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a) Eine fortdauernde Frage
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Ein hypothetischer externer Beobachter, der in der Vergangenheit oder auch in der Gegenwart die Grundausrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa verstehen möchte, müsste sich nur die folgende Frage stellen: Haben die Richter in Europa die Befugnis, wenn nicht gar die Pflicht, ein verfassungswidriges Gesetz anlässlich der Beilegung eines konkreten Rechtsstreits zu ignorieren? So einfach die Frage auch erscheinen mag, umso komplizierter ist die Antwort. Wenn dieser Beobachter jedoch das Glück hätte, eine angemessene Antwort zu erhalten, so hätte er allein schon damit viel erfahren, und zwar nicht nur über den Status der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern auch über den der Verfassung selbst, immer bezogen auf den europäischen Raum.
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Denn dies ist eine Frage, die sich vor allem die Europäer selbst häufig stellen, sei es in ihrer Eigenschaft als Richter oder als Rechtspraktiker bzw. -theoretiker.[50] Die Frage ergibt sich aus dem Text der Verfassung selbst, nämlich dem Schweigen, das die Verfassung in den meisten Fällen in dieser Hinsicht bewahrt. Es ist ein Schweigen, das angesichts seiner sachlichen Relevanz interpretiert werden muss. Allerdings schweigt die Verfassung nicht immer: Es gibt Ausnahmen, wie sich zeigen wird, die in einigen Fällen ein ausdrückliches Verbot des richterlichen Prüfungsrechts verfügen, in einigen wenigen Fällen jedoch die Pflicht zur richterlichen Gesetzeskontrolle vorsehen.
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An dieser Stelle ist zu untersuchen, wie sich diese Frage zeitlich – sogar jenseits der uns hier beschäftigenden Periode – und räumlich – auf dem gesamten Kontinent – bewährt. Das ist erforderlich, weil die scheinbar spontanste, nämlich bejahende Antwort, von dauerhaften Schwierigkeiten oder Einwänden sehr unterschiedlicher Art begleitet ist. Selbst am Ende dieser Entwicklung, wenn die eindeutig positive Antwort schließlich aus der Verfassung selbst kommt, wird sie, in ihrer europäischen Variante, nur durch eine organische und funktionale Regelung realisiert, die mit allerlei Bedingungen und Vorbehalten umgeben wird: das europäische System der Verfassungsgerichtsbarkeit. Kurz gesagt, schon die Idee der Verfassung verlangt, dass jedes parlamentarische Gesetz, das ihr widersprechen könnte, als null und nichtig betrachtet wird, wobei dennoch Umstände verschiedener Art dazu beitragen, diese scheinbar einfache Folge zu verhindern. Dieses Phänomen verlangt daher eine Erklärung.
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Die Schwierigkeiten, die durch das richterliche Prüfungsrecht im europäischen Ottocento zu überwinden sind, lassen sich auf zwei sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen bedeutsame Aspekte reduzieren: die zunächst vorherrschende Doppelstruktur des Verfassungsmodells der konstitutionellen Monarchie, die hier als „monarchische Schwierigkeit“ bezeichnet wird, und das fortbestehende Konzept der nationalen Repräsentation als natürlichem Verteidiger der Verfassung mit Vorrang vor allen anderen Gewalten, die hier als „nationale Schwierigkeit“ bezeichnet wird. Die erste dieser Schwierigkeiten kann mit dem Ende des jetzt analysierten Zeitraums als überwunden angesehen werden. Die zweite wird bis weit ins 20. Jahrhundert fortbestehen.