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4. Zum zeitlichen Rahmen

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Die Verfassungsgerichtsbarkeit entwickelt sich in Europa in einem zeitlichen Rahmen, dessen nähere Bestimmung noch aussteht. In dieser Beziehung sind an erster Stelle die Optionen zu erwähnen, die den Anfang und das Ende dieser Entwicklung markieren. Auf dieser Basis soll dann der Frage nach der inneren Periodisierung dieses Rahmens nachgegangen werden. In allen diesen Punkten besteht die Hauptaufgabe darin, jeweils europarelevante Daten aufzufinden.

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Die Festsetzung des Anfangs und des Endes dieser Evolution hat jeweils eigene Probleme aufgeworfen. Was den Anfang betrifft, ist ohne weiteres klar, dass kein europäisches Datum vor 1789 zu finden ist. Zwar gab es in den jetzigen europäischen Staaten vor diesem Datum bereits oft verschiedene Typen von „leges fundamentales“ als Vorgänger einer Verfassung, gelegentlich auch mit eigenen Vorkehrungen zu ihrer Garantie,[34] aber für die vorliegende Untersuchung ist es angebracht, sie in erster Linie aus einem praktischen Grund beiseite zu lassen, nämlich wegen ihrer begrenzten Fähigkeit, die Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie heute in Europa besteht, zu erklären.

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Genau so schwierig ist es aber auch, das Jahr 1789 nicht als Anfang dieser Entwicklung zu sehen und wegen seiner Bedeutung nicht als europäischen Ausgangspunkt für diese Entwicklung festzulegen. Das Jahr 1789 bildet den wahren Auftakt der europäischen Geschichte, die die Form der politischen Organisation unserer Gesellschaft markiert. Die Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie heute verstanden wird, ergibt sich nicht aus einem Grundgesetz gleich welcher Art, sondern aus Verfassungen, wie sie in diesen Jahren in Europa entstehen. Seitdem, und präziser ab 1789–1791, entstehen in Europa die ersten Ausgestaltungen der modernen Verfassung und insofern Verfassungsgesetze, die an sich geeignet wären, eine Verfassungsgerichtsbarkeit im modernen Sinne entstehen zu lassen.

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Allerdings könnte angesichts der Diversität der Modelle und der Phänomene, die während des „revolutionären Zyklus“ von 1789–1815 dem Schutz der Verfassung dienten und vor allem angesichts der Diskontinuität dieser Experimente – denn als solche sollten sie sich letzten Endes allenfalls erweisen –, die Option für ein späteres Anfangsdatum durchaus in Betracht kommen.[35] Einige Beispiele genügen, um die Verschiedenartigkeit dieser Modelle darzulegen: So etwa das bekannte Modell der „jurie constitutionnaire“ aus der Feder von Emmanuel Sieyès,[36] oder die dem „Sénat conservateur“ zugewiesene Rolle als Hüter der kargen Grundfreiheiten der napoleonischen Verfassungen[37] sowie auch das Verfahren vor dem Parlament betreffend Verfassungsverletzungen in der spanischen Cortes-Verfassung.[38] Ohne weiter darauf einzugehen, lässt sich behaupten, dass keiner dieser Mechanismen zum Schutz der Verfassung nennenswerte Kontinuität mit dem heutigen Stand der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa zeigt. Kurz gesagt, weist das Erbe des gesamten revolutionären Zyklus mehr Bezug zum Begriff der Verfassung als zu dem der Verfassungsgerichtsbarkeit auf.

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Aus all diesen Gründen empfiehlt es sich, den Anfang dieser Darstellung auf einen späteren Zeitpunkt festzulegen, und zwar auf das Ende des revolutionären Zyklus von 1789–1815. Und so bietet sich das Jahr 1815 als Anfang sowohl für den letzten Endes bewährten, wenn auch noch schwachen europäischen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts wie seiner rudimentären Ansätze einer Verfassungsgerichtsbarkeit an. Aus dieser Perspektive ist die französische Charta von 1814 als erste Ausformulierung des dualen Modells der konstitutionellen Monarchie ein geeigneter Ausgangspunkt. Abgesehen von anderen Phänomenen gerichtsförmiger Gewährleistung der Verfassung nimmt hier insbesondere das teils verbotene, teils umstrittene und teils gewagte richterliche Prüfungsrecht seinen Anfang.[39]

