Читать книгу Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit? - Mirjam Mous - Страница 10
Prissy
ОглавлениеDas ist kein guter Moment für ein Gespräch über ein Kostüm von Colourcompany.
Mama sitzt mit einem Beruhigungsshake und ihrem Camphone am großen Tisch im Wohnzimmer. Die halbe Stadt hat sie abtelefoniert, in der Hoffnung, jemand könnte Holden getroffen haben. Mitschüler, Nachbarn, Familie.
»Vielleicht hat er ja eine Freundin?«, überlegt sie. »Dann ist er vielleicht bei ihr.«
»Klar, Mama«, sage ich matt.
Ich meine: Trägt sie Scheuklappen, oder was? Holden bringt nie jemanden mit nach Hause, weil er keine Freunde hat. Geschweige denn ein Date mit einem Mädchen.
Mein Camphone pingt.
»Holden?«, fragt Mama angespannt.
Ich starre auf die Nachricht auf meinem Display: Toll, dass du mich doch nicht blockiert hast.
»Jemand von der Schule«, lüge ich sie an, während ich merke, wie mir die Gänsehaut über den Hinterkopf kriecht.
Hat Mo das Gespräch mit meinen Freundinnen belauscht? Aber das kann nicht sein. Ich war allein in meinem Zimmer. Der Totenkopf mit den Mangaaugen sieht mich durchdringend an. Und dann kapiere ich es plötzlich. Dieser Mistkerl hat mein Camphone gehackt, damit er mich ausspionieren kann!
In einem Reflex schalte ich mein Gerät aus. Für drei Sekunden fühle ich mich sicher, bis ich an den Jungen im Schwimmbad denke. Als Xavi fast auf mich sprang, lag mein Camphone in meinem Schließfach – und trotzdem hat Mo es gesehen. Offenbar beobachtet er mich unablässig – egal, ob offline oder online.
Die Gänsehaut breitet sich über meinen ganzen Körper aus. Vielleicht beobachtet Mo mich in diesem Augenblick auch heimlich. Durch das Fenster suche ich die Straße ab und …
Da kommt Holden! Er trägt einen unförmigen Beutel über der Schulter. Ich vermute, da ist etwas Megaschweres drin, denn er bewegt sich noch langsamer als ich auf meinen Wolkenkratzer-Schuhen – einem Fehlkauf mit Zehn-Zentimeter-Absätzen und nur für Partys geeignet, bei denen man den ganzen Abend auf seinem Stuhl sitzen bleiben kann.
Ich wummere gegen die Scheibe.
Holden scheint kurz zu erschrecken und hebt dann die Hand.
»Du kannst wieder ruhig durchatmen«, sage ich zu Mama. »Er ist da.«
Sie eilt zur Haustür, aber Holden geht hintenrum.
»Er nimmt den Weg über die Küche!«, rufe ich.
Holden kommt ohne Beutel rein.
»Wo warst du?« Mama lacht und weint und drückt seine Schultern und Arme, als wäre er nur ein Traum. »Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht.«
»Tut mir leid«, sagt Holden. »Ich bin gestürzt.«
Und stundenlang bewusstlos gewesen, was?
»Sag doch einfach, dass du nicht zur Therapie wolltest.« Hinter mir summt der Kühlschrank. Als ich einen kurzen Blick zur Seite werfe, drängt sich das blinkende Display in mein Gesichtsfeld – laut der orangefarbenen Buchstaben sind die Jelly-Yummys fast alle und müssen dringendst nachbestellt werden.
»Glaubst du mir nicht?« Holden zieht sein T-Shirt hoch, den Hosenbund ein Stück runter und zeigt uns seine blaugrün verfärbte Hüfte.
»Schatz!«, ruft Mama erschrocken. »Wir gehen sofort zur Ambulanz!«
»War ich schon.« Holden lässt sein T-Shirt wieder fallen. »Darum bin ich ja so spät.«
»Warum hast du dann nicht einfach angerufen?«, fragt Mama.
»Nicht erlaubt. Da hingen überall Warnhinweise, man müsste das Camphone ausschalten.«
Zum Glück lehne ich am Kühlschrank, sonst wäre ich vor Verblüffung nach hinten getaumelt. In so einem Fall würde der echte Holden sein Gerät erst recht einschalten. Das ist nicht mein Bruder, sondern ein Klon.
