Читать книгу 534 - Band I - Milena Himmerich-Chilla - Страница 9

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Kapitel III

11. Des Ankh 534 (279 Jahre später) | Festung Nimro

– abseits der Grenze

Die zahllosen Stimmen, welche durch die verlassen gelegenen Gänge hallten, verwoben sich zu einer monotonen Bracke. Wie sich brechende Wellen trieben diese unerbittlich gegen die moosbewachsenen, schroffen Felswände der Festung. Zwischen den spärlich gesäten Lücken des saftigen Grüns hangelte sich in dünnen Rinnsalen die Feuchtigkeit herab. Das Geräusch der tropfenden Nässe untermalte das Grollen der Männerstimmen. Jene drangen weiter aus den tieferen Hallen herauf.

Die sieben Gestalten im Zentrum der großen Halle formten einen unsteten Kreis am Rande, einer, auf dem Boden von Runen und Linien durchzogenen, gemalten Kreidezeichnung. Ihre durchweg erdig gefärbten Umhänge ließen dabei den benötigten Kontrast vermissen, welcher sie vom Hintergrund der Szenerie abgehoben hätte. So verschmolzen ihre Leiber nahtlos mit den dahinter gelegenen Felswänden.

Kühl zog die Luft ihre Bahnen durch jene schmalen Korridore, die von der großen Halle ab gingen, und spielte dabei mit den Säumen der grob gewebten Stoffe. Der Kälte trotzend bewegte keiner der Anwesenden auch nur einen Muskel. Zu wichtig war der Moment, um sich auch nur einer Unachtsamkeit zu ergeben. Stumm ertrugen sie daher die Schmerzen, welche sich die nackten Füße der Beteiligten hinauf schlängelten und sich dabei tief in die Glieder hinein fraßen.

Der stetige Sprechgesang, welcher aus ihren Kehlen drang, erklomm die steinerne Kuppel und presste sich durch das schmale Auge am Ende jener in die Freiheit hinaus. Zeitgleich des Entkommens, zwängte sich der Mondschein an diesem vorbei und legte sich sanft leuchtend auf den äußeren Teil der Kreidezeichnung. Dabei ließ er das berührte Weiß hell erstrahlen. Nur noch wenige Augenblicke trennten das Leuchten von einer Berührung der filigran gezeichneten Mitte.

Jener Moment war es, als sich eine weitere Gestalt aus dem umliegenden Schatten löste und humpelnd auf das Geschehen zutrieb. Dessen Fingerknöchel zeichneten sich weiß unter seiner grauen Haut ab, als er die Hand fester um das Horn des Ziegenbockes schloss, welchen er erbarmungslos hinter sich her zog. Eine Woge der Euphorie durchzog die Braunmäntel beim Anblick ihres Führers, doch jeder der Anwesenden wusste, dass es nicht der rechte Zeitpunkt war, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, jedenfalls noch nicht.

Ungeachtet der Lautstärke trieb die gebeugte Gestalt den Stab in seiner Rechten feste gegen die grauen Steinplatten unter ihm. Der so entstandene ohrenbetäubende Donner bildete mit dem kurz darauf folgenden, schleifenden Geräusch seines erlahmten rechten Fußes einen berauschenden Rhythmus.

Der Ziegenbock schien dabei sein nahendes Ende bereits zu erahnen und begann sich mit all seiner Kraft zu wehren. Seine silbernen Augen traten ihm bereits aus den Augenhöhlen und wirkten grotesk im Gesamtbild, das sich den Beteiligten bot. Er sprang, riss seinen Kopf ruckartig in jede nur erdenkliche Richtung, um sich dem festen Griff des Peinigers zu entziehen.

Die Gestalt, deren burgunderfarbener Umhang sich von den Anwesenden unterschied, beugte sich, im Zentrum der Zeichnung angekommen, hinab. Dabei fiel ihm die ausladende Kapuze tiefer in sein Gesicht, so dass nur Dunkelheit darin zu erkennen war. Er konnte die Angst des Bockes riechen, sie herb auf seiner Zunge schmecken, welche sich wild im Mund hin und her wog. Eine Gänsehaut überzog die unstetig behaarten Arme, während ein Schauer der Vorfreude sich über seinen buckligen Rücken ergoss.

Fixiert auf die glänzenden Augen des Bockes, ließ er seinen Stab los und umfasste mit der freien Hand das zweite, an der Spitze abgebrochene Horn des Tieres. Der nunmehr freie Stab zog hörig am Rande der Szenerie seine Bahnen, als dessen Herr den bereits schwitzenden Bock zu Boden riss und auf die Seite drängte. Mit letzter Kraft versuchte das Tier sich erneut aufzurichten, doch war sein Bemühen vergebens. Die Schwere des fremden, in rotem Samt gehüllten Körpers presste die Luft aus dessen Lungen ohne jegliche Anstrengung.

