Читать книгу Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit? - Mirjam Mous - Страница 8
Prissy
ОглавлениеSobald ich zu Hause bin, clicke ich meinen Freundinnen: Camchat. Jetzt!
Aber auch sie kennen niemanden namens Mo oder Mateo.
»Ein seltener Fall von Cyberstalking«, sagt Anna.
»Vielleicht ist es ja ein Pädophiler«, sagt Flow. »Die gibt es wirklich immer noch! Ich würde ihn anzeigen.«
»Und wenn die Ordnungskräfte dann mein Camphone untersuchen wollen?«, protestiere ich. »Dann bin ich tagelang ohne.«
»Meinst du echt?« Flow ist fast im Schockzustand. »Eher würde ich mir den kleinen Finger amputieren lassen!«
»Mach es lieber, Pris«, sagt die vernünftige Anna. Sie nestelt an einem ihrer hundert Ohrringe. »Deine Nummer hat er schon. Wer weiß, vielleicht entdeckt er ja auch noch, wo du wohnst, und dann wirst du ihn nie wieder los.«
Brooklyn hat ihr Telefon aufs Waschbecken gelegt, damit sie ihren Lidschatten nacharbeiten kann; ich sehe sie nur noch von unten. Sie vermittelt mir das Gefühl, vollkommen unwichtig zu sein, und das kann ich nicht ausstehen.
»Was meinst du?«, frage ich.
Ihre Hand mit dem Applikator bleibt einen Augenblick in der Luft hängen.
»Sofort blockieren, diesen Widerling.«
»Was für eine gute Idee!«, ruft Flow, als hätte Brooklyn gerade eine neue Modelinie erfunden.
»Das schon, aber …« Ich verschlucke den Rest meiner Worte. Sie würden es sowieso nicht kapieren.
»Aber was?«, fragt Flow.
»Nichts«, sage ich mit einem Kopfschütteln zum Display. »Danke, Mädels.«
Ich beende den Chat und setze mich mit meinem Camphone aufs Bett. Wenn ich Mo blockiere, gibt es keinen Weg mehr zurück. Dann wird er für immer und ewig ein Mysterium bleiben.
Ich hasse ungeklärte Mysterien.
Mein Gerät verschwindet irgendwo in den Kissenstapeln hinter meinem Rücken. Die Bezüge haben Fransen, was jeder bei mir zu Hause lächerlich findet, aber Vloggerin Reese sagt, Kissenbezüge mit Fransen sind absolut hot, und sie weiß, wovon sie spricht. Also.
Auf der Ablage unter meinem Spiegel lugt die Schachtel mit den Surprise-Yummys hervor, die ich gestern bekommen habe. »Mit Supergrüßen von Supershoot«, hatte der Kurier gesagt. Offenbar bin ich schon fünf Jahre dabei oder so. Oder sie finden meine Camfies einfach klasse.
Ich nehme ein Yummy und kuschele mich wieder in die Kissen, während ich den 3-D-Projektor einschalte. Ein leises Summen füllt den Raum und dann spaziert Reese aus meiner Zimmerwand.
»Hi!« Sie winkt mit beiden Händen und lächelt. »Schön, dass du mir wieder zuschaust. Heute reden wir über Happy Day.«
Ich habe das Gefühl, ihr Lächeln ist nur für mich bestimmt.
»Schwarze Kleider sind nichts für ein Fest«, sagt sie. »Hebt die mal lieber für die Beerdigung eurer Tante auf.«
Düstere Musik ertönt.
Ich denke an mein funkelnagelneues Eisköniginnenkleid. Ein weißes, zum Glück! Mit einer silbernen Tiara voller künstlicher Diamanten. Mama hatte es auf der Schnäppchenseite gefunden und laut Anprobe-App stand es mir fantastisch. Also haben wir es sofort bestellt.
»Das Eisköniginnenkleid, das im letzten Jahr der große Hit war?« Reese bewegt ihren Zeigefinger hin und her. »Schön im Schrank lassen. Das geht gar nicht mehr.«
Das gerade noch so großartig schmeckende Yummy wird plötzlich sauer.
