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Zeit

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Neben dem Verhältnis der Kommunikationsebene zur Ebene der dargestellten Welt ist auch die zeitliche Gestaltung der Erzählung ein wesentliches Strukturelement. Einerseits ist hier die Chronologie der Ereignisse in der dargestellten Welt mit der Anordnung der Ereignisse auf der Darstellungsebene zu berücksichtigen, andererseits das Verhältnis der Zeitausdehnung zwischen Geschichte und narrativem Diskurs.

Zeittempo: Erzählzeit und erzählte Zeit

Dieses letztere wird oft unter dem Begriff „Tempo“ behandelt. Grundsätzlich geht es beim Erzähltempo darum, wie viel Lese- oder Sehzeit welcher Dauer der Ereignisse an sich gegenübersteht. Das Erzähltempo ergibt sich aus dem Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit (Günther Müller 1948). Nur selten sind Erzählzeit und erzählte Zeit isochron; meist lassen sich, in Genettes Terminologie, Anisochronien beobachten. Man unterscheidet nach Genette, Chatman und anderen fünf grundsätzliche Möglichkeiten.

Raffung

a) Die Erzählzeit (engl. discourse time, frz. récit) ist gegenüber der Geschichte (der erzählten Zeit; engl. story time, frz. histoire) stark gerafft (engl. summary, frz. sommaire). Beispiel: Am Beginn und Ende von Romanen werden oft die Jugend des Helden oder sein Leben nach Ende der Haupthandlung (z.B. nach der Heirat) in einem Kapitel zusammengefasst. So ist imnachfolgenden fiktiven Beispiel die Kindheit des Helden (Kap. 1) stark gerafft auf vier Seiten dargestellt, während spätere Abschnitte (z.B. der Beginn seines Studiums) auf fünf Seiten die Ereignisse von drei Monaten zusammenfassen.


Abb. 7a: Modell von Erzähltempo

b) Die Erzählung ist leicht gerafft (siehe Kapitel 2 in Abb. 7a). Lämmert nennt dies „zeitraffendes Erzählen“ (1993: 84).

Isochronie

c) Die Erzählung dauert ebenso lange wie die Ereignisse (engl. scene, frz. scène, dt. Isochronie, auch: zeitdeckendes Erzählen [Lämmert; Martínez/Scheffel 43]). Dieser Fall kann eigentlich nur in der wortwörtlichen Wiedergabe von Figurenrede eintreten oder bei Beschreibungen von kurz aufeinander folgenden raschen Handlungen, z.B. bei Raufereien. Bereits „Er stieg die Treppe hoch und klopfte an ihre Tür“ ist verzerrt – das Treppensteigen dauert sicher länger als das Anklopfen, nimmt aber genauso viel Platz im Erzähltext ein. Der Film ist da wesentlich mimetischer, da er Ereignisse generell in derselben Zeitdauer wiedergibt; doch ist auch dort Selektion überall am Werk: Autofahrten, Arztbesuche, Schlaf etc. werden im Film ebenso radikal gerafft bzw. eliminiert wie im Roman.

d) Die Darstellungsebene dehnt die Ereignisse durch Beschreibung oder Dehnung Gedankendarstellung. Im Film würde dieser Fall der Technik des slow motion entsprechen. Chatman hat von stretch gesprochen, Bal von slow-down, Lämmert von zeitdehnendem Erzählen. Am eindrucksvollsten kann man

dies an der Darstellung von Sterbeszenen sehen, in denen der Protagonist sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen sieht. Der relativ kurze Moment des Sterbens wird dann von vielen Seiten Beschreibung gefüllt (so in Kapitel 8 in Abbildung 7b):


Abb. 7b: Modell von Erzähltempo

Pause

e) Schließlich kann die Funktion der Beschreibung von Landschaften, von Bewusstsein oder von soziohistorischen Hintergründen (Kommentar) mitüberhaupt keinem Geschehen auf der Ebene der dargestellten Welt korrelieren – in diesem Fall handelt es sich um eine „Pause“ (Genette), so wie für Kapitel 35 gezeigt:


Abb. 7c: Modell von Erzähltempo

Ellipse

f) Der genau umgekehrte Fall tritt ein, wenn ein Ereignis der dargestellten Welt auf der Darstellungsebene überhaupt nicht erwähnt wird. Es handelt


