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Der Erzähler: Person
ОглавлениеIch- und Er-Erzählung
Das Verhältnis von Erzählern zu den von ihnen ‚erzählten‘ Personen, das in der Erzähltheorie mit dem Terminus „Person“ bezeichnet wird, gibt auch Anlass zu grundlegenden Überlegungen zu den Strukturen der Erzählung. Wenn wir das tägliche mündliche Gespräch betrachten, so finden sich darin viele Erzählungen dessen, was uns selbst widerfahren ist. Kurt berichtet z.B. über seine Abenteuer in Indien, wie er fast bei einem Unfall mit einem Taxi sein Leben verlor. So eine Ich-Erzählung fokussiert einerseits die spannenden Ereignisse, aber authentifiziert sie auch durch die Schilderung Kurts, der nicht nur hier und heute all dies berichtet, sondern eben selbst dabei und zentral betroffen war. Da der Ich-Erzähler eine der ‚Figuren‘ der Handlung ist, bezeichnet Genette eine Ich-Erzählung als homodiegetisch (Erzähler = Figur) bzw., da Kurt die Hauptfigur ist und seine selbst erlebten Abenteuer schildert, auch als autodiegetisch (Selbsterzählung).
Obwohl diese Art von Geschichte in Alltagsgesprächen überwiegt, gibt es auch manche Erzählungen, in denen wir das schildern, was anderen passiert ist (die uns das meist vorher berichtet haben), wie das in der urban legend der Fall ist. Die Riesenspinne, die sich im Supermarkt in der Bananenstaude verbirgt und dann in der Küche ihr Unwesen treibt, ist ein typisches Beispiel für solche Geschichten. Hier sind Erzähler und Protagonisten verschiedene Personen, weshalb Genette von heterodiegetischen Erzählungen (Erzähler ≠ Figur) spricht. Im Gegensatz zum mündlichen Erzählen ist in der Literatur die Welt des Er-Erzählers, wie er auch oft genannt wird, eine ganz unterschiedliche von der der Romanfiguren. Der märchenonkelhafte Erzähler in Fontanes Stechlin (1899) z.B. gewinnt nie die Konturen, die für uns ein Freund hat, der uns von den Erlebnissen seiner Eltern in New York berichtet – Peter steht, während er erzählt, vor uns und fuchtelt mit den Händen herum. In der Literatur hingegen wird die Vermittlerebene meist als sekundär zur Geschichte erlebt, die Erzählerfigur ist oft nicht mehr als eine Stimme.
Wir-Erzählung
Diese Unterscheidung Ich-/Er-Erzählung (bzw. Homo-/Heterodiegese) verdeckt allerdings noch weitere mögliche Varianten. Es gibt nämlich eine breite Palette von Variationen im Verhältnis zwischen Erzähler- bzw. Leserfiguren einerseits und Charakteren andererseits. Eine im mündlichen Erzählen recht häufige Variante ist die der Wir-Erzählung: Ehepaare, Soldaten, Sportler, Schüler, Pfadfinder – sie alle erleben Brisantes gemeinsam und berichten davon in der ersten Person Plural. Aber auch über plurale Andere kann erzählend gesprochen und geschrieben werden, obwohl das bereits viel seltener ist. In der Narratologie hat sich vor allem Uri Margolin der Wir-Erzählung angenommen (u.a. Margolin 2000).
Du-Texte
Eine besonders auffällige Konstellation ist die Du-Erzählung, in der die Geschichte einer Leserfigur geschildert wird. Im Deutschen ist diese Variante des Figurenverhältnisses zwischen Erzählebene und Geschichtsebene eher selten, während in der englischsprachigen Literatur und in den romanischen Sprachen eine Vielzahl von Werken dieser Machart existiert. So beginnt der Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino mit einer Anrede an den Leser, und es wird in der Folge geschildert, wie diese Leserfigur in den Buchladen ging und sich den Roman kaufte.
Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen. Sag es den anderen gleich: „Nein, ich will nicht fernsehen!“ Heb die Stimme, sonst hören sie’s nicht: „Ich lese! Ich will nicht gestört werden!“ Vielleicht haben sie’s nicht gehört bei all dem Krach; sag’s noch lauter, schrei: „Ich fang gerade an, den neuen Roman von Italo Calvino zu lesen!“ Oder sag’s auch nicht, wenn du nicht willst; hoffentlich lassen sie dich in Ruhe.
Such dir die bequemste Stellung: sitzend, langgestreckt, zusammengekauert oder liegend. Auf dem Rücken, auf der Seite, auf dem Bauch. Im Sessel, auf dem Sofa, auf dem Schaukelstuhl, auf dem Liegestuhl, auf dem Puff. In der Hängematte, wenn du eine hast. Natürlich auch auf dem Bett oder im Bett. Du kannst auch Kopfstand machen, in Yogahaltung. Dann selbstverständlich mit umgedrehtem Buch.
Sicher, die ideale Lesehaltung findet man nie. Früher las man im Stehen, vor einem Lesepult. Man war ans Stehen gewöhnt. Man entspannte sich dadurch vom Reiten. Beim Reiten zu lesen, ist noch niemandem eingefallen; und doch reizt dich jetzt der Gedanke an ein Lesen im Sattel, das Buch an die Mähne des Pferdes gelehnt, womöglich mit einem besonderen Zaumzeug an den Ohren befestigt. Mit den Füßen in Steigbügeln müsste man sehr gut lesen können, hochgestützte Füße sind die erste Bedingung für den Genuß einer Lektüre. (Calvino 1983: I, 7)
In Calvino kann sich der Leser zunächst persönlich zu den beschriebenen Handlungen aufgefordert sehen; erst später häufen sich mit dem Gebrauch der Mitvergangenheit die Hinweise, dass das Du doch eine fiktionale Figur sein muss.
Viele Du-Texte sind aus der subjektiven Sicht der Romanfigur geschrieben, auf die mit „du“ referiert wird, ohne dass eine Erzählerfigur oder eine Leserfigur kenntlich würden. Dies trifft z.B. auf Ilse Aichingers „Spiegelgeschichte“ zu, in der eine Frau ihr Leben quasi im Retourgang erlebt, wodurch am Ende ihr Sterben mit dem Erinnern ihrer Geburt zusammenfällt.
Experimente mit Personalpronomina in postmoderner Literatur haben diese Möglichkeiten noch ausgereizt und Texte mit erfundenen Personalpronomina oder mit unpersönlichem „es“ (engl. „it“) oder „man“ (frz. „on“) ausprobiert (Fludernik 1996: 222-36).
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass alle genannten Pronomina („er“, „sie“, „du“, „wir“, „es“) sich auf die Protagonisten der Erzählung beziehen. Der Erzähler, so er pronominal zutage tritt, ist immer „ich“, auch wenn es sich um einen Er-Roman oder Du-Text handelt. Der Erzähler spricht (daher „ich“); die Personen, über die er spricht, sind „er“, „sie“, „wir“, „du“ etc.
Nur wenn der Erzähler selbst auch eine Figur ist, handelt es sich um eine Ich-Erzählung. Diese terminologische Wirrnis wird von Genettes Terminologie (Homo/Heterodiegese) geschickt umschifft.