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IV. Erzählstrukturen

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Darstellungsebene und Ebene des Dargestellten

In jeder Erzählung sind grundsätzlich zwei Ebenen zu unterscheiden – die Ebene der dargestellten Welt (die Geschichte) und die Ebene der Vermittlung. Im Roman wird diese Darstellungsebene vom narrativen Diskurs oder Erzählbericht eingenommen, der bei Ich-Erzählungen und auktorialen Erzählungen ein Erzählerbericht ist. (Beispiele für eine Ich-Erzählung sind Günter Grass, Die Blechtrommel und David Copperfield von Charles Dickens; Beispiele für auktoriale Erzählung Goethes Wahlverwandtschaften, Henry Fieldings Tom Jones oder Balzacs Le Père Goriot.) Diese Erzählerfigur kann einerseits auch Person der Handlung sein (Ich-Erzählung: der Erzähler berichtet von seinen eigenen Erfahrungen) oder andererseits über der Welt der Figuren stehen und diese auktorial beschreiben (auktorialer Erzähler). Das heißt, der narrative Diskurs simuliert die Rede einer Erzählerfigur, die dem implizit oder explizit angesprochenen Leser die Geschichte erzählt. Andererseits kann diese Vermittlungsebene aber auch zurückgefahren sein, so dass der Leser den Eindruck hat, es gäbe gar keinen Erzähler. Dies trifft vor allem für den modernen Bewusstseinsroman zu, wo die Ereignisse durch die Gedankenwelt einer Romanfigur gefiltert präsentiert sind. F. K. Stanzel kategorisiert solche Texte als prototypische Beispiele der sogenannten personalen Erzählsituation (s. unten, Kapitel IX).

Die Erzählerfigur

Das Hervortreten bzw. Verschleiern der Erzählerfunktion wird im englischen Sprachraum auch mit den Begriffen overt vs. covert narrator (Chatman) umschrieben: Eine manifeste Erzählerfigur (overt narrator) ist eine, die deutlich als Enunziator zutage tritt, über das Personalpronomen der 1. Person („ich“) hinaus, und ihre Ansichten artikuliert sowie sich stilistisch und metanarrativ hervortut. Stanzel redet hier von einem personalisierten Erzähler; im Englischen wird auch der Begriff des dramatized narrator (Booth 1961) verwendet. Eine besonders ausgeformte Variante des manifesten Erzählers ist laut Stanzel das „Ich mit Leib“. Die Erzählerfigur wird in solchen Fällen ausführlich charakterisiert bis hin zur Beschreibung seines/ihres Äußeren. Sie agiert auf der Ebene der Narration, sitzt am Schreibtisch, blickt auf die blühenden Apfelbäume, kratzt sich am Kopf und hat sogar eine Ehefrau oder ein Kind, eine Vorgeschichte und ein explizit genanntes Geschlecht. In Fieldings Roman Joseph Andrews (1742) berichtet der Erzähler von den Qualen Lady Boobys, die von widersprüchlichen Leidenschaften zerrissen ist, wobei er dieses Hin- und Hergerissensein mit der Perplexität der Schöffen vor Gericht vergleicht:

So have I seen, in the Hall of Westminster; where Serjeant Bramble hath been retained on the right side, and Serjeant Puzzle on the left; the balance of opinion (so equal were their fees) alternately incline to either scale. […] till at last all becomes one scene of confusion in the tortured minds of the hearers […] Or as it happens in the conscience, where honour and honesty pull one way, and a bribe and necessity another. – If it was only our present business to make similies, we could produce many more to this purpose: but a similie (as well as a word) to the wise. We shall therefore see a little after our hero, for whom the reader is doubtless in some pain. (Fielding 1986: 62–3)

Der Erzähler war selbst bei solchen Gerichtsverhandlungen (Ich mit Leib); in der Folge tut er sich jedoch hauptsächlich als Erzähler, der Vergleiche verwendet, hervor, betätigt sich also metanarrativ, und schließt mit einer Zurückwendung zur Geschichte, bzw. zum Helden Joseph Andrews.