Abb. 8: Fünf Typen des Verhältnisses Erzählzeit – erzählte Zeit (nach Martínez/Scheffel 44)

sich dann um eine narrative Ellipse (Zeitsprung, Aussparung), die meist zur Erhöhung der Spannung dient. Eigentlich ist die Ellipse nur die radikalste Form der Raffung, die ja ebenfalls auf Selektion zurückgeht. Vieles wird einfach weggefiltert, da sonst die Erzählung mit Details überfrachtet wäre. Wie bereits Tristram Shandy im gleichnamigen Roman Laurence Sternes ausführt, wenn man sein Leben in allen Details so genau schildert, wie es sich zugetragen hat, dann stirbt man, bevor man mit seiner Autobiografie am Ende ist. Das hier vorgestellte Modell ist das einer Skala:

Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass dieses Modell nach Genette und Chatman völlig auf Ereignisse fokussiert ist, die eine Bemessung der erzählten Zeit erlauben. Erzählungen (post-)moderner Prägung, in denen die zeitliche Ausdehnung der dargestellten Welt unbestimmt bleibt, widersetzen sich auch einer Erzählstruktur, die an der Zeitdauer gemessen wird. So wie im folgenden die Achronie für Texte gilt, in denen die zeitliche Abfolge von Ereignissen verschleiert wird, gibt es auch Texte, in denen die tatsächliche ‚Dauer‘ der Ereignisse unbestimmbar bleibt.

Chronologie: Analepsen

Dasselbe gilt für die Anordnung bzw. Reihenfolge von Ereignissen zwischen der dargestellten Welt und dem narrativen Diskurs. Obwohl die meisten Romane, Epen und Filme eine chronologische Struktur aufweisen, manchmal nachdem sie eine stark geraffte Vorgeschichte eventuell in Rückblende geliefert haben oder den Erzählbeginn zwecks größerer Eindringlichkeit medias in res, mitten im Geschehen, gestalteten, hat die Erzähltheorie in der Folge von Genette sich besonders auf die sogenannten Anachronien, also Abweichungen von der Chronologie der Geschichte, gestürzt. Am häufigsten trifft man auf die Rückblende (engl. flashback, analepsis, frz. analèpse), in der frühere Ereignisse erzählt werden, oft als Teil einer Erinnerung der Heldin oder als Erklärung für unerwartete Ereignisse, die gerade geschildert wurden. Im Roman traditionellen Gepräges werden Analepsen oft mit dem Wechsel des Erzähltempus ins Plusquamperfekt signalisiert; im Film kann die Vergangenheit, wie überhaupt die Erinnerung von Protagonisten, durch dissolves (Überblendungen), aber auch durch Wechsel zu Schwarz-Weiß-Fotografie markiert sein. Ein Roman, der sehr stark mit Analepsen arbeitet, ist Michael Ondaatjes Der englische Patient (The English Patient, 1992). Auch in der Verfilmung werden die Ereignisse, die zu den Verbrennungsverletzungen Almásys führen, erst langsam durch Serien von Rückblenden klar.

Prolepse, Achronie

Der umgekehrte Typus, die Prophezeiung oder Prolepse (engl. prolepsis, frz. prolèpse), ist ein eher seltener Fall, obwohl diese Strategie in Romanen des 19. Jahrhunderts häufiger vorkommt. Typisch für postmoderne experimentelle Texte ist die sogenannte Achronie – hier lässt sich nicht feststellen, in welcher Reihenfolge Ereignisse stattfanden, so dass auch keine chronologische Reihenfolge bzw. keine Feststellung, ob die Darstellung chronologisch ist, möglich wird. So ist z.B. der berüchtigte Tausendfüßler in Robbe-Grillets Roman Die Jalousie oder die Eifersucht (La jalousie, 1957) nicht chronologisch in die Handlungsstruktur einzubauen, zumal auch nie klar wird, ob der Ehemann das Insekt einmal erschlägt oder es sich um mehrere solche Szenen handelt. (Nach Genette wird auch in der Kategorie Frequenz danach unterschieden, ob ein Ereignis einmal [singulativ] berichtet wird oder dasselbe Ereignis öfter erzählt wird [repetitive Erzählung], bzw. ob mehrere gleiche Ereignisse verkürzend einmal berichtet werden.) Der Tausendfüßler könnte in seiner häufigen Wiederkehr im Text also auch für die psychische Obsession des Helden stehen, der den Tausendfüßler nicht vergessen kann.

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