Читать книгу Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit? - Mirjam Mous - Страница 14
Prissy
Оглавление»Wow.« Anna steht in ihrem Flamingokleid vor dem großen Spiegel und fasst vorsichtig an ihre knallrosa gefärbten Haare.
Ich habe sie in drei spitze Türmchen gedreht wie im Beispielvideo beim Hair-&-Make-up-Artist in der Southstreet. Dass man eine Tiara auch falsch rum tragen kann, ist meine eigene Idee. Das durchbrochene Silber mit den rosa Strasssteinchen schmückt Annas Stirn, als wäre es genau dafür gedacht.
»Hübsch«, muss Brooklyn zugeben. Sie ist als Lightgirl verkleidet – ihre Lieblings-Gamefigur – und hat fix und fertige Haare gekauft: eine schwarze Afro-Perücke mit LED-Lämpchen.
»Jetzt ich noch.« Ich setze mich auf den Schemel vor dem Frisiertisch und schiebe meine Haare mit zwei Händen nach oben. »Was meint ihr? Hochstecken oder …«
»Warte mal kurz«, sagt Flow. »Nicht bewegen, Pris.«
Das klingt so eindringlich, dass ich wie ein lebendes Bild sitzen bleibe.
Anna kommt näher und studiert meinen Hals.
»Was?«, frage ich.
Läuft da vielleicht irgendein ekliges Tier? Aber ich spüre kein Kribbeln.
»Keine Sorge.« Flow holt etwas Glänzendes aus ihrem Kulturbeutel. »Ich löse das Problem.«
Mit einer Pinzette? Dann ist es bestimmt eine Zecke!
Ich kneife die Augen fest zusammen. »Bist du auch vorsichtig? Und beeil dich ein bisschen, meine Arme werden lahm.«
Etwas Kaltes, Metallisches berührt kurz meinen Nacken und dann höre ich ein Schnippen.
Ein Schnippen!
Ich reiße die Augen auf und springe vom Schemel. »Was machst du da? Bist du verrückt?«
»Dafür sorgen, dass du dich gleich nicht bis auf die Knochen blamierst.« In der rechten Hand hält Flow eine kleine Schere und in ihrer linken …
Mir kommen fast die Tränen, als ich das elektronische Label sehe, das sie aus meinem Kleid geschnitten hat.
»Was guckst du komisch?«, sagt Anna.
»Prissy guckt immer komisch.« Brooklyn kichert. »So ist ihr Gesicht.«
Verzweifelt sinke ich auf den Schemel und suche mit meinem Kopf auf den Armen Trost beim Frisiertisch.
»He.« Flows Stimme ist samtweich. »Brooklyn macht doch nur einen Scherz.«
»Ich bin nicht in der Stimmung für Scherze«, murmele ich.
Jetzt will sie mit mir auf dem Schemel sitzen. Ihre harte Hüfte zwingt mich, ein Stück zu rücken. »Du hast ein wunderschönes Gesicht.« Sie legt die Arme um mich. »Das weißt du ganz genau.«
Ich hebe meinen Kopf ein wenig an. »Darum geht es gar …«
Ich schlucke. Flow hat die Schere und das E-Label auf den Frisiertisch gelegt. Es ist wie in Filmen mit Verliebten, in denen einer der beiden stirbt. Ich gucke auf das Label und muss weinen.
»Was hast du denn bloß?«, fragt Brooklyn. »Sonst stellst du dich nie so an.«
Bestohlen werden von der eigenen Tochter …
Mama wird auch megatraurig sein. Und enttäuscht.
Anna kauert sich neben den Schemel. »Liegt es vielleicht an dem Stalker? Bist du deswegen so durcheinander?«
»Mo?« Nach unserem Gespräch habe ich kaum noch an ihn gedacht. Er ging mir nicht länger auf die Nerven und ich war zu viel mit anderen Sachen beschäftigt. Zum Beispiel damit, auf der Lauer zu liegen und die Haustür zu öffnen, bevor der Kurier klingelt, damit Mama es nicht mitbekommt.
Ich wische die Tränen ab und setze mich aufrecht hin. »Mo hat nichts damit zu tun.«
»Was ist denn dann los?«, fragt Anna.