»Schhhh«, säuselte die übertrieben süße Stimme aus dem Inneren des Stoffes, bevor sich die Klinge eines Dolches in den fellüberzogenen Hals bohrte und an Stelle eines angsterfüllten Meckerns, zähes Gurgeln trat. Die Läufe des kämpfenden Bockes zuckten unkontrolliert im anhaltenden Todeskampf. Erneut versuchte sich das verstörte, blutende Tier aufzurichten, doch auch dieser Versuch scheiterte kläglich. Sekunden verstrichen, bis auch das Rucken seines windenden Körpers nach und nach erstarb und sich schmieriges Blut über die Kreidezeichnung ergoss. Die Festung vibrierte, als das darauf folgende Erdbeben durch die Gänge trieb und auf die kleine Gruppe hin rollte. Schmerzerfüllte Schreie drangen polyphon aus den unnatürlich weit aufgerissenen Mündern der Braunmäntel, während ihre Augen, nach oben gerollt, blind ihrer Weiße in die Welt stachen.

Untermalt von jenem unablässigen Schreigesang hob die rotgewandete Gestalt seinen nunmehr mit Blut gefüllten Kelch an die Lippen. Euphorisch sog er den metallischen Geruch, der aus dem silbergrauen Gefäß in seine Nase stieg, ein. Speichel zwängte sich hin in seinen Mundraum, bevor das kühle Metall seine Lippen auch nur berührte. Er konnte es kaum noch erwarten.

Sanft liebkoste er das harte Gefäß, bevor er es mit einem gierigen Zug zu Gänze leerte. Warm war die Flüssigkeit gewesen, die unter seine Zunge floss und mit der er spielte. Seine Augen schlossen sich, während in ihren Winkeln die aufgekommenen Tränen verheißungsvoll schimmerten. Als er jedoch nach einigen wenigen Momenten des penetranten Eigengeschmacks überdrüssig war, würgte er das Blut, gepaart eines Anfluges von Ekel, herab. Sein Gesicht verzog sich dabei zu einer undefinierbaren Grimasse. Dann war es so weit. Er konnte es plötzlich fühlen.

Genüsslich lehnte er sich nach hinten und atmete tief ein. Seine Adern pulsierten, brannten förmlich. Er wurde von der aufkeimenden Magie erfasst, welche seine Haut zum Bersten spannte und ihn innerlich zu zerreißen drohte. Es war ein großartiges Gefühl.

Zeitgleich der unweigerlichen Euphorie, sank sein Gefolge auf die Knie, beugte sich nach vorn über und berührte den Boden mit der Stirn. Ihre Stimmen waren bereits verklungen, wie auch ihre Echos. Die Stille hielt nunmehr jenen Ort überschwemmt, während die Körper sorgfältig ausgerichteter Statuen glichen.

Als die Anspannung endlich seine Klauen zurückzog und vom Raum, der die Anwesenden umgab, abließ, erhoben sich die Kreiszeichner synchron und lautlos in ihrer Bewegung. Die Gestalt inmitten dieser jedoch, blieb knien und kraulte das leblose Tier väterlich zwischen den Hörnern. Noch immer traten dessen Augen weit aufgerissen heraus, jedoch blieb das Leben, welches sich einst in ihnen gespiegelt hatte, aus.

Die rote Kapuze der knienden Gestalt rutsche ein gutes Stück nach hinten, als jene den Kopf anhob und die schmale Öffnung im Zentrum der Kuppel verträumt betrachtete. Ein breites Grinsen entblößte die blutüberzogenen, schiefen Zähne und thronte erbarmungslos auf seinem Gesicht. Er aalte sich in dem aufkommenden Gefühl des Erfolges, stand er doch kurz vor der Vollendung.

»Dieser Abend ist von Erfolg gekrönt, meine Freunde. Ich konnte es mit solcher Intensität fühlen, es riechen ...« Er stöhnte vor Erregung auf, bevor er fortfuhr. »Ja, sogar schmecken. ... Bald ist es geschafft und ihr alle werdet für eure Bemühungen reich entlohnt werden. Dessen seid euch sicher!«, drang es rauchig aus seiner Kehle. Ein freudiges Raunen keimte unter den braunen Kreiszeichnern auf und verdichtete sich zu Jubelschreien, welche die Katakomben der Festung erfüllten.

Die rote Gestalt erhob den rechten Arm. Auf jenes Zeichen hin trieb der Stab zurück in die geöffnete Hand. Hart schlug dieser auf der getroffenen Fläche auf, bevor der Gewandete das abgenutzte Holz schnaufend umfasste und sich augenblicklich daran hinauf zog.

