hektisch zuckenden Fingern zu vibrieren begann, hob er es an sein Ohr und entschuldigte sich mit einem flüchtigen Nicken bei Elisabeth und ihrer Mutter.
Margarethe, die vor beiden ihren Platz eingenommen hatte, erwiderte die Geste mit einem breiten Lächeln, welches ihre zu groß geratenen Dritten entblößte.
Verschwörerisch lehnte sie sich nach vorne, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Sebastian weit genug entfernt stand, als dass er sie hören könnte. »Jetzt sag, ist er nicht nett?«
Elisabeth betrachtete weiterhin das Farbenspiel vor ihr und seufzte zur Antwort. »Also ehrlich, Elisabeth, du könntest wenigstens richtige Worte gebrauchen, wenn man dich schon etwas fragt!«, wies ihre Mutter sie über das blaue Blütenmuster des Tisches hinweg zurecht. Elisabeth riss sich augenblicklich los und fixierte ihre Mutter. »Mag sein.«
»Na, das musst du doch wissen!«
Elisabeth war genervt. Ein Seitenblick zu ihrem Vater hin der noch immer hinter dem Grill sich der verbalen Ergüsse Ewalds ergab und sie ebenfalls hilfesuchend ansah, verriet ihr, dass nicht nur sie sich aus diesem Dilemma heraus wünschte. Sie lächelte ihn mitfühlend an.
»Entschuldige mich bitte.« Mit diesen Worten stand sie auf und schob geräuschvoll den grünen Plastikstuhl hinter sich zurück. Sebastian schaute mit hochgezogenen Brauen auf, drehte dem Schauspiel jedoch bald darauf den Rücken zu. »Ja, ich sagte doch, verkaufen«, stöhnte er in das schmale Gerät hinein. Margarethe hingegen schien es egal zu sein, was ihre Tochter tat, denn auch sie erhob sich und schritt ohne ein Wort eilig durch die ausladende Verandatüre ins Hausinnere.
Als Elisabeth ihren Stuhl zurück an den Tisch geschoben hatte, ließ sie ihren Blick über den ausladenden Garten ihrer Eltern schweifen. Die vielseitigen Farben und unterschiedlichsten Blumenkelche, in denen geschäftig Bienen ihrem Tagewerk nachgingen, fesselten sie. So schritt sie fasziniert die endlos wirkenden Blumenbeete am Rande des Gartens ab, während ihr Weg sie immer näher der alten Eiche führte, an der sie als Kind gern gesessen war. Dort angekommen wandte sie sich Richtung Veranda, die nunmehr ein gutes Stück weit von ihr entfernt lag. Sie erkannte Margarethe, die bereits ihren Platz wieder eingenommen hatte und sich mit Sebastian, der zwischenzeitlich sein Telefonat beendet hatte, angeregt unterhielt. Elisabeth war jener egal. Er war weder besonders attraktiv noch interessant. Das Einzige, was sie mit Bestimmtheit sagen konnte, war, dass er erfolgreich in seinem Beruf sein mochte, nahm sie doch an, dass dieser den Großteil seines Lebens ausmachte.
In Gedanken treibend, lehnte sie sich an den kühlen Stamm und ließ sich sogleich daran hinunter gleiten. Am Fuße des Baumes sitzend, zog sie die Beine an ihren Körper und straffte das rosafarbene, lange Kleid. Verloren nestelte sie hierbei mit den Fingern am Spitzensaum. Sie hatte Kleider an sich schon immer gehasst.
Der Wind fuhr durch das raschelnde Blattwerk der alten Eiche, die ihre Äste sanft wiegte und glitzernde Lichtpunkte auf den übermäßig grünen Rasen werfen ließ. Elisabeth atmete den Duft nach Rosen und geschnittenem Gras ein, als sich ihre Augen schlossen und sie das erste Mal an jenem Tag bemerkte, wie müde sie wirklich war. Nur fünf Minuten würde sie sich gönnen, mehr nicht. Das nahm sie sich vor.