In manchen postmodernen Erzählungen wird die Geschichte des Textes so reduziert, dass das Hauptinteresse der Kurzgeschichte sich auf den verzweifelten Erzähler richtet, der am Schreibtisch sitzt und keinen Text zu produzieren vermag. Eine latente Erzählerfigur ist hingegen unscheinbar und artikuliert sich nicht oder nur ansatzweise als Enunziator:

In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken. („Das Erdbeben in Chili“; Kleist 1995: 148)

Film und Erzähler

Bei Filmen ist es die Kombination von visuellen und akustischen Eindrücken, die die Darstellungsebene ausmachen. Dafür haben Narratologen und Filmkritiker verschiedene Begriffe geprägt. Chatman vertritt die Ansicht, es gäbe einen „cinematic narrator“, einen ‚filmischen‘ Erzähler; Jahn spricht vom „FCD/filmic composition device“; Bordwell und Branigan hingegen lehnen es ab, eine Erzählerfigur im filmischen Medium anzusetzen. Gleichermaßen sind die Darstellungsebenen im Ballett und in Cartoons je nach Medium verschieden, und bei Malerei und Musik (vgl. Wolf 2002) fällt es besonders schwer, zeitliche Abfolgen (in der Malerei) bzw. Elemente der dargestellten Welt (Personen, Objekte, Handlungen in der Musik) mit der Darstellungsebene zu korrelieren. Wiederkehrende Motive oder Personen werden etwa bei Richard Wagner mit Klangfolgen codiert, aber selbst bei Programmmusik wie Berlioz’ Symphonie fantastique bleibt viel akustisches Material übrig, das sich nicht so leicht auf eine fiktionale Welt beziehen lässt.

Die Leserfigur

Neben den Erzähler muss auf der Ebene des Rezipienten die Leserfigur (engl. narratee, fr. narrataire) gestellt werden. Die Leserfigur kann auch eine fiktionale Gestalt sein – der Erzähler erzählt seine Geschichte z.B. seinem Freund, also einer bestimmten Person, die ebenso wie er der fiktionalen Welt angehört, auch wenn sie keine Handlungen auf der Plotebene ausführt und quasi im ‚Off‘ existiert. Die Leserfigur ist jedoch bei den meisten Romanen eher vage, auch wenn sie oft implizit oder explizit als Mann oder Frau gekennzeichnet ist. Laurence Sternes berühmte Anreden an „Dear Madam“ oder George Eliots Evozierung eines männlichen Lesers („you must be an exceptionally wise man, who … never … threw yourself in a martial attitude …“ – Mill on the Floss; Eliot 1980: II, iv, 154) sind typische Beispiele. Oft wird der Leser jedoch dazu aufgefordert, etwas zu tun: „I leave you to imagine the agreeable feelings with which Philip went to Mr. Deane the next day …“ (Eliot 1980: 546). Die Leserfigur kann sogar soweit konkretisiert werden, dass sie zu einer Figur mutiert. In Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht (orig. 1979) wird dem Leser befohlen, die Tür zu schließen; später erfahren wir von seinem Ausflug in den Buchladen, wo er diesen Roman kaufte. (Vgl. weiter unten.) Am anderen Ende dieser Skala von Konkretheit befindet sich der implizite Leser, die aus dem Text konstruierte Rezipientenfigur, die der Leser für sich als ideale Leserposition konstruiert, die er aber nicht wirklich einnimmt.

Äußere und innere Erzählstrukturen

Neben der Unterscheidung zwischen Darstellungsebene und der Ebene der dargestellten Welt lassen sich auch weitere grundsätzliche Strukturen unterscheiden. So werden Erzählungen in allen Medien sowohl äußerlich wie intern strukturiert.

Paratexte

Äußere, paratextuelle Strukturelemente sind z.B. die Titelseite, Kommentare zum Buch auf der Rückseite, dort oder im Vorspann abgedruckte Ausschnitte aus Rezensionen, Informationen zum Autor oder zu seinen weiteren Werken bzw. oft zu anderen vom Verlag in derselben Serie vermarkteten Büchern, sowie das Inhaltsverzeichnis, Vorworte, Einführungen, erklärende Anmerkungen des Herausgebers, Bibliografien u.a.m. In seinem Buch Paratexte (1987) unterscheidet Gérard Genette zwischen den Kategorien des Peritextes des Herausgebers, dem Autorennamen, dem Titel des Werkes, der Widmung, dem vorangestellten Epigramm, mehreren Arten von Vorworten und Einleitungen, textinternen Titeln, Anmerkungen sowie einem sogenannten Epitext am Werkende. Wir haben bereits oben in Kapitel III von einigen dieser Paratexte gesprochen. Bei Filmen kann man z.B. in Kinoaufführungen die Werbung am Beginn sowie die Credits unter solche Paratexte einreihen.