Nur langsam trugen ihn seine wackligen Beine auf das gegenüber liegende Podest hin. Dort angekommen lüftete er die Kapuze und legte seine, darunter verborgen gelegene, deformierte Fratze frei. Das Linke seiner beiden Augen lag nach hinten versetzt und schielte blind auf die Welt vor sich. Das Zweite, Gesunde, in dem der Wahnsinn wütete, fixierte seine Anhänger. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, während der Speichel in seinen Mundwinkeln das Licht der vereinzelten Kerzen reflektierte. »Ich bin stolz auf Euch, meine Getreuen. Stolz auf das, was wir schon erreicht haben und auf jenes, was wir in naher Zukunft noch erreichen werden!«

Bei diesen Worten verdrehte sich sein linkes Auge unnatürlich weit, während ein tief grollendes Lachen sich durch seine Kehle zwang, in das die anderen Gestalten mit einstimmten. »Unsere Zeit ist nah!«, schrie er euphorisch in die Versammlung. Johlen ergoss sich als Antwort über sein Gefolge und durchflutete die schmalen Gänge.

Einmal mehr thronte ein Lächeln auf seinen Lippen, als er sich von der feiernden Masse abwandte. »Bald sehen wir uns wieder«, dachte er und wischte sich den bereits am Kinn herab geflossenen Speichel flüchtig mit dem Saum seines Ärmels ab.

Es bedurfte einiger Zeit, bis die gebeugte Gestalt endlich vor der schweren Eichentür stand, die ihn als letzte Hürde von seinem Gemach trennte. Seufzend entließ er den Stock seiner Hand und begann den schmerzenden Körper gegen das dunkle Holz zu pressen. Nur langsam gab jenes nach und schwang widerwillig auf.

Haltsuchend, fasste er hektisch nach dem großen, handgeschmiedeten Eisenring, der an der modrig riechenden Tür angebracht war. Dabei schob er sich durch den schmalen Spalt, hinein in das abgedunkelte, wenig einladende Zimmer. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, die Türe hinter sich zu schließen, aber ließ es sein. Dafür fehlte ihm in jenem Moment einfach die Kraft. Zudem hatte er nichts zu befürchten hinter den monumentalen Mauern, welche sein Gefängnis seit jeher formten.

Er gestand sich eine kurze Rast ein, in der er, Sicherheit suchend, seinen Stab zu sich rief und mit den Fingern umschloss. Nachdem er einige Atemzüge gemacht hatte, wandte er sich um und setzte den Weg auf den alten, abgenutzten Sessel in der Ecke des Raumes fort.

Zitternd umfasste er dessen abgegriffene Lehne und ließ sich langsam herabsinken. Entgegen seiner Anstrengung verließ ihn auf den letzten verbleibenden Zentimetern der Rest seiner verbliebenen Kräfte.

Das entstellte Gesicht verzog sich zu einer finsteren Grimasse, als er endlich sitzend, den Stab zur Seite feuerte, um seinem Ärger Luft zu machen. Wie sehr hasste er seinen Körper. War dieser doch jeher der Nährboden des Spotts gewesen, dem er immerfort ausgesetzt war. Stumm musste er die tagtäglichen Verletzungen ertragen, nur weil seine Mutter ihren Lastern nichts entgegnen konnte und ihn mit ihrem eigenen Bruder gezeugt hatte. »Hure!«, entfuhr es ihm, von Hass bestärkt. In ihm gärte es und Galle stieg seinen Hals hinauf. Sie alleine trug Schuld an seinem abstoßenden Äußeren, den täglichen Hänseleien seiner bloßen Existenz. Selbst seine mit zehn Jahren erlangte Fähigkeit Magie zu nutzen, änderte nichts an der Position am Rande der Gesellschaft. Selbst für Hagar, der sich damals freiwillig meldete, nachdem kein anderer seiner Brüder sich dazu durchringen konnte ihn zu unterrichten, hatte er nur eine verabscheuungswürdige Kreatur geboten. Noch immer begleiteten Grindelwald die angeekelten Blicke seines glatzköpfigen Mentors in den spärlich gesäten Träumen.

Schwer unter seinen Erinnerungen wiegend, sank der Körper im Polster des Stuhls ein, als er seine Ellenbogen auf die hölzernen Lehnen stemmte und die Hände vor seiner Stirn faltete. Müde lehnte er seinen Kopf nach vorne über, so dass seine Stirn die Finger berührte. Er atmete schwer.

