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2. Staatsgerichtsbarkeit (Verfassungsstreitigkeiten)[75]
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Neben dem richterlichen Prüfungsrecht findet die Verfassungsgerichtsbarkeit Eingang in den europäischen Raum in Form einiger beachtenswerter Mechanismen zur gerichtlichen Lösung verschiedenartiger Verfassungskonflikte. Da die Verfassung prinzipiell eine Norm für die Kompetenzverteilung zwischen den Staatsgewalten mit mehr oder weniger abstrakt definierten Funktionen beinhaltet, ist sie auch immer eine mögliche Quelle für Konflikte oder Rechtsstreitigkeiten. Diese können hier allgemein als Verfassungsstreitigkeiten bezeichnet werden.[76] Alternativ kann der Begriff „Staatsgerichtsbarkeit“[77] aufgrund seiner abstrakten Begrifflichkeit auch dazu dienen, den Gegensatz zum dritten der vorgeschlagenen Entwicklungspfade zu verdeutlichen, nämlich dem der „Bürgergerichtsbarkeit“.
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Bezüglich seiner Eigenschaften handelt es sich um einen parallelen und autonomen Entwicklungspfad, der sich qualitativ von dem vorherigen, der gerichtlichen Kontrolle von Gesetzen, unterscheidet. Die Verfassung tritt hier nicht vorwiegend als eine Norm in Erscheinung, die sich aufgrund ihres höheren Wertes erfolgreich gegenüber anderen Normen durchzusetzen vermag. Sie nimmt stattdessen vor allem den Charakter einer „Spielregel“ in den Beziehungen zwischen einer Vielzahl von politischen Instanzen an, völlig unabhängig vom rechtlichen oder politischen Charakter der jeweiligen Gewalten. Mehr noch, sie erscheint in diesen Fällen als das einzig relevante Recht zur Beilegung von diesen Streitigkeiten. Das bedeutet, dass es keinesfalls mehr darum geht, ein Schweigen der Verfassung zu interpretieren. All dies erklärt, warum die Staatsgerichtsbarkeit immer eine ausdrückliche Bestimmung in der Verfassung erfordert, so dass sie nicht auf einem noch zu interpretierendem Schweigen beruhen kann.
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Wenn es um die politischen Organe geht, die in Konflikt geraten können, so kommt eine summa divisio ins Spiel: Auf der einen Seite gibt es Streitigkeiten oder Konflikte, die, unabhängig vom Typ der Verfassung, alle drei Staatsgewalten betreffen können; sie werden als horizontale Konflikte oder Organstreitigkeiten bezeichnet (Verfassungsorganstreit); auf der anderen Seite gibt es Streitigkeiten, die in „zusammengesetzten“ Staaten entstehen können, d.h. in Staaten, in denen die verschiedenen Funktionen zwischen einer zentralen Instanz und einer Vielzahl von Territorialinstanzen verteilt sind: d.h. föderale oder ähnlich aufgebaute Staaten (föderale Streitigkeiten). Letztere bilden eine klare Minderheit auf dem Kontinent und kommen praktisch nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz vor. Bevor sie im Einzelnen behandelt werden, sind zwei Bemerkungen vorauszuschicken.
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Erstens ist hier grundsätzlich die Alternative zwischen einer politischen und einer gerichtlichen Garantie der verfassungsmäßigen Machtverteilung besonders relevant. Wenn es sich um einen Streit zwischen politischen Gremien handelt, bietet es sich spontan an, die Beilegung einem ebenfalls politischen Dritten zu übertragen. Dies war in begrenztem Umfang der Fall in Deutschland unter der Reichsverfassung von 1871,[78] sowie in der Schweiz unter der Bundesverfassung von 1848. Jedenfalls ist die Entscheidung für eine gerichtliche Garantie niemals Teil der ordentlichen Gerichtsbarkeit, sondern erfordert vielmehr eine ausdrückliche entsprechende Bestimmung.
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Zweitens führt dieser zweite Entwicklungspfad der Verfassungsgerichtsbarkeit, zusammen mit der „Bürgergerichtsbarkeit“, im letzten Drittel des Jahrhunderts zur ersten autonomen organischen Ausgestaltung und/oder den ersten eigenständigen Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit. In Österreich schafft die „Dezemberverfassung“ ein in seiner Art einzigartiges Reichsgericht mit einer Vielzahl von verfassungsrechtlichen Kompetenzen, insbesondere in Bezug auf Verfassungsstreitigkeiten. In der Schweizerischen Eidgenossenschaft wurde das seit 1848 bestehende Bundesgericht 1874 als oberstes Bundesgericht für alle Gerichtszweige bestätigt und ein besonderes Verfahren für territoriale Streitigkeiten (staatsrechtliche Klage) geschaffen.