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II. Die Erzähltheorie

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Definition

Die Erzähltheorie, oder mit dem international anerkannten Terminus: die Narratologie (engl. narratology, frz. narratologie), ist die Wissenschaft vom Erzählen. Es handelt sich hierbei um die Untersuchung der Erzählung als Gattung mit dem Ziel, ihre typischen Konstanten, Variablen und Kombinationen zu beschreiben und innerhalb von theoretischen Modellen (Typologien) die Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften narrativer Texte zu klären. In der Bundesrepublik ist auch der Terminus „Narrativik“ gebräuchlich. (Zu den terminologischen Differenzierungen vgl. Cornils/Schernus und andere Beiträge in Kindt/Müller [2003].)

Das linguistische Modell

Die Methoden der Erzähltheorie sind von der modernen Linguistik inspiriert. So wie die Sprachwissenschaft durch eine synchrone Untersuchung des Sprachsystems (Saussures langue) aufzeigt, wie durch die Opposition und Kombination von Basiselementen (Phonemen, Morphemen, Syntagmen, etc.) sinnvolles Sprachmaterial entsteht, so versucht die Erzähltheorie zu eruieren, wie „aus Sätzen Erzählungen werden“ (vgl. Grabes 1978), d.h. wie man aus dem Erzähltext Rückschlüsse auf das Erzählsystem ziehen kann. Wir haben bereits im ersten Kapitel von der Unterscheidung zwischen Geschichte und Erzähltext (histoire und discours bzw. story und discourse) gehört – eine Unterscheidung, die den linguistischen Kategorien histoire and discours des französischen Sprachwissenschaftlers Émile Benveniste (1902–1976) nachempfunden ist. Nicht nur, dass die Geschichte für viele Narratologen eine Art langue ist, deren pragmatische Manifestation als parole im erzählerischen Diskurs (dem Erzähltext, wie er uns als Satzfolge und Absatzfolge beim Lesen entgegentritt) gedeutet wird. Auch die zeitlichen Verschiebungen, die im Erzähltext gegenüber der Chronologie der Geschichte zutage treten (vgl. Kapitel IV), lassen sich mit sprachwissenschaftlichen Modellen deuten, insbesondere mit syntaktischen Paradigmen. Die veränderte Anordnung von Plotelementen (z.B. Beginn der Erzählung medias in res mit diversen Rückblenden) kann mit Wortstellungsvarianten oder mit den Verschiebungen von Konstituenten zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur in der generativen Grammatik verglichen werden. Eine ganze Richtung der Textlinguistik der sechziger und siebziger Jahre, die sogenannte Textgrammatik, versuchte zum Beispiel, Erzähltexte in sogenannte Narreme zu gliedern und die Kombinationen derselben zu analysieren (vgl. van Dijk 1972).

Angesichts der linguistischen Vorbilder der Narratologie wundert es einen nicht, wenn die Modelle der Erzählforscher weitgehend von binären Oppositionen dominiert werden: Geschichte vs. Erzähltext; Erzähler vs. Adressat (engl. narrator – narratee; frz. narrateur – narrataire); homodiegetisch vs. heterodiegetisch (Genette). (Zur Opposition Erzählerfigur vs. Leserfigur vgl. unten in Kapitel IV, zur Opposition Ich/Er-Erzählung in Kapitel IV und IX.) Manche Typologien verwenden Triaden (so wie Stanzel mit seinen drei Erzählsituationen). Die deutsche Tradition der sogenannten Morphologie bevorzugt hingegen organisch-biologische Konzepte: sie basiert nicht auf der modernen Sprachwissenschaft, sondern auf Goethes Formenlehre und setzt ein organisches Modell voraus, in dem sich Erzählungen sozusagen entfalten. Der Klassiker dieser Art von Erzähltheorie ist Günther Müller mit seiner Morphologischen Poetik (1948).

Gegenstandsbereiche

Wie alle Wissenschaftszweige muss auch die Erzählforschung zunächst ihren Gegenstandsbereich klären; jede Erzähltheorie legt daher einmal fest, was ihre Definition von Erzählen/Erzählung ist. (Wir haben das oben unter dem Konzept der Narrativität bereits angesprochen.) Die Erzähltheorie ist im großen und ganzen textorientiert; die Kontexte der Produktion, Publikation, Verbreitung und Rezeption von Erzählungen stellen einen Randbereich der Erzähltheorie dar, der zu historisch-situativen Untersuchungen der Literaturwissenschaft überleitet. Dennoch werden wir im folgenden Kapitel kurz auf die Produktionsbedingungen und das Erscheinungsbild narrativer Texte eingehen.