Kälte kroch die Beine hinauf und hüllte seinen Körper langsam ein. Dabei trieb er in einen Zustand zwischen Schlaf und Wachsein. Das plötzliche, leise Scharren jedoch, welches aus der Ecke auf ihn zu drang, erlangte seine Aufmerksamkeit. Er öffnete die Augen.

»Die Mitglieder warten auf ein Wort. Sie fragen, wann es wieder so weit sei zusammenzutreffen.« Noch immer im Sessel sitzend, winkte Grindelwald die blonde Gestalt zu sich heran, welche seiner Geste folgend zu ihm trat, um sich vor ihm zu verbeugen. »Sag ihnen, dass sie sich in zehn Tagen erneut hier einfinden sollen, Merin. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, sind wir ihrer Rückkehr doch schon so nahe.« Merins goldene Augen funkelten von Vorfreude übermannt, als er sich erneut, jedoch tiefer als nötig verbeugte. »Sag ihnen auch, dass wieder ein Opfer benötigt wird ... und dieses Mal sollte es kein daher gelaufener Ziegenbock sein.« Merin zuckte schuldig zusammen »Ja, ich habe verstanden. Vergib mir. Ich werde das nächste Opfer sorgsamer auswählen.«

»Das hoffe ich für dich, Merin. Das hoffe ich wirklich. Enttäusche mich nicht noch einmal.« Grollendes Lachen ergoss sich durch das handgeschlagene Fenster ins Rauminnere und ließ den blonden Gestaltwandler just zusammenfahren. Er erkannte die Stimme sofort und spannte seinen Unterkiefer an. »Was bildete sich der Hühne ein?«, dachte er wutschnaubend.

»Das wäre dann alles, Merin«, zischte Grindelwald erbost, während sein gesundes Auge aus dem Fenster starrte. Er mochte es nicht belauscht zu werden, egal von wem.

Merin, der seine Aufmerksamkeit wieder auf den Magier vor sich gelenkt hielt, folgte dem unausgesprochenen Befehl und glitt lautlos zurück in den Schatten, aus dem er gekommen war.

»Du bist und bleibst ein Risikofaktor, aber auch der Schlüssel zum Ganzen«, raunte der Magier vor sich hin, während seine Finger liebevoll das Holz des Stabes hinauf und herabfuhren. Etwas musste er jedoch zugeben. Ohne die schnelle Auffassungsgabe des Gestaltwandlers an jenem Tag hätten sie keine weitere Chance bekommen. Dennoch stieg Wut in Grindelwald auf, als er sich an das damalige Ereignis erinnert fühlte und die rechte Hand vor sein gesundes Auge hob. Sein Blick glitt dabei über den schlecht verheilten Stumpf, an dessen Stelle sich sein Zeigefinger hätte befinden sollen. Er erinnerte sich, als wäre es erst gestern gewesen, an das Hochgefühl, welches ihn damals übermannt hatte, bevor die Situation ihm aus den Händen geglitten war.

Merin war schnell gewesen, er jedoch auch. Seine geistesgegenwärtige Handlung, den verwesenden Finger Liliths Geist hinterherzuwerfen, hatte ihm so eine Hintertür geschaffen, durch die er sich nun bereit sah zu treten, um seine Ziele endgültig erreichen zu können.

Ein schiefes Grinsen legte sich auf seine aufgeplatzten Lippen. »Meine liebste Lilith, schon bald wirst wieder an meiner Seite sein. Ich kann es kaum noch erwarten«, säuselte seine unheilschwangere Stimme, bevor sich ein wahnsinniges Lachen durch die Festung ergoss, sie ausfüllte und den berittenen Auszug der Getreuen in die Morgendämmerung übertönte.

Merin folgte den donnernden Hufen mit seinen Augen, bevor auch er die Zügel seines braunen, durchtrainierten Hengstes ergriff und über den Hof schritt. Sein Weg führte ihn hierbei an den Rand des Vorplatzes, direkt vor den tiefschwarzen, schattigen Durchgang, der seine Reise etwas verkürzen würde. So lange er sich hinter den Grenzsteinen aufhielt, welche das unwirkliche Land vom Reich der zehn Königreiche trennten, war es ihm möglich, seine Reisen durch die Schatten anzutreten. Hinter jenen allerdings war ihm dieses Privileg nicht mehr vergönnt. Zwar besaß er immer noch die Fähigkeit dazu, aber eine Ausführung würde die Aufmerksamkeit seiner Brüder mit sich bringen und jenes war etwas, das er sich nicht hatte leisten können, unter keinen Umständen.

Merin blinzelte gegen den Himmel und verweilte einen Augenblick, bevor er beherzt die Zügel enger umfasste und mit seinem Tier in den Schatten trat.

534 - Band I

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