»Weiße Kleidung ist sowieso out.« Reese beugt sich vor und vertraut mir flüsternd an: »Und sehr empfindlich. Dabei kann doch gerade an Happy Day so viel schiefgehen. Jemand drückt dich aus Versehen gegen eine dreckige Wand oder du verschmierst dein Make-up. Auf einem weißen Outfit ist jedes Fleckchen wie ein Ausrufezeichen. Und dann sind alle Camfies mit dir für die Tonne!«
Bei der Vorstellung allein wird mir schon übel.
»Ich entscheide mich daher für …« Sobald Reese mit den Fingern schnipst, entrollt sich ein Banner von Colourcompany. »… die farbenfrohe Kollektion von …«
Ein leises Klopfen. Meine Tür wird aufgeschoben und Mamas Kopf erscheint in der Öffnung. »Hast du eine Ahnung, wo Holden steckt?«
»Woher soll ich das denn wissen?« Mit einem Auge schaue ich zu Mama, mit dem anderen zu Reese.
»Jetzt bestellen und dein Kostüm kommt noch heute.«
Ich muss Mama unbedingt rumkriegen!
»Die Klinik hat angerufen, er ist dort nicht aufgetaucht.«
Mama kommt ins Zimmer und hebt eine meiner herumliegenden Sandalen auf. »Es wird ihm doch nichts passiert sein?«
Da haben wir es wieder. Auf einer Skala von eins bis zehn für Besorgtheit würde Mama eine Elf schaffen. Für unglaublich nerviges Verhalten übrigens auch. Sie wischt durch die Luft und Reese verschwindet abrupt.
»Ja, hallo!«, rufe ich wütend.
»Sonst hörst du mir nicht zu.«
»Tu ich doch. Aber du übertreibst auch immer sofort.«
Mama wirft mir einen verletzten Blick zu und ich fühle mich doch ein wenig schuldig.
»Vielleicht hatte er einfach Lust zu schwänzen«, sage ich.
»Das erklärt noch nicht, weshalb ich ihn nicht erreichen kann.«
Ich verdrehe die Augen. »Vielleicht, weil er sein Camphone ausgeschaltet hat?«
»Wer macht denn so was?«
»Holden offensichtlich.«
Mein Bruder ist nicht normal, das weiß doch jeder.
»Und wenn jetzt doch was Schlimmes passiert ist?«, fängt Mama wieder an. Sie scheint gar nicht zu merken, dass sie meine Lieblingssandale fast erwürgt. Gleich bricht noch die Sohle!
»Es ist überhaupt nichts passiert«, sage ich. »Er hat keine Lust auf dein Gejammere, also geht er nicht ran.«
»Glaubst du?«
»Ganz sicher.« Ich richte mich auf, nehme ihr die Sandale aus der Hand und stelle sie neben ihr Gegenstück unters Bett.
Mama starrt etwas verloren auf ihre leeren Hände.
»Kannst du ihn nicht anrufen?«, fragt sie dann. »Mit deinem Gerät. Vielleicht reagiert Holden ja, wenn er sieht, dass du es bist.«
Ich weiß jetzt schon, dass er mich für eine Verräterin halten wird. Aber wenn ich Mama helfe, erhöhe ich meine Chancen auf ein Kostüm von Colourcompany, also taste ich unter meinen Kissen, bis ich mein Camphone finde.
Anrufen. Ich laufe hin und her.
»Und?«, fragt Mama gespannt.
Ich schüttele den Kopf. »Aber das heißt nicht, dass er nicht da ist. Wenn sein Gerät ausgeschaltet ist …«
Mit hängenden Schultern setzt sie sich auf mein Bett.
Ich muss an die hauchdünnen Vasen im City-Museum denken. Sobald man ihnen zu nahe kommt, leuchten Buchstaben auf dem Boden auf: NICHT BERÜHREN, SEHR ZERBRECHLICH.
Ich traue mich auch nicht, Mama anzufassen. Als Papa noch lebte, war sie tapfer und stark. Ich kann es mir kaum noch vorstellen.