Wie wir bereits in Kapitel I sahen, kreieren Erzählungen fiktionale Welten, in denen menschliche Wesen in Lebenswelten existieren und interagieren, die mit der realen Welt weitestgehend homolog sind. (Auch nicht-fiktionale Erzählungen kann die Realität nicht realiter wiedergegeben werden, sondern wir rekonstruieren sie, allerdings unter der Prämisse, dass diese Rekonstruktion der Wirklichkeit entspricht.) Als Konsequenz dieses Illusionismus (vgl. Kapitel VI) enthalten alle systematischen Erzähltypologien Abschnitte über die Erzähler- und Leserfigur(en), über die Darstellung von Raum, Zeit und handelnden Personen (Aktanten) auf der Ebene der Geschichte sowie über die Erzählebenen (Rahmenhandlung u.a.m.) und die Gestaltung des Plots. (Der Begriff „Aktant“ referiert auf Protagonisten des Plots. Er geht auf Claude Bremond zurück und charakterisiert die von den Protagonisten ausgefüllte Handlungsfunktion. Vgl. unten in Kapitel IV.) Viel Raum nimmt besonders in der diskursorientierten Narratologie (in den Modellen von Genette, Prince, Chatman, Stanzel, Lanser, Fludernik) die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Geschichte und Erzähltext ein, wobei primär die Gestaltung des narrativen Diskurses (Erzählperspektiven [vgl. Kapitel IV und IX], Gedankendarstellung, Zeitraffung u.a.m.) im Vordergrund steht. Weitere Themen der Erzähltheorie sind die Unterscheidung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Texten, die mediale Gestaltung von Erzählung: Roman/Kurzgeschichte vs. Film, Drama, Cartoon usw., mündliches Erzählen, Internet, sowie das Narrative in Lyrik, Malerei, Musik. (Vgl. dazu Nünning/Nünning 2002a.)

Narratologie im Kontext der Literatur- und Kulturwissenschaften

Wie positioniert man die Erzähltheorie in der wissenschaftlichen Landschaft? Die Narratologie ist traditionell eine Unterdisziplin der Literaturwissenschaft gewesen und hat besonders enge Bindungen an die Poetik und Gattungstypologie sowie die Literatursemiotik bzw. -semiologie. Einerseits befasst sich die Erzähltheorie also mit Gattungsaspekten wie mit dem Unterschied zwischen Lyrik, Dramatik und Epik; andererseits gehört eine historische, typologische und thematische Betrachtungsweise narrativer Gattungen (Bildungsroman, Schauerroman, Bewusstseinsroman; Fabel, Anekdote, Kurzgeschichte, Roman, usw.) zu den Grundvoraussetzungen jeder literaturwissenschaftlichen Arbeit. Große Ähnlichkeit weist die Narratologie auch mit der Poetik auf, da sie ebenfalls – allerdings nur für das Narrative – die Eigenschaften literarischer (in diesem Falle: narrativer) Texte und ihrer ästhetischen (erzähltechnischen) Funktionen untersucht. Darüber hinaus ähnelt die Narratologie insofern der Semiotik, als sie die Konstituierung von (narrativer) Bedeutung in Texten (Filmen, mündlichem Erzählen, etc.) analysiert.

Unklar bleibt trotz dieser Affinitäten mit Poetik und Semiotik, in was für einem Verhältnis die Narratologie zur Literatur steht. Einerseits geht das Anwendungsgebiet erzähltheoretischer Einsichten weit über das literarische Erzählen hinaus und kann sogar auf therapeutische Anwendungen des Erzählens ausgedehnt werden. Andererseits hat die Erzähltheorie gerade in der Beschäftigung mit der hochkomplexen Gattung des Romans Profil gewonnen und unzählige auch literaturwissenschaftlich interessante Einsichten geliefert.

Umstritten ist insbesondere das Verhältnis von Erzähltheorie und Interpretation (vgl. dazu Kindt/Müller 2003). Während die Narratologie sich prinzipiell als Theorie sieht, die das Was und Wie des Erzählens untersucht und diese systematisieren möchte, betonen viele Narratologen, dass die erzähltheoretischen Beschreibungskategorien ihnen wesentliche Anregungen bei der interpretatorischen Textarbeit geliefert haben, und die meisten Literaturwissenschaftler sind sich darin einig, dass die Präzision erzähltechnischer Termini einen klareren Umgang mit Texten ermöglicht.