»Na ja, jedenfalls bist du sicher zu Hause angekommen und das ist das Wichtigste.« Mama streicht ihm liebevoll über die strähnigen Haare. »Ich geb der Klinik Bescheid, dass du wieder aufgetaucht bist, und dann will ich alles genau wissen.«
Sie verschwindet im Wohnzimmer, wo ihr Camphone liegt.
»Was ist wirklich passiert?«, flüstere ich Holden zu.
»Ich bin gefallen, sagte ich doch.«
»Und was ist mit dem Beutel?«
»Was für ein Beutel?«
Haha. »Der grüne, der über deiner Schulter hing.«
Holden spreizt die Arme und dreht sich einmal um die eigene Achse. »Ich sehe keinen grünen Beutel, du?«
»Jetzt nicht mehr, nein.« Ich schubse ihn mit dem Ellenbogen. »Hast du ihn im Garten versteckt?«
»Warum sollte ich ihn …«
»Siehst du!«, rufe ich. »Jetzt gibst du es selbst zu!«
Holdens Blick huscht zur Wohnzimmertür.
»Schrei nicht so.«
»Darf Mama es nicht wissen?«, frage ich noch immer brüllend laut.
»Klappe, Pris!« Er sieht aus, als wollte er mich bei lebendigem Leib fressen.
»Wenn du mir erzählst, was drin ist.«
Er nickt! Sichtlich widerwillig, aber er nickt!
»Pass du auf Mama auf«, sagt er. »Und sorg dafür, dass sie im Wohnzimmer bleibt.«
Ich warte an der Tür. Solange Mama telefoniert, muss ich nichts tun. Holden kann den Beutel aus dem Garten holen, ohne dass sie es merkt.
»Gib mir fünf Minuten«, flüstert er, bevor er mit dem ausgebeulten Ding in sein Zimmer schleicht.
Kaum habe ich mich auf die Treppe gesetzt, kommt Mama mit ihrem Camphone in die Diele.
»Prissy, Liebes?« Sie hält das kleine Mikrofon zu. »Dein Camphone ist anscheinend nicht eingeschaltet. Da will dich jemand sprechen.«
Flow, wahrscheinlich. Würde man sie auf einer einsamen Insel ohne WLAN aussetzen – sie würde es nicht überleben. Ein Camphone-Time-out von einer halben Stunde und sie bekommt schon Entzugserscheinungen! Zitternde Hände, einen leeren Blick und …
»Es ist ein Junge.« Mama reicht mir ihr Gerät. »Ein gewisser Mo.«
Meine Knie zittern. Das kann nicht wahr sein! Wie um Himmels willen kommt er an Mamas Nummer? Über mein gehacktes Gerät?
Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle runter. »Ja?«
»Mo hier.« Er klingt träge und so relaxed, als käme er gerade aus der Badewanne.
Auflegen!, sagt mein Hirn.
»Was?«, schnauze ich.
Mama wirft mir einen fragenden Blick zu. Als ich eine beschwichtigende Handbewegung mache, geht sie an mir vorbei die Treppe hinauf. Ich müsste Holden warnen, dass sie unterwegs ist, aber Mo atmet mir ins Ohr und verlangt alle Aufmerksamkeit.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagt er.
»Habe ich auch nicht.« Meine Stimme ist weniger fest, als ich möchte.
»Dann traust du dich doch bestimmt auch, mich zu treffen.«
Meint er ein Date? Mein Herz schlägt aus wie ein Geigerzähler. »Warum sollte ich das wollen?«
»Warum nicht?«, kontert er.
Stalker dürften einfach keine sexy Stimmen haben!
»Weil du höchstwahrscheinlich ein totaler Vollpfosten bist«, sage ich.
Er lacht entspannt. »Es gibt nur eine Art, das herauszufinden. Sehe ich dich morgen am Happy Day?«
»Du hast sie wohl nicht alle. Ich verabrede mich echt nicht mit einem Wildfremden.«
»Um vier Uhr hinter dem Power Partyzelt.« Er beendet seinen Satz nicht mit einem Fragezeichen, sondern mit einem Punkt.
Was für eine Arroganz! Als hätte ich nichts zu sagen.
»Bist du taub, oder was?«, brülle ich in Mamas Camphone. »Ich komme nicht!«
Aber der Idiot hat bereits aufgelegt.