Etwas kitzelte sie am Oberarm. Mit noch immer geschlossenen Augen wischte ihre Hand über die juckende Stelle hinweg. Als jene jedoch wieder im Schoß lag, überfuhr ihre Haut erneut ein Kitzeln. So schob Elisabeth ihre Augenbrauen enger zusammen. Wieder wischte sie mit ihrer Hand über die Stelle, als der Geruch nach Flieder ihr in die Nase drang. »Komisch«, dachte sie. »Ich habe auf meinem Weg hier her keinen Flieder bemerkt.«
Irritiert öffnete sie ihre Augen und blinzelte gegen die hellerleuchtete, verschwommene Welt. Noch immer stach der penetrante Geruch ihr in der Nase, als ein weiteres Kitzeln über ihren linken Arm lief. Das Kinderlachen, welches zeitgleich direkt neben ihr erklang, ließ ihr just das Blut in den Adern gefrieren. Mechanisch drehte Elisabeth ihren Kopf zur Seite und blickte mit weit aufgerissenen Augen in saphirblaue. Jene tanzten nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht auf und ab.
Sie wusste nicht, wie sie sich so schnell hatte aufrichten können. Hierbei stand das Kind noch immer neben ihr und lächelte sie an. Augenblicklich tat Elisabeth einen Schritt zurück. Diese Geste jedoch wandelte die Gesichtszüge des Kindes von Freude in Trauer. Entgegen ihrer ersten Begegnung ging diesmal nichts Böses von jenem aus. »Wer bist du?«
Dem Kind standen nunmehr Tränen in den Augen, als es den kleinen Kopf zu schütteln begann und den Stoff des Leinenkleides, welches es trug, mit den Händen fest umfasst hielt.
Elisabeth befiel just ein Gefühl der Schuld. Sie hatte es nicht zum Weinen bringen wollen. Unsicher, was sie tun sollte, ging sie vor diesem in die Hocke und streckte die Hand nach ihr aus. Jedoch, kurz bevor sie das in leichten Locken herabgefallene, graue Haar des Kindes berühren konnte, drehte dieses sich herum und rannte durch den Garten. Elisabeth hingegen blieb zurück und blinzelte der kleinen Gestalt überrumpelt hinterher, bevor sie sich nur schwer aus der Hocke erhob und ihr unbeholfen folgte. »Warte doch!«
»Warum rennst du denn so?«, rief Margarete ihrer Tochter hinterher, doch diese hatte keine Zeit zu antworten. Ging sie doch stark davon aus, dass ihre Mutter jenes Kind, das sie verfolgte, gesehen haben musste.
Ihre Füße trugen sie schnell über das akkurat getrimmte Gras zum hölzernen, lieblos gestrichenen Gartenzaun hin, welcher das Grundstück von der viel befahrenen Straße trennte. Dort angekommen jedoch wunderte sie sich über das geschlossene Tor. Konnte das Kind doch keinen anderen Weg genommen haben als jenen. Bei diesen Gedanken umschloss sie mit der rechten Hand die warme, von Rost befallene Klinke und drückte sie sogleich herunter.
Das Tor quietschte lautstark, als Elisabeth dieses auf stieß und hindurch auf den gepflasterten Bürgersteig trat. Suchend blickte sie hierbei den Gehweg auf und ab und erkannte, nur wenige Meter von sich entfernt, das kleine Mädchen am Straßenrand stehend. Noch immer rannen diesem Tränen über die mittlerweile stark geröteten Wangen.
Vorsichtig näherte sie sich, bedacht darauf, das kleine Wesen nicht noch weiter zu verschrecken. Dieses jedoch war plötzlich im Begriff, einen Schritt nach vorne zu tun.
Als Elisabeth die drohende Gefahr mit Schrecken erkannte, sah sie sich gezwungen, zu handeln. So rannte sie blind drauf los. Dabei legte sie im Laufen heraus ihre Finger um das schmale Handgelenk des verstörten Kindes. Beim Schließen dieser jedoch glitt ihr Griff ins Leere.
»Was?«, stöhnte sie just auf, als sie bereits mit ihren schmalen Absätzen von der steinernen Kante des Bordsteins abrutschte und vorn über fiel. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen trieb sie auf den Asphalt. Das Letzte, was sie dabei wahrnahm, war jenes verstörende Geräusch brechender Knochen und ein gleißend heller Schmerz, der ihren Geist durchzog. Beides war getränkt im Geruch nach Sommerflieder, der sich in Elisabeths Geist festsetzte. Es hatte nie einen Flieder im Garten ihrer Eltern gegeben, das wurde ihr mit einem Mal bewusst, dann war nur noch Dunkelheit.