Zu den äußeren Erzählstrukturen ist auch noch die visuelle Gestaltung des Romantextes zu zählen, insoweit diese nicht mimetisch motiviert ist. Ich rede hier von typografischen Elementen der Schriftgröße, Marginalien oder Bildern, die dem Text paratextuell beigeschlossen sind. Die Grenze zwischen auktorialen und editorischen Verantwortlichkeiten lässt sich in diesem Bereich jedoch schwer ziehen.

Hingegen muss man Unterschiede in der Schrifttype (Kursiv-/Fettdruck, Großbuchstaben), die in der Erzählung so eingesetzt sind, dass sie systematisch Lautstärke (im Dialog), innere Rede (im Vergleich zur nicht-kursiven Rede des Erzählers) oder Fantasien (gegenüber tatsächlichen Gegebenheiten in der fiktionalen Welt) darstellen, als Teil der inneren Werkstruktur diskutieren. Im Film können z.B. durch Belichtung, Perspektive, Zoom oder fade ähnliche Effekte erzielt werden.

Hier geht es nur hauptsächlich darum, publikations- und vermarktungsspezifische Paratexte von narrativ relevanten zu trennen. So gehört z.B. der Titel eines Romans oder Films eindeutig zum Werk (wurde meist vom Autor und nicht vom Herausgeber bestimmt); andererseits ist der Titel nicht Teil der Erzählung selbst, sondern eines ihrer metanarrativen Elemente. Im Film zeigt sich deutlich, dass der Titel Teil des Erzählwerks ist, da dieser wie auch die Credits, die z.B. der Liste der dramatis personae im Drama entsprechen, häufig mit Segmenten der beginnenden Handlung unterlegt wird. Ähnliches gilt für das wesentliche Strukturelement der Kapiteleinteilung bzw. für Kapitelüberschriften. Manche umfangreiche Romane haben auch Teile, die sich in Bücher und jene wieder in Kapitel unterteilen (z.B. Victor Hugos Les misérables [dt. Die Elenden]).

Kapitel

Kapitel sind erst in der frühen Neuzeit langsam aufgekommen, in der deutschen Literatur jedoch früher als in der englischen. Wie Akteinteilungen im Drama wurden sie auch vielfach in Werke eingebaut, die ursprünglich keine Kapiteleinteilung hatten. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein und vermehrt wieder seit der Moderne gibt es Romane ohne Kapiteleinteilung. Selbst wenn Kapitel existieren, ist ihre Funktion manchmal eher leser- als inhaltsbezogen – sie sollen den Text in leserfreundliche Abschnitte einteilen und markieren nicht unbedingt wichtige Einschnitte des Plots.

Trotz aller dieser caveats steht jedoch fest, dass Kapitel als Texteinheit häufig drei Funktionen erfüllen:

– Sie erlauben separate längere Ausführungen des Erzählers zu gattungstechnischen, ästhetischen und metanarrativen Fragen. Besonders deutlich ist dies in Fieldings Tom Jones zu beobachten, der jedes Buch des Romans mit einem Kapitel des Erzählers über die Poetik des vorliegenden Werkes beginnen lässt.

– Sie markieren einen Schauplatzwandel oder einen Wechsel zu anderen Figuren. Ein neues Kapitel erleichtert für den Leser den Szenenwechsel zu einem anderen Erzählstrang, oft auch zu einer Rückblende, einer Binnenerzählung oder zu zitierten Dokumenten (Briefwechsel, Tagebucheintragungen, etc.) (vgl. Nischik 1981, Fludernik 2003a).

– Kapitelüberschriften als metanarrative Elemente erlauben dem Erzähler metafiktionale Spiele, die sich in der Formulierung der Kapitelüberschriften niederschlagen können, in der absichtlich willkürlichen Wahl des Kapiteleinschnitts oder in der metanarrativen Kommentierung des Kapitelwechsels.