»Ja, Pris.« Flow zupft ein Kosmetiktuch aus der Box und reicht es mir.
Ich schnäuze mir die Nase, um Zeit zu schinden. Könnte ich es ihnen bloß clicken, dann bräuchte ich sie nicht anzuschauen.
»Wir sind deine Freundinnen«, drängt Flow. »Uns kannst du doch alles sagen.«
»Das E-Label«, rutscht mir raus. »Du hast es einfach so abgeschnitten.«
»Natürlich«, sagt sie. »Das Ding ragte direkt aus deinem Kleid. Modepanne Nummer zwei, laut Reese.«
»Drei«, korrigiert Brooklyn.
»Hättest du es doch nur einfach in meinen Kragen zurückgesteckt.« Das Kosmetiktuch ist eine kleine feuchte Kugel in meiner Hand. »Jetzt kann ich mein Kostüm nicht mehr zurückschicken.«
»Warum solltest du das wollen?«, fragt Flow einfältig. »Es steht dir supergut.«
»Mama weiß nicht, dass ich es gekauft habe. Ich hatte schon ein Kleid …«
Den Blick auf den Boden gerichtet, fange ich an zu erzählen.
Meine Freundinnen waren noch nie so lange am Stück still. Irgendwann bekomme ich das Gefühl, sie hätten sich vielleicht heimlich davongeschlichen, und schaue vorsichtig auf.
Natürlich sind sie noch da – ganz schockiert, auch wenn sie versuchen, das hinter nervösen kleinen Lachern zu verstecken.
»Und jetzt habe ich also ein riesiges Geldproblem«, beende ich meine Geschichte.
Flow ist als Erste wieder in der Lage zu reden. »Ich würde dir furchtbar gern helfen, aber …«
»Dein Kleidergeld ist alle.« Ich nicke verstehend.
»Meins auch«, sagt Anna.
Brooklyn kaut auf der Innenseite ihrer Wange. »Kann Holden dir nichts leihen?«
»Für ein Kleid?« Fast muss ich laut lachen. »Da bin ich bei ihm bestimmt an der richtigen Adresse. Kleidung interessiert ihn echt nicht die Bohne.«
»Ach«, sagt Brooklyn. »Das ist mir bisher noch nie aufgefallen.«
Ich bin immer noch nicht zu Scherzen aufgelegt.
»Ein Versuch kann doch nichts schaden.« Flow reicht mir mein Camphone. »Na los. Appelier an sein Gefühl. Du bist die kleine Schwester, die ihren großen Bruder um Hilfe bittet.«
Würg!
Aber weil mir auch nichts Besseres einfällt, fange ich doch an zu clicken.
Wer bin ich denn, bitte schön?, schreibt Holden zurück. Der Weihnachtsmann? Ich will auch Geld, für ein Fernglas.
Plötzlich habe ich eine geniale Idee. Dann verkauf doch die Dosen mit dem Essen.
Spinnst du?, clickt er zurück. Erzähl es Ma lieber. Besser, sie hört es von dir, als dass sie selbst dahinterkommt.
Aber dann bin ich dem Untergang geweiht!
In meinem Kopf läuft ein tränenreicher Film mit mir in der Hauptrolle: Prissy Winters darf zur Strafe nie mehr zu Happy Day. Kleidergeld kann sie für den Rest ihres Lebens vergessen. Die Shoppingnachmittage mit Freundinnen sind Vergangenheit und mit ihren Loser-Klamotten verdirbt sie jedes Camfie. Sie wird zur Witzfigur auf Supershoot und nach einer Weile wird keiner mehr fragen, ob sie mitkommt. Im verblassenden Abspann sitzt sie in ihrem Zimmer; nur ihr Camphone leistet ihr Gesellschaft. Traurig schaut sie auf das Display. Sie bekommt nur noch Nachrichten von ihrer Mutter und wird nie mehr gelikt.
The End.
Mein Daumen zögert keine Sekunde mehr und clickt wie besessen.
Wenn du mir nicht hilfst, erzähle ich Mama tatsächlich alles.
Versenden.
Herzlichen Glückwunsch, clickt er zurück. Du bist jetzt offiziell eine Bitch.
»Und?«, fragt Flow.
»Holden ist auch pleite«, sage ich.