Читать книгу Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit? - Mirjam Mous - Страница 21
Holden
ОглавлениеDer Shredder beißt sich noch immer die Zähne an meinem Rucksack aus.
»Nicht öffnen«, sagt Mama. »Holden, geh nach oben und zieh dir was anderes an.«
Das Herz einer Maus schlägt über 600-mal in der Minute. Meins ist mindestens so schnell, als ich in mein Zimmer flüchte. Ich trete mir die Schuhe von den Füßen, streife die Hose über die Beine und pfeffere sie irgendwo weit nach hinten in meinen Schrank.
Die Konserven! Wenn sie die finden, bin ich erledigt.
Wild schaue ich mich um. Ginge dieses dämliche Fenster nur auf, dann könnte ich sie zwischen die Sträucher in den Garten werfen. Energieneutrale Häuser sind verdammte Bunker!
Shit. Diese nervige Klingel schon wieder. Minutenlang.
Ich kümmere mich nicht weiter um die Dosen, tausche meinen schwarzen Hoodie gegen einen grünen Pulli und ziehe eine Jeans an. Fuck, da liegt das Feuerzeug. Das muss gerade aus meiner schwarzen Hose gefallen sein.
Jetzt klingeln sie nicht nur, sondern bollern auch noch an die Tür. Ich kann nicht mehr logisch denken, stecke das Feuerzeug in die Hosentasche und gehe auf Socken die Treppe hinunter.
»Machen Sie auf oder wir sind gezwungen, die Tür gewaltsam zu öffnen!«, erklingt es von außen.
Der Shredder ist still.
Ma kommt in die Diele. »Fertig?«
Als ich nicke, öffnet sie.
Sie sind zu zweit. Ein Mann mit traurigen Hundeaugen und eine durchtrainierte Frau mit starrem Gesichtsausdruck und einem kleinen Koffer.
»Ordnungshüter Chapman«, stellt sich der Mann vor.
»Miller.« Die Frau hat eine unangenehm näselnde Stimme. »Sie haben uns ziemlich lang warten lassen.«
»Das tut mir leid«, sagt Ma. »Ich war auf der Toilette und meine Tochter …«
Prissy versucht sich an einem unschuldigen Lächeln, wodurch sie besonders schuldig aussieht. »I-ich hatte einen Kopfhörer auf«, stammelt sie.
Chapman schaut zu mir.
»Ich war … äh … oben«, sage ich und weise mit einer etwas unbestimmten Geste zur Treppe.
»Können wir kurz drinnen reden?« Miller wartet Mas Antwort gar nicht erst ab und betritt die Diele.
Wir sitzen wie eine Gruppe Angeklagter nebeneinander auf dem Sofa. Ma, Prissy und ich.
Chapman hat sich gegenüber von uns in den Sessel gesetzt. Ein grauer Lehnstuhl, in dem Pa gerne saß, weil man sowohl die Härte als auch die Temperatur der Kissen anpassen kann.
Nur Miller bleibt stehen. »Heute Morgen hat jemand mit einer Guy-Fawkes-Maske dieses Haus verlassen«, sagt sie. »Ich möchte wissen, wer.«
»Dieses Haus?« Ma verzieht verärgert den Mund. »Das würde mich wundern.«
»Wir haben einen Zeugen«, sagt Miller, ohne zu blinzeln.
Die Katze mit den Lackstiefeln erscheint auf meiner Netzhaut. Diese blöde Mistkatze, die auf unserem Bürgersteig herumtanzte.
»Und das heißt?« Mama pult Glitzer von ihrer Wange. »Zehntausende besitzen eine Guy-Fawkes-Maske.«
»Wir konzentrieren uns auf die Einwohner unserer Stadt, Frau Winters«, erläutert Chapman. »Bislang haben wir siebenundfünfzig Besitzer finden können. Sie alle beteiligen sich an einer großen Spurensicherung.«
Spurensicherung …
Vögel haben keine Schweißdrüsen. Ich habe Millionen davon und sie nehmen akut den Dienst auf, eine nach der anderen.
»Der Täter hat den Dochtschutz der Lunte liegen lassen«, sagt Miller und öffnet ihr Köfferchen. »Und es wurden Reste des gezündeten Feuerwerks sichergestellt. An beiden fanden wir sowohl Fingerabdrücke als auch Körperflüssigkeit.«
Meine klatschnassen Fingerspitzen kleben wie Saugnäpfe an der Armlehne des Sofas und verbreiten ein ganzes Meer von DNA. Was für eine gigantische Dummheit, die Raketen zum Abschuss mit bloßen Händen im Röhrchen zu platzieren.
Miller stellt einen elektronischen Fingerabdruckleser auf den Wohnzimmertisch, legt drei Röhrchen mit Wattestäbchen daneben und streift Handschuhe über.
Wäre ich bloß auch so vernünftig gewesen, welche anzuziehen!
»Wir nehmen von jedem eine DNA-Probe«, sagt sie. »Ich schabe ein wenig Schleim von der Wangeninnenseite und …«
»Ist das nicht übertrieben wegen ein paar Feuerwerksraketen?«, fällt Ma ihr ins Wort. »Noch keine fünfzig Jahre ist es her, da gab es gewaltige Feuerwerksshows und alle fanden sie großartig.«
Prissy nickt verzweifelt.
»Es hätte ein Feuer ausbrechen können«, sagt Miller.
Ich denke sofort an Pa; auch Ma erstarrt für einen kurzen Moment.
»Wir haben keine Wahl, Frau Winters«, sagt Chapman. »Es geschah vor den Augen Tausender Zuschauer. Wenn wir das nicht ernst nehmen, könnten andere dies für einen Freibrief halten. Um die Stadt sicher und sauber zu halten, muss dieser Mann oder diese Frau als abschreckendes Beispiel dienen.«
Mit jedem Wort, das er sagt, fühlt es sich an, als würde meine Kehle enger zugeschraubt.
Miller nickt zu Prissy hinüber. »Soll ich bei dir anfangen? Dann hast du es am schnellsten hinter dir.«
»Okay«, flüstert meine Schwester mit knallrotem Kopf.
Am liebsten würde ich sie schütteln. Sie anbrüllen, dass es keinen Grund gibt, sich zu schämen. Als wäre es ihre Schuld, dass man sie verdächtigt!
Nein, das ist deine Schuld, meckert Pa in meinem Kopf.
Miller schraubt den Deckel vom Röhrchen – den Deckel, der zugleich auch Griff ist für das Wattestäbchen. »Den Mund bitte öffnen.«
Prissy zittert wie eine ängstliche Maus, während Miller zugange ist. Und dann rollt auch noch eine Träne über ihre Wange.
Scheißordnungskräfte!
»Lasst sie in Ruhe!«, rufe ich. »Ich bin der, den ihr sucht.«