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Fokalisierung, Perspektive, Point of view
ОглавлениеReflektormodus
Showing, also scheinbar unvermittelte Darstellung, kann nur bei Dialogszenen und in dramatisch-filmischem Kontext vorkommen; im Roman gibt es jedoch noch die Möglichkeit, die Dinge aus der Perspektive einer Figur zu schildern. In diesem Fall fungiert diese Figur als Fokalisator oder Linse, durch deren Gedanken und Wahrnehmungen das Geschehen dem Leser vermittelt wird. Die Romanfigur hat sozusagen in ihrem Bewusstsein eine Kamera eingepflanzt. In der Romantheorie Stanzels wird so eine Figur als „Reflektorfigur“ bezeichnet.
Die personale Erzählsituation
Als Beispiel für eine personale Erzählsituation, in der eine (oder mehrere) Reflektorfigur(en) die Darstellung dominieren, wählen wir Aleksandar Tišmas Roman Kapo (1987, dt. Übers. 1997), der wie folgt beginnt:
Er hatte Helena Lifka gefunden! Hatte sie erkannt, sich überzeugt, daß sie es war, es sei denn, ein Kreis von Trugbildern hatte sich geschlossen, um ihn zu täuschen. (7)
Etischer Textbeginn
Der Protagonist, Lamian, filtert durch seine Wahrnehmung und seine Erinnerungen die Geschichte. Dieser Romanauftakt enthält typische Signale für einen sogenannten etischen Textbeginn – kein Antezedens für das Personalpronomen „er“; Plusquamperfekt statt Imperfekt zum Ausdruck der Vollendung des Findens und Erkennens; der Name Helena Lifkas wird ohne Erklärung wie selbstverständlich erwähnt. Der Diskurs entspricht der Gedankenwelt Lamians, dem alle Zusammenhänge klar sind; der Leser muss diese – und die Identität Lamians – erst langsam rekonstruieren.
Perspektive
Wir wollen hier einstweilen festhalten, dass Erzählungen grundsätzlich aus der Perspektive eines Erzählers, aus der der Figuren und schließlich aus einer neutralen, unpersönlichen Perspektive (auch camera-eye genannt) geschrieben sein können. Auf den Film gehe ich in diesem Zusammenhang gesondert in Kapitel X ein. Man kann also zwischen einer persönlichen und unpersönlichen Sicht unterscheiden, und einer externen und internen Sicht. ‚Persönlich‘ heißt in diesem Fall, dass die Perspektivierungsfigur als menschliche Gestalt ausgebaut wurde und ihr subjektive Positionen zuzueignen sind. Demnach gibt es vier verschiedene Sichtweisen zu unterscheiden.
Ein neues Modell
Abb. 9: Fokalisierungsarten
In diesem Modell sind die Begriffe extern und intern als Positionen definiert, von denen aus gesehen wird (extern in Bezug auf die diegetische Ebene; intern auf der diegetischen Ebene). „Persönlich“ heißt, dass die Perspektive in einer anthropomorphen Instanz verankert ist, deren Bewusstsein die Perspektive interpretiert und über sich selbst Aussagen machen kann. „Unpersönlich“ heißt, dass dies nicht der Fall ist – die Fokalisierungsinstanz sagt über sich selbst nichts aus. Der Ich-Erzähler ist ein persönlicher Erzähler, aber auf der externen und internen Ebene zu lokalisieren. Eine interne unpersönliche (neutrale) Sicht im Reflektormodus gibt es nicht, da eine Reflektorfigur per definitionem die Umwelt über ihr eigenes Bewusstsein erfährt. Dieses Modell exkludiert ideologische Perspektiven (Uspenskij 1975; vgl. Kapitel IX) sowie stilistische Elemente, die Figuren zugeschrieben werden können. Letztere gehören meiner Ansicht nach zur Kategorie Stimme.
Die vorgeschlagene Terminologie weicht von Genette und Stanzel ab (vgl. Kapitel IX). Da ich die gängigen Fokalisierungsmodelle als sehr verwirrend empfinde, setze ich mich in diesem Punkt von den Vorgaben ab. Nur zur Verdeutlichung sei hier noch auf die gängige Terminologie verwiesen. Nicht diskutiert kann hier Nieragdens (2002) kürzlich vorgestelltes Modell werden, das Bal noch weiter verfeinert.
Point of view und Perspektive
Im angelsächsischen Sprachraum wird traditionell von point of view gesprochen, was der deutschen Erzählperspektive entspricht. Hierbei geht es vor allem darum, Erzählungen, in denen die Geschichte durch das Bewusstsein einer Person (der Reflektorfigur) gefiltert ist, von solchen zu unterscheiden, in denen eine verschieden definierte ‚Außensicht‘ vorliegt. Stanzels Opposition zwischen Innen- und Außenperspektive in Kombination mit Erzähler- und Reflektormodus versucht, diese Unterscheidungen in ein Modell zu fassen. Dabei liegt in der Opposition Modus (Erzähler/Reflektor) die Betonung auf der Instanz, der die Sprache zuzuordnen ist (dem Erzähler, dem Bewusstsein der Reflektorfigur), während bei der Opposition Perspektive die Sicht von außen (und unbeschränkt) auf die fiktionale Welt (externe Perspektive) mit der Sicht von innen, also beschränkt auf das Wissen und die Wahrnehmung der Reflektorfigur (interne Perspektive), kontrastiert ist.
