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Eigenständige Offenbarungsreligion oder Kopie jüdisch-christlicher Mythen?

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Kalisch hebt auf vorhandene mutazilitische Quellen ab, die im Laufe der islamischen Historie verschwunden seien, was er sich aus darin mit den verbreiteten Grundansichten späterer Gelehrter nicht vereinbarten Inhalten erklärt.[24] Unterstellt, die dogmatische Einstellung der Rechtsschulen habe tatsächlich jene Quellen aus machtpolitischer Absicht aus dem Verkehr ziehen lassen, ändert dies nichts an der Tatsache, dass jene Texte in der Gegenwart unbekannt sind und folglich hieraus weder Schlussfolgerungen in der einen noch in der anderen Richtung getroffen werden können. Von der späteren Lehrmeinung abweichende, darin beschriebene Sachverhalte dürfen zudem in keiner Weise als Beleg für Realitätsferne der vorliegenden Quellen herhalten. Denkbar und gar nicht einmal unwahrscheinlich ist doch auch, dass den von Kalisch als „dogmatisch“ gebranntmarkten späteren Gelehrten, die über die religiösen Glaubensinhalte bereits aus der mündlichen Überlieferung informiert waren, jene schriftlichen Quellen, die offenbar davon erkennbar abwichen, als wenig plausibel erschienen sind und sie die Nachwelt vor „Irrglauben“ zu bewahren trachteten.

Für den Ende des zweiten Jahrhunderts weitgehend abgeschlossenen neutestamentlichen Kanon kann diese These sogar als ziemlich sicher gelten, weil hier nicht wenige der nicht kanonisierten Schriften als sogenannte „Pseudoepigraphen“ noch vorliegen. So sind die Aussagen der vier kanonischen Evangelisten zum Leben Jesu - bei allen Divergenzen - zueinander weit ähnlicher als beispielsweise zum pseudoepigraphischen Kindheitsevangelium des Thomas, wo Jesus bereits in seiner Kindheit Wunder zugeschrieben werden, die auf die eigentliche Heilsverkündung (weitgehend in den letzten drei Jahren seines Lebens) keinerlei unmittelbaren Bezug aufweisen.[25] Diese Erzählungen wurden schon von der alten Kirche - offenbar zu Recht - als Legenden erkannt, denen ein geringer religiöser heilsgeschichtlicher Stellenwert zu eigen ist.

Für die frühen islamischen Gelehrten sollte eine vergleichbare Wertschätzung angenommen werden, zumal die in jener Zeit üblichen mündlichen Überlieferungen erst als „Wahrheit“ angesehen werden durften, wenn zwei Zeitzeugen unabhängig voneinander die selbe Begebenheit bestätigen konnten. Vor diesem Hintergrund war es im Islam sogar - anders als im Juden- und Christentum - überhaupt nicht notwendig, mehre Heilsquellen oder „Evangelien“ nebeneinander zu besitzen. Hierin liegt offenbar eine der Ursachen für die von Kalisch als „sonderbar“ anmutende Quellenarmut in der islamischen Frühgeschichte. Als „sonderbar“ ist in diesem Zusammenhang wohl eher die These Kalischs zu werten, der Islam stehe in der Tradition des Alten und Neuen Testamentes. Wieso sollte der Koran in der Bibel bereits eingehend beschriebene Begebenheiten wie den Exodus unter Moses nun in muslimischer Deutung wiederholen, wenn sie als „jüdisch-christliche Quellen“ der angesprochenen Gesellschaft bereits zugänglich gewesen wären. So stellt Kalisch fest: „Kein Prophet wird so oft im Qu`ran erwähnt wie Moses und die muslimische Tradition hat immer die Ähnlichkeit zwischen Moses und Muhammad betont.“ Hierzu merkt er weiter an: „Schon dem Propheten selbst ist dieser Vergleich in den Mund gelegt worden. Das zentrale Ereignis im Leben des Moses ist der Exodus der unterdrückten Kinder Israels aus Ägypten und das zentrale Ereignis im Leben Muhammads ist der Exodus seiner unterdrückten Gemeinde von Mekka nach Medina.“[26]

Das Neue Testament wiederholt auch nicht in abgewandelter Form die alttestamentlichen Berichte, wenngleich es mehrfach darauf Bezug nimmt. Schließlich erwarteten die Evangelisten und Apostel geradezu, dass ihre Adressaten die alttestamentlichen Originaltexte bei religiösen Unklarheiten zu Rate ziehen würden, um mit ihrer Hilfe, ergänzt durch die christlich-neutestamentlichen Interpretationen, die für ihre Gegenwart geeigneten Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Für Kalisch erscheinen Argumente dieser Art wenig überzeugend, denn er zweifelt nicht nur ebenso wie den Propheten Mohammed die Existenz der früheren, dem Juden- und Christentum entstammenden Glaubensväter wie Jesus, Moses und Josua an, sondern stellt die neutestamentlichen Schreiber ebenso wie die islamischen Urquellen in Zusammenhang mit heidnisch antikem Gedankengut wie dem römischen Mithraskult[27] und der Gnosis[28], Strömungen die nicht nur nachweislich in Konkurrenz zum Monotheismus hebräisch-palästinischer Herkunft standen, sondern denen bereits von der christlichen Theologie frühzeitig entgegengetreten worden ist.

Als unbestreitbar gilt hingegen, dass das Christentum sich in einer jüdischen Tradition sieht, als „Erfüllung alttestamentlicher Prophezeiungen“[29], die demnach lediglich von den Juden selbst nicht angemessen erkannt und gedeutet worden seien. Der Islam billigt ebenfalls Juden wie Christen zu, Wahrheiten bereits erkannt zu haben, die den mekkanischen Heiden bisher nicht zugänglich gewesen waren. Er richtete sich jedoch anfangs nicht nur in erster Linie an zuvor mehrheitlich heidnische Gesellschaften, sondern hat weder dem Alten noch dem Neuen Testament für die existenziellen islamischen Glaubensaussagen einen besonderen Stellenwert beigemessen, da die göttliche Offenbarung erst Prophet Mohammed in reiner, unverfälschter und vollständiger Form geoffenbart worden sein soll. Dieser neuen Offenbarung hätte es nicht mehr bedurft, wenn die jüdisch-christlichen Propheten sie bereits vollständig verkündet hätten.

Ein Islam ohne Prophet

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