Читать книгу Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit? - Mirjam Mous - Страница 20
Prissy
ОглавлениеAls ich nach Hause komme, schaue ich sofort zum Schränkchen in der Diele. Kein ID-Bändchen.
Gut so. Dann muss ich auch nicht leise sein.
Ich meide den Filmrahmen mit Papas liebem Gesicht und gehe gleich nach oben. Die automatische Beleuchtung ist mir immer ein paar Schritte voraus. Früher habe ich hin und wieder versucht, die Lampen einzuholen, indem ich plötzlich losrannte. Das behaupten jedenfalls Mama und Holden – ich selbst weiß das nicht mehr.
Es ist angenehm warm in meinem Zimmer. Ich tausche mein Kostüm gegen einen bequemen Jogginganzug, schlüpfe in meine Slipper und nehme mein Kleid, die Strümpfe und das herzförmige Krönchen mit in die Rumpelkammer, in der Mama alten Kram in Kartons aufbewahrt. Mein Blick huscht über die Etiketten. SPORTARTIKEL, HAPPY DAY, JACKS KLEIDUNG …
Tragen wird Papa sie nicht mehr. So sind sie doch noch für etwas gut.
Ich verberge mein Happy-Day-Outfit unter einem Stapel seiner Hemden ganz unten im Karton. Könnte man Schuldgefühle doch auch nur einfach ausziehen und wegstecken wie ein Kleid. Holden meint immer, es sei lächerlich, dass ich mich so schnell schlecht und verantwortlich fühle. Als ob ich das absichtlich täte!
Ich nehme mein Camphone mit nach unten und mache es mir auf dem Sofa bequem.
»Da bist du ja endlich«, nörgelt Flow, sobald ich mich ihrem Chat anschließe. »Du hast ewig nichts von dir hören lassen.«
Bestimmt ist sie noch sauer wegen der Nachricht von Mo.
»Wenn ich mich nicht irre, kam die letzte Nachricht von mir«, sage ich vorsichtig.
»Und ich stehe mir die Beine in den Bauch beim Power Partyzelt«, rattert sie einfach weiter. »Du hättest wenigstens clicken können, dass du nicht mehr zurückkommst.«
Noch mehr Schuldgefühl ertrage ich einfach nicht.
»Es tut mir leid«, sage ich. »Ich wollte, aber durch dieses Feuerwerk …«
»Ich hasse diesen Typen.« Brooklyn macht ein Gesicht, als hätte sie auf ein falsches Yummy gebissen.
»Und ich erst«, stimmt Flow ihr zu. »Der Idiot hat Happy Day völlig versaut.«
»Entschuldigt …« Ich denke an Mo mit seinen wahnsinnig starken Armen und seiner Zauberstimme. »Aber übertreibt ihr nicht ein wenig?«
»Nein, aber du benimmst dich völlig normal, was?« Flow seufzt bis in ihre angeklebten Kunstwimpern. »Gehst mit deinem Stalker …«
»Sie suchen ihn«, sagt Anna.
»Prissys Stalker?«, fragt Flow dümmlich.
»Nein, Quatsch. Denjenigen, der das Feuerwerk gezündet hat.«
Anna schickt den Alert weiter.
ERKENNEN SIE DIESE PERSON, RUFEN SIE SOFORT FOLGENDE NUMMER AN …
Ich betrachte die Gestalt auf dem Camfie. Dunkle Haare. Schwarze Kleidung. Das Gesicht verborgen hinter einer weißen Maske mit schwarzen Augenbrauen, rosa Wangen, einem schwarzen Schnurrbart und einem vertikalen schwarzen Streifen auf dem Kinn. Es kommt mir vage bekannt vor.
Brooklyn grinst. »Ich ahne es schon. Unser Nachbar ist der Täter.« Flow und Anna brüllen vor Lachen. Als Brooklyn der Maske auch noch ein paar Kaninchenohren verpasst, ersticken sie fast.
»Prissy?«, ist von der Diele aus zu hören.