Fokalisierung
Statt der Modelle, die Bewusstsein, Sprache, Position (intra-/extradiegetisch) und Blickpunkt miteinander kombinieren, haben Genette und dann Mieke Bal eine revolutionäre Umstrukturierung des Begriffs point of view vorgenommen und den erzähltechnischen Terminus „Fokalisierung“ eingeführt. Diesem Modell liegt zugrunde, dass die Begriffe Perspektive (,wer sieht‘) und Stimme (,wer spricht‘) grundlegend getrennt werden.
Genette unterscheidet zwischen Nullfokalisierung (focalisation zéro) und dem Paar limitierte Sicht (focalisation interne und focalisation externe). Die Nullfokalisierung entspricht Stanzels auktorialer Erzählsituation, in der der auktoriale Erzähler über der Welt der Handlung steht, auf diese ‚herabblickt‘, in die Herzen der Figuren hineinzusehen vermag, aber auch verschiedene Schauplätze ‚besuchen‘ kann. Diese Perspektive ist nicht eingeschränkt. Eingeschränkt sind hingegen die interne und externe Fokalisierung; bei der internen auf die Perspektive einer handelnden Person; bei der externen auf eine externe Sicht auf die Welt und andere Personen (keine Innensicht möglich). Durch Unterscheidung von Fokalisierungsinstanz und Fokalisierungsobjekt sowie von sichtbaren und unsichtbaren Fokalisierungsobjekten gelingt es Mieke Bal, diese Typologie noch weiter zu verfeinern. In einem personalen Roman wie James Joyces Jugendbildnis (A Portrait of the Artist as a Young Man, 1916) ist Stephen Dedalus, die Reflektorfigur, die Fokalisierungsinstanz, die aber nur sich selbst als unsichtbares Fokalisierungsobjekt hat und in ihrer Umwelt und anderen Figuren nur sichtbare Fokalisierungsobjekte betrachtet. In einem auktorialen Roman wie Fieldings Tom Jones liegt die Fokalisierungsinstanz beim Erzähler, der sowohl sichtbare wie unsichtbare Fokalisierungsobjekte in der fiktionalen Welt sieht. (Bal nennt ihn dann den narrateur-focalisateur.) In der Ich-Erzählung (z.B. David Copperfield) schließlich ist die Fokalisierungsinstanz zwar der Erzähler, er hat aber eine ebensolche Beschränkung der Perspektive wie die Reflektorfigur Stephen Dedalus: Außer bei sich selbst, kann er nur sichtbare Fokalisierungsobjekte wahrnehmen. Bal klärt also die limited perspective als Beschränkung der Perspektive auf Außensicht bezüglich der unsichtbaren Fokalisierungsobjekte (Selbstsicht ist jederzeit möglich).
Im Vergleich dazu habe ich im obigen Modell (Abbildung 9) nicht von Beschränkung der Perspektive gesprochen, sondern stattdessen den Zugang zum Bewusstsein von anderen sozusagen thematisch als Kategorie eingesetzt. Somit hat auch der auktoriale Erzähler eine Selbstsicht ins eigene Bewusstsein (die er jedoch nur auf der Erzählebene einsetzen kann).
Perspektivenstruktur
Der Begriff „Perspektive“ wird jedoch auch neuerdings in Anlehnung an Manfred Pfisters Dramentheorie von Ansgar Nünning im Kontext der Perspektivenstruktur von literarischen Werken verwendet. Hier geht es darum, die Bedeutung oder Textintention von dramatischen Texten (in denen ja meist kein Erzähler existiert) durch Vergleich und Koordinierung verschiedener ‚Perspektiven‘ (der des Publikums, der einzelnen Figuren) zu ermitteln. Die ideologischen Positionen der einzelnen Personen können alle in dieselbe Richtung weisen (geschlossene Perspektive), so dass eine einheitliche Antwort auf aufgeworfene Fragen impliziert wird. Andererseits können die verschiedenen Weltbilder in ganz verschiedene Richtungen deuten, womit die Perspektivenstruktur offen bleibt (offene Perspektive). In der traditionellen Erzählung ist daher die Einstellung (viewpoint, bzw. point of view) des Erzählers eine oft privilegierte, geschlossene Perspektive; die Perspektivenstruktur kann aber auch offen bleiben, wenn zwischen den Ansichten des Erzählers und der Figuren nicht eindeutig zu entscheiden ist. Romane des 19. Jahrhunderts wie diejenigen von George Eliot sind typische Beispiele von geschlossener Perspektivenstruktur; moderne Texte wie die Romane von Virginia Woolf sind typisch für eine offene Perspektivenstruktur, in der die ‚Wahrheiten‘ der Figuren nicht in einen Konsens gepresst werden können.
Dies beendet den Kurzüberblick über die wichtigsten erzähltheoretischen Kategorien. Als nächstes wollen wir uns der Textoberfläche zuwenden.