Читать книгу Data Leaks (1). Wer macht die Wahrheit? - Mirjam Mous - Страница 13
Holden
ОглавлениеNach seinem Tod wurde Pas Arbeitszimmer zur Rumpelkammer degradiert. Der Schreibtisch mit dem eingebauten Ladegerät steht noch da. Der Computer und das Elektronenmikroskop haben Kartons Platz gemacht. Ma hat jeden einzelnen mit einem Etikett versehen: SPORTARTIKEL, KLEIDUNG PRISSY, HAPPY DAY …
Den habe ich gesucht. Ich schütte den Inhalt der Kiste auf den Boden und setze mich daneben. Prissys kilometerlange Halsketten dürfen wieder in den Karton zurück, ebenso ein Papierfächer, eine rote Clownsnase und eine gepunktete Wollstrumpfhose.
Bei den Schminkpaletten zögere ich kurz. Ich hasse Make-up, aber mit einem bemalten Gesicht bin ich nicht so leicht erkennbar.
Obwohl …
Angenommen, ich werde von einem Ordnungshüter verfolgt und muss in der Menschenmasse verschwinden. Eine Perücke kann man abnehmen oder schnell eine Kapuze überziehen. Mein schwarzer Hoodie ist im Handumdrehen rot, wenn ich ihn auf links drehe und wieder anziehe. Aber mich im Wegrennen abschminken …
Die Schminke wandert auch zurück in den Karton.
Der falsche Schnurrbart wäre vielleicht was. Oder noch besser: die Guy-Fawkes-Maske!
Als ich sie hochhebe, fällt ein Ring daraus hervor. Pas dicker Klunker – auffällig glitzernd mit einem Fake-Edelstein in Tischtennisballgröße! Elstern fänden ihn sicher supergut.
Zum Spaß schiebe ich ihn mir auf einen Finger und strecke den Arm, damit ich ihn von etwas weiter weg anschauen kann – und plötzlich habe ich einen dicken Kloß im Hals.
Unser letzter Happy Day mit der ganzen Familie – und wir hatten keine Ahnung.
Feixend kam Pa die Treppe herunter. In seinem weißen Gangster-Anzug, einen ganzen Laden voller Falschgold-Ketten um den Hals und das Hemd offen bis zum Bauchnabel. Seine drei Brusthaare hatten sich auf wundersame Weise vervielfältigt. Ein Trick von Ma, die ihm mit einem Augenbrauenstift Locken auf die Brust gezeichnet hatte, was bis auf Prissy alle witzig fanden. Sie meinte, Pa sollte sich lieber als Prinz oder Popstar verkleiden.
Im Nachhinein wäre eine Verkleidung als Leiche besser gewesen. Oder als wandelndes Skelett.
Ich kann Pa fast lachen hören. Genau wie ich liebte er derbe Scherze. Das machte unsere Beziehung so besonders – dieser grobe Humor, den Prissy und Ma überhaupt nicht nachvollziehen konnten, wir beide aber schon.
Bis er mich im Stich ließ.
Mein Fuß holt aus und donnert gegen den Karton, der wie ein Puck beim Eishockey durch das Zimmer schießt und an der Wand zum Stillstand kommt. Wütend reiße ich mir den Ring vom Finger und schmeiße ihn hinterher.
Es ist so verdammt unfair!
»Holden?«, ruft Ma.
Manchmal glaube ich, sie hat eine eingebaute Sicherheitskamera, die alle Geräusche und Bewegungen in diesem Haus aufnimmt.
»Alles in Ordnung!«, brülle ich zurück.
Ich setze die Guy-Fawkes-Maske auf. Aus irgendeinem Grund wirkt sie beruhigend – als säße ich in einem sicheren Zelt.
Test.
Ich spähe durch die schmalen Augenschlitze. Geradeausschauen geht prima. Um mitzukriegen, was neben mir passiert, muss ich den Kopf zur Seite drehen, aber das ist kein Problem. Ich beuge mich vor, um ein paar Sachen vom Boden aufzuheben. Die Maske bleibt perfekt an ihrem Platz und …
Shit, ich habe den Ring zerlegt. Er liegt neben der Fußleiste, nur noch verziert mit einem runden Gewinde. Der Stein muss sich gelöst haben.
Da! Unter dem Schreibtisch glitzert ein nicht zu verfehlender blauer Klunker.
Ich gehe auf die Knie und angle nach dem Stein. Zu meinem großen Erstaunen ist er hohl und … Das Blut pocht in meinen Ohren. Da steckt was drin!
Ich setze die Maske ab und schaue es mir aus der Nähe an. Es sieht aus wie ein altmodisches winziges Papierröllchen. Nur in chinesischen Glücksyummys stecken heute noch Papierbotschaften. Jetzt ist der Moment, deinen Träumen zu folgen. Zwischen Hoffnung und Erinnerung blüht Ihr Glück. Prissy und ihre Freundinnen sind immer ganz berauscht.
Ich pule mit der Nadel einer Brosche in der Öffnung und ziehe das Zettelchen heraus. Unbeholfene, von Hand geschriebene Buchstaben. Ich glaube, da steht SWIS, aber wenn ich das Papier umdrehe, könnte es genauso gut SIMS sein. Wie auch immer – beides sagt mir absolut nichts.
Aber Google hoffentlich schon.
Ich fange mit dem Wort SWIS an und finde tatsächlich ein paar kleine Unternehmen, die so heißen, darunter ein Beratungsbüro, ein Bekleidungsgeschäft und irgendwas mit Gewichtheben. Früher gab es auch noch eine Technoband mit diesem Namen und … mein Blick bleibt an einem Camfie von Miral Swis hängen. Offenbar war sie eine der ersten unserer neuen Führenden! Aufgeregt lese ich weiter, aber dann stellt sich heraus, dass sie schon zig Jahre in Pension und überhaupt nicht mehr wichtig ist. Und damit auch nicht interessant. Das wird nichts. Vielleicht bringt SIMS mir mehr Glück.
Sobald ich das Wort eingebe, bekomme ich eine Serie antiker Videogames vorgesetzt. Außerdem gibt es noch einen Link zu einem amerikanischen Admiral namens William Sims, aber der hat die Bangen Jahre nicht einmal mehr erlebt. Bleibt nur noch der Ort Sims übrig. Irgendwo in Illinois, laut Google Maps. Auch das kann ich abhaken. Ich glaube nicht, dass sie dort so auffällige Klunker anfertigen, und ich weiß ohne Zweifel, dass Pa nie dort gewesen ist.
»Ma!« Ich nehme Zettel und Ring und humpele mit meinen geschundenen Knöcheln die Treppe hinunter. »Ich hab da was gefunden!«