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Anders stellt sich die Frage nach dem Endpunkt dieser Entwicklung dar. Es wäre ohne weiteres möglich, sich dem „kurzen“ 20. Jahrhundert[40] anzuschließen, und so beim Wendejahr 1989 halt zu machen, ein unmissverständlich europäisches Jahr, auch in unserem Kontext. Die zwei darauffolgenden Jahrzehnte sind jedoch zu bedeutend, um sie bei einer evolutiven Behandlung beiseite zu lassen. Bei der Suche nach einem europarelevanten Datum bietet sich daher als Endpunkt das Jahr 2009 an.[41] Aus der 2. Hälfte dieses Jahres stammen einige Ereignisse von gestaltender Bedeutung für die jetzige Lage der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Auf der Seite der EU der am 1. Dezember in Kraft getretene Lissabon-Vertrag als die gegenwärtige Verfassung der Union, mit der indirekten Positivierung des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts sowie der Proklamierung der Charta der Grundrechte als primäres Recht der Union, ohne dabei den fortbestehenden Auftrag zum Beitritt der Union zur EMRK zu vergessen. Auf der Seite der Mitgliedstaaten, das am 30. Juni ergangene Lissabon-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das als plausibler Inbegriff der Jurisprudenz der nationalen Verfassungsgerichte zur Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten angesehen werden darf.[42]

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Was die innere Periodisierung dieser Entwicklung angeht, so kann man als erstes eine übrigens schon angekündigte summa divisio zwischen deren beiden Jahrhunderten vornehmen. Der Übergang von dem einen zum anderen Jahrhundert stellt eine Wendemarke im vorliegenden Zusammenhang dar, allerdings unter dem Vorbehalt, dass man sie auf das Jahr 1918 verschiebt. Zu diesem Zeitpunkt geht auch das lange und in unserem Zusammenhang langsame 19. Jahrhundert zu Ende. Mit ihm endet die Vorherrschaft eines schwachen Modells des Konstitutionalismus monarchischer Prägung in seinen verschiedenen Ausformungen, mit den entsprechenden Schwierigkeiten der Verfassungsgerichtsbarkeit, in Europa Wurzeln zu schlagen. In dieser Beziehung steht 1918 für eine klare Wende. Es kennzeichnet den Aufbruch in eine Epoche der Beschleunigung, die bis heute anhält. Aus all dem ergibt sich in unterschiedlicher Weise die Frage nach der inneren Periodisierung beider Epochen.

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In Bezug auf das 19. Jahrhundert ist festzustellen, dass es dieser langen Epoche des Konstitutionalismus in Europa an einschneidenden Jahresdaten in den verschiedenen Staaten zwar nicht mangelt, einige von ihnen auch mit übergreifender Relevanz. Dennoch ist keines von ihnen geeignet, eine klare Zäsur in der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa sichtbar zu machen. Auch das Jahr 1848 nicht: Es hätte ein solches Datum sein können, hätte das Versprechen eines starken Konstitutionalismus in Europa nicht mit einer eklatanten Niederlage geendet.[43] Infolge dessen, und wie schon angekündigt, wird an Stelle einer chronologischen Behandlung des 19. Jahrhunderts eine Darstellung in Form einer Trias der erwähnten Entwicklungspfade der Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Jahrhundert bevorzugt: Dem des richterlichen Prüfungsrechts, dem der Verfassungsstreitigkeiten zwischen öffentlichen Gewalten und dem der Gewährleistung der individuellen Rechte und Freiheiten.

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Anders stellt sich das Problem im beschleunigten 20. Jahrhundert dar. Hier lässt sich schon eine integrierte Darstellung der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf dem Kontinent vornehmen. Drei klar differenzierbare europäische Perioden können hier identifiziert werden. Als Erstes die Zwischenkriegszeit (1918–1939): Auch wenn andere Kontinuitäten in unserem Kontext nicht fehlen, sind dies vor allem die Gründungsjahre des schon erwähnten „europäischen“ Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit. Als eine genauso klar differenzierbare Periode erscheinen auch die vier Jahrzehnte vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Jahr 1989. Sie entspricht der Epoche der tiefen Spaltung Europas in jeder Beziehung, auch verfassungsrechtlich, in „Ost“ (Mitteleuropa einbezogen) und „West“. Für den Westen sind es die Blütejahre der Verfassungsgerichtsbarkeit nach europäischem Muster. Die zwei Jahrzehnte zwischen 1989 und 2009 bilden schließlich eine dritte, leicht identifizierbare Periode: Für den westlichen Teil Europas gilt die Kontinuität. Für Mittel- und Osteuropa dagegen sind es die Jahre, in denen sich die Verfassungsgerichtsbarkeit, sehr überwiegend nach „europäischem“ Muster, ausbreitet.

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