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2. Der Ausgangspunkt: Die justiziable Verfassung

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„Verfassungsgerichtsbarkeit ist jedes gerichtliche Verfahren, das die Einhaltung der Verfassung unmittelbar gewährleisten soll“: Diese klare Feststellung von Hermann Mosler vor nun bald sechs Jahrzehnten beim Heidelberger Kolloquium[24] soll auch als Ausgangspunkt der vorliegenden evolutiven Behandlung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa fungieren. Es gilt auch hier, der Zentralität des Begriffs „Gerichtsbarkeit“ die Oberhand zu geben, wo der Vollständigkeit halber alle möglichen historischen Erscheinungen der weitergehenden Kategorie des „Schutzes der Verfassung“ einbezogen werden könnten, von denen allerdings nicht wenige von der Idee der Gerichtsbarkeit weit entfernt sind.[25] Eine Darstellung der Entwicklung des gesamten Komplexes des Schutzes der Verfassung in vergleichender Perspektive wäre bestimmt nicht uninteressant, geht aber über die Grenzen dieser Arbeit hinaus. Deswegen wird hier konsequent und von Anfang an von der Behandlung der Vielfalt der Mechanismen des Verfassungsschutzes, die das vergleichende Recht in der Vergangenheit bietet, abgesehen.[26]

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Zur weiteren Erläuterung des oben genannten Schlüsselbegriffs dieser Arbeit bietet sich die Verwendung des Terminus „Justiziabilität“ an.[27] Die knapp gefasste Aussage hierzu dürfte wohl lauten: „So viel Verfassungsgerichtsbarkeit wie justiziable Verfassung“. Dies bringt – zugestanden – einen weiten Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit mit sich, in dem Sinne, dass man, wo immer die Verfassung vom Richter unmittelbar „angewendet“ wird, schon im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit als gerichtliche Garantie der Verfassung wäre. Dies ist aber eine unvermeidliche Folge, wenn man mit diesem Begriff konsequent weiterarbeiten will.

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Kurz gesagt impliziert eine justiziable Verfassung dreierlei. Sie setzt an erster Stelle ein rechtliches Verständnis der Verfassung voraus. Das ist eine unmittelbare Folge der elementaren Notion der Justiz, die per definitionem einen Rechtssatz voraussetzt, um gerichtlich zu entscheiden. Geht man von der Idee einer „politischen“ Verfassung aus, deren rechtliche Qualität in Zweifel gezogen wird, könnte diese als „politische“ Verfassung verteidigt werden, wobei dann aber andere Institute des Verfassungsschutzes in Betracht kämen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass der Begriff „Verfassungswidrigkeit“ im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet wird, was ebenfalls eine Form des Verfassungsschutzes darstellt.[28] Solange aber die Verfassung nicht als Teil der jeweiligen Rechtsordnung angesehen wird, wird ihre Garantie nur schwerlich in den Händen der Justiz liegen können. Dieses rechtliche Verständnis der Verfassung setzt seinerseits eine Reihe von Grundbedingungen voraus, die hier nur kurz erwähnt werden können. Es geht dabei um die moderne Verfassung, also die geschriebene, datierte, unterzeichnete, verkündete und veröffentlichte Verfassung:[29] also letzten Endes die Merkmale des modernen Gesetzes.[30] Es genügt hier, darauf hinzuweisen, dass die anhaltenden Mängel der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa auf die entsprechenden nicht minder anhaltenden Schwächen des europäischen Konstitutionalismus zurückzuführen sind.

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Zweitens setzt Justiziabilität eine vindizierbare Verfassung voraus, d.h., dass sie die rechtliche Möglichkeit eröffnet, sei es von Privatpersonen oder von öffentlichen Organen in Anspruch genommen zu werden. Auch in dieser Beziehung sollte die Verfassung sich vom Rest der Rechtsordnung nicht unterscheiden.

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Schließlich bedeutet Justiziabilität, dass die Inanspruchnahme der verschiedenen aus der Verfassung hergeleiteten Rechtspositionen, sowohl organisch wie funktionell, verfahrensmäßig, also prozedural erfolgt. Dies verlangt die Einsetzung eines unabhängigen Organs, das nach einem geregelten Verfahren und nach den Grundsätzen der wesentlichen Verfahrensgarantien agiert.

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