Beispiele

Beispiele für besonders auffällige und humorvolle Kapitelbrüche bzw. -Überschriften finden sich z.B. in Fieldings Tom Jones (1749):

The remainder of this scene consisted entirely of raptures, excuses, and compliments, very pleasant to have heard from the parties, but rather dull when related at second hand. Here, therefore, we shall put an end to this dialogue, and hasten to the fatal hour when everything was prepared for the destruction of poor Sophia.

But this being the most tragical matter in our whole history, we shall treat it in a chapter by itself. (Fielding 1996: XV, iv, 697–8; Hv. MF)

Diese Stelle beschließt ein Gespräch zwischen Lady Bellaston und Lord Fellamar, in dem sie Sophias Vergewaltigung planen, die im nächsten Kapitel durch die unerwartete Ankunft ihres Vaters vereitelt wird. Das Kapitelende kündigt einen Szenen- und Zeitwechsel an und fügt eine metanarrative Bemerkung zur effektvolleren Darbietung der Ereignisse in einem eigenen Kapitel ein. Auch die Kapitelüberschriften dieses Romans illustrieren, wie der Erzähler den Leser absichtlich irreführt und wie für humorvolle Zwecke sogar dem Inhalt des Kapitels widersprechende Titel genutzt werden. Das oben zitierte Kapitel 4 trägt z.B. die Überschrift „By which will appear how dangerous an advocate a lady is when she supplies her eloquence to an ill purpose“ (696). Neben solchen didaktischen Überschriften finden sich solche, die ganz auf ihre Wirkung auf den Leser ausgerichtet sind: „Containing some matters which may affect, and others which may surprise, the reader“ (XV, v; 698); solche, die den Inhalt auf mysteriöse Weise verschleiern und so Spannung erzeugen: „Short and sweet“ – XV, viii; 714); strukturbezogene: „In which the history is obliged to look back“ – XVI, vi; 755), und witzige Varianten: „A most dreadful chapter indeed; and which few readers ought to venture upon in an evening, especially when alone“ (VII, xiv; 336). Vergleichbare deutsche Kapitelüberschriften wären folgende Beispiele aus dem Simplicissimus (1668/69) und aus Wielands Agathon (1766/67): „Welches bei einigen den Verdacht erwecken wird, daß diese Geschichte erdichtet sei“ (Agathon II, iv); „Worin der Geschichtsschreiber sich einiger Indiskretion schuldig macht“ (ibid., V, vi); „Ist kurtz und so andächtig daß dem Simplicio darüber ohmächtig wird“ (Simplicissimus I, vi); „Ist etwas kürtzer und kurtzweiliger als das vorige“ (ibid., II, xxi). (Zur Kapitelüberschrift als Gattung vgl. u.a. Wieckenberg [1969] für die deutsche Literatur und Schnitzler [1983] für die französische.)

Dennoch gibt es meiner Ansicht nach keinen Roman, der Kapitel einheitlich einsetzt. Die Mehrzahl der Kapiteleinschnitte ist pragmatischer Natur – sie teilen lange Erzählpassagen in leichter rezipierbare ‚Häppchen‘ auf. Manche AutorInnen, besonders im 19. Jahrhundert, sind hingegen Experten der Kapitelgestaltung. Durch die Veröffentlichung ihrer Werke als Fortsetzungsromane in Zeitschriften wurde es für Autoren wie Dickens notwendig, Folgen immer besonders spannend enden zu lassen, möglichst alle Erzählstränge in jeder Episode zu Wort kommen zu lassen und die einzelnen Serienteile deutlicher als Folge von drei bis vier Kapiteln zu gestalten.

Kapitelähnliche Strukturierungsmodelle lassen sich auch im Film beobachten, und zwar nicht nur in frühen Filmen, die Szenenwechsel durch Schriftelemente kennzeichneten („Zehn Jahre später“; „Meanwhile at the ranch“). Dieser Aspekt ist meines Wissens bisher in der Filmkritik noch nicht genügend beachtet worden. Besonders im Fernsehfilm ist mittlerweile die Strukturierung wegen der eingeblendeten Werbespots klar markiert, wobei auch hier das Spannungselement einen Einfluss auf die Platzierung der Pausen hat.

Erzähltheorie

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