Die engsten Beziehungen unterhält die Erzählforschung allerdings mit der Komparatistik und der Textlinguistik. Der hervorstechendste Aspekt der Narratologie ist nämlich ihre implizit universelle Gültigkeit. Dementsprechend sind die Modelle von Gérard Genette oder F. K. Stanzel, um nur die zwei wichtigsten, meist verbreiteten Typologien zu nennen, mit Textbeispielen aus mehr als einer Nationalliteratur bestückt, und auch in diesem Band werden deutsche, englischsprachige und französische Texte als Belege zitiert. Die unterstellte Universalität der narratologischen Beschreibungsmodelle zeigt sich auch in der Affinität der Erzähltheorie zur Textlinguistik, die ebenfalls erklären will, wie Texte (an sich) funktionieren. In den in Großbritannien weit verbreiteten Studiengängen Literature and Linguistics bzw. Stylistics werden literarische Texte (Vers, Drama, Prosa) mit textlinguistischen Methoden untersucht. Dabei sind die von der Narratologie produzierten Erkenntnisse über Erzähltexte innerhalb der Textlinguistik für Untersuchungen der Textsorte Erzählung einschlägig. Eine ausführlichere praktische Illustration dieser Kooperation zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft findet sich unten in Kapitel V.

Geschichte der Erzählforschung

Die theoretische Betrachtung des Erzählens geht auf Friedrich Spielhagens und Otto Ludwigs Untersuchungen zum Roman zurück (Spielhagen 1967 [1883], Ludwig 1891). Erzähltheoretische Einsichten wurden jedoch auch um die Jahrhundertwende von romanistischen (u.a. Charles Bally) und anglistischen (Fritz Karpf) Sprachwissenschaftlern gewonnen, die sich mit dem Phänomen des französischen imparfait bei Flaubert befassten und die Rede- und Gedankenwiedergabe in der sogenannten erlebten Rede entdeckten. (Mehr dazu in Kapitel VII und VIII.)

Frühe Klassiker

Wichtige Beiträge zur Erzählforschung im frühen 20. Jahrhundert kamen von Käte Friedemann (1910), Henry James (in den Vorworten zu seinen Romanen, gesammelt in The Art of the Novel), E. M. Forster (Aspects of the Novel, 1927) und Percy Lubbock (The Craft of Fiction, 1921). Einen ersten Höhepunkt erreichte die deutschsprachige Erzähltheorie in den fünfziger Jahren, als einige der noch heute gelesenen Klassiker der Erzählforschung veröffentlicht wurden: Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung (1957); F. K. Stanzels Die typischen Erzählsituationen im Roman (1955) und Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens (1955). Norman Friedmans Aufsatz zu point of view (1955) erschien zeitgleich in den USA. Diese Typologien sind bis heute in der deutschen Erzählforschung aktuell. Gleichzeitig begann über den Band Theory of Literature von René Wellek und Austin Warren (1949) die Verbreitung formalistischer (auch narratologischer) Erkenntnisse in englischsprachigen Ländern, so dass die Arbeiten der russischen Formalisten, zum Beispiel von Viktor Šklovskij, Boris Eichenbaum, Jurij Tynjanov u.a., rezipiert wurden. In der russischen Narratologie, die vom Formalismus begründet wurde, figurierten insbesondere Roman Jakobson (der sich eigentlich mehr mit Lyrik befasste, aber wesentliche methodische Impulse lieferte), V. N. Vološinov, Michail M. Bachtin, Boris Uspenskij sowie später der Textlinguist und Semiotiker Jurij Lotman. Neben Jakobson, der den Prager Strukturalismus mitbegründete, ist auch der tschechische Literaturwissenschaftler Jan Mukarořský zu nennen, der auf den späteren narratologischen Strukturalismus einen entscheidenden Einfluss ausübte.

Die deutsche Erzählforschung

Noch bevor der französische Strukturalismus die Narratologie erfand, hatte sich in Deutschland in den späten vierziger und fünfziger Jahren ein erzähltheoretischer Forschungsschwerpunkt gebildet, der eine erste Blüte der Erzählforschung produzierte. Günther Müllers Morphologische Poetik, Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens (1955), Franz Karl Stanzels Die typischen Erzählsituationen im Roman (1955) sowie Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung (1957) lieferten wesentliche Impulse für die weitere, auch die strukturalistische, Erzählforschung und stellten systematische Beschreibungsmodelle und terminologische Kategorien zur Verfügung. Die Arbeiten von Lämmert und Stanzel sind bis heute Standardtexte in Einführungskursen ins literaturwissenschaftliche Arbeiten.

Der französische Strukturalismus

Die heutzutage als klassische Phase der Narratologie gesehene Epoche entwickelte sich innerhalb des Strukturalismus in Frankreich und umfasst die Arbeiten von Claude Bremond, Algirdas Julien Greimas, Tzvetan Todorov, Roland Barthes und Gérard Genette. Ein signifikanter Einfluss auf diese Forschung stellten die Märchenanalysen des russischen Strukturalisten Vladimir Propp (1895–1970) dar, dessen Morphologie des Märchens (1928) direkt auf Bremond wirkte und die Möglichkeit einer Grammatik des Erzählens eröffnete, deren Kenntnis es zu erlauben schien, alle Erzählungen auf eine beschränkte Anzahl von Grundformen und Grundbausteinen zurückzuführen. Propps Modell, nach dem die untersuchten Märchen 31 Funktionen wie die des Helden, des (magischen) Helfers oder des Widersachers enthielten, beeinflusste z.B. das Aktantenmodell von Bremond und Greimas. Des weiteren suggerierte es eine Ausweitung strukturalistischer Ansätze in Richtung der generativen Grammatik von Noam Chomsky mit Transformationen von der Tiefen- in die Oberflächenstruktur; es bereitete so auf spätere Textgrammatiken vor, in denen tiefenstrukturelle Narreme an die Textoberfläche, in Sätze und Absätze, transponiert werden.

Für die weitere Entwicklung der Erzähltheorie wurde jedoch der Rhetorikspezialist Gérard Genette ausschlaggebend. Sein dritter Band der Trilogie Figures, Le discours du récit (1972), konzentrierte sich ganz auf den Erzählerbericht des Romans und verwob die Einsichten vieler früherer Forscher zu einem neuen terminologischen Gebäude, das nach streng binären Prinzipien konstruiert war. Durch die verspätete Einwirkung des Strukturalismus in den USA wurde Genettes Modell knapp vor der poststrukturalistischen Wende in der Anglistik und Literaturtheorie Nordamerikas verbreitet, wo es viele Nachfolger fand: Gerald Prince, Seymour Chatman, Dorrit Cohn, Susan Lanser, um nur die allerwichtigsten zu nennen. Wir werden den Werken dieser AutorInnen im Laufe des Buches öfter begegnen.

Jüngere Entwicklungen

Auch in deutschsprachigen Ländern fand die Erzähltheorie weite Verbreitung und Anerkennung. Stanzels Erzählsituationen wurden und werden noch standardmäßig an Universitäten gelehrt, und seine überarbeitete Fassung des Modells in der Theorie des Erzählens von 1979, erw. 1982 und mittlerweile in seiner siebten Auflage, fand auch international in der englischen Übersetzung von 1984 große Anerkennung. Neben Stanzel und Lämmert produzierten Helmut Bonheim und Wilhelm Füger wesentliche Beiträge zur Narratologie, die jedoch stärker textlinguistisch-strukturalistisch orientiert waren.

In den USA hat sich die Erzählforschung nach dem poststrukturalistischen Einbruch stark gewandelt und in vieler Hinsicht die Anregungen der verschiedensten theoretischen Wellen aufgenommen. So wurden psychoanalytische Modelle in die Erzählforschung integriert (Brooks 1985, Chambers 1984), feministische Ansätze praktiziert (Warhol 1989, Lanser 1992) und generell diskurskritische und ideologische Modelle favorisiert (so u.a. Cohan/Shires 1988; Armstrong/Tennenhouse 1993). Die Tagungen der Society for the Study of Narrative Literature (SSNL) dokumentieren eindringlich die breite Vielfalt von amerikanischer Erzählforschung und ihrer Einbindung in diverse theoretische Modelle vom Postkolonialismus bis zur queer theory.

Unter den heute namhaften Narratologen sind vor allem folgende zu nennen: Einerseits die Forscher aus Jerusalem und Tel Aviv (wo die narratologische Zeitschrift Poetics Today veröffentlicht wird): Meir Sternberg, Shlomith Rimmon-Kenan, Tamar Yacobi; zweitens aus den USA: Lubomír Doležel, Marie-Laure Ryan, David Herman; drittens im deutschen Sprachraum Ansgar Nünning, Manfred Jahn, Werner Wolf, Monika Fludernik. Viele andere Forscher wären noch zu nennen. (Einen Überblick geben die Einleitungskapitel zum Blackwell-Companion [Phelan/Rabinowitz 2005] und das Einleitungskapitel von Fludernik und Margolin zum Sonderheft der Zeitschrift Style zur deutschen Erzählforschung [Fludernik/Margolin 2004].)

Zeitschriften

Zu den wichtigsten narratologischen Fachzeitschriften gehören in Deutschland Poetica und die Germanisch-Romanische Monatsschrift, in den USA Style sowie Narrative, Journal of