»Ich bin hier!«
»Zum Glück, du bist schon zu Hause.« Mama kommt mit zerzausten Haaren ins Zimmer. Ohne Kostüm, weil sie am Morgen arbeiten musste. Das einzig Festliche ist der Glitzer auf ihren Wangen und die gepunktete Schleife unter ihrem Kinn. »Was für ein Aufstand«, murrt sie. »Frau Adams wurde ins Krisenzentrum gerufen, um sich mit den neuen Führenden zu beraten. Manche Festteilnehmer sind wegen dieser Knallerei völlig durchgedreht.«
»Du auch«, sage ich. »Du hast tausend Nachrichten geschickt.«
Sie schaut mich mit gespielter Empörung an. »Höchstens fünf. Und da wusste ich noch nicht, dass es Feuerwerk war.«
Holden taucht hinter ihr auf. »Fantastisches Feuerwerk.«
Er trägt dieselbe schwarze Kleidung wie der Typ auf dem Alert.
»Wo ist dein Kostüm?«, frage ich.
Er schmeißt seinen Rucksack auf den Boden. »Und deins?«
»Ja, Pris …«, sagt Brooklyn.
Mein Kopf glüht, als hätte ich vierzig Grad Fieber.
Ende Camchat!
Mama hat nichts mitgekriegt und schaltet den Projektor ein. »Mal kurz schauen, ob es schon Neuigkeiten gibt.«
Wir landen mitten in einer Live-Sendung.
»… Happy Day gestört hat«, sagt Jesser von Hotnews.com. »Wir zeigen Ihnen die Filmaufnahmen.«
Auf unserer Wand erscheinen Dutzende verkleideter Menschen. Einer von ihnen ist mit einem Kreis gekennzeichnet. Der Täter. Deutlich sichtbar zündet er eine Rakete an. Auf dem Alert war sein Rucksack nicht gut zu erkennen, aber jetzt …
Holden?
Wie kannst du nur so etwas denken?, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Dein eigener Bruder.
Andererseits hat er kein Problem damit, Regeln zu übertreten, sagt eine andere Stimme. Und dann hat er auch noch diesen Schutzkeller entdeckt. Was, wenn die Leute früher dort nicht nur Lebensmittel in Konserven, sondern auch Leuchtraketen aufbewahrt haben, um sie im Notfall abzufeuern?
Ich würde mir am liebsten die Hände vor die Ohren halten, aber dann sagt Mama heiser: »Papa hat vor Jahren auch eine solche Maske zu Happy Day getragen.«
Als hätten wir uns abgesprochen, schauen wir beide gleichzeitig zu Holden.
»Was?«, fragt er pikiert.
Mama bringt den Projektor zum Schweigen. »Schatz …«
Holdens Blick wandert zu seinem Rucksack. »Du glaubst doch nicht …«
Ich muss wissen, ob es wahr ist.
Sobald Holden wieder wegschaut, schnappe ich mir die Tasche.
»Bitch!«, ruft er.
Mama scheint es nicht einmal zu hören. Sie sieht zu, wie ich den Rucksack öffne. Wie ich mit zitternden Händen eine Maske herausziehe.
Dann schreit sie Holden an. »Was hast du getan, um Himmels willen?«
Sie reißt mir die Sachen aus den Händen und rennt in die Küche. Ihre Panik ist wie ein Virus, der sich auf mich überträgt, und ich laufe hinter ihr her.
Holden folgt uns, übertrieben stöhnend. »Jetzt tu doch nicht so hysterisch, Mama.«
»Du hast ja keine Ahnung!«, schreit sie.
Holden und ich schauen uns an. Sie kriegt sich nicht mehr ein.
»Beruhige dich doch«, beschwichtige ich.
Holden nickt. »Keiner hat mich erkannt.«
»Das wäre zu hoffen.« Mama stopft die Maske in den Schredder, der sie im Nullkommanichts zermalmt. Danach ist der Rucksack an der Reihe. »Deine Kleidung muss auch noch da rein.«
Ich sehe Holden an, dass er protestieren will, aber dann hören wir, dass vor dem Haus ein Wagen anhält, und genau in diesem Moment verhakt sich der Schredder. Mama muss den Rucksack herausziehen und von vorn anfangen. Sie flucht.
Draußen werden Autotüren zugeschlagen.
»Schau nach, wer es ist«, flüstert Mama.
Holden will schon zum Fenster laufen.
Mama gibt der Tasche noch einen Schubs. »Du nicht. Prissy.«
Ich falle fast in Ohnmacht vor Angst, als ich am Vorhang vorbeispähe und ich im Licht der Laterne den Wagen entdecke. »Ordnungskräfte.«
In diesem Moment klingelt es.
Wir zucken alle zusammen, als bekämen wir einen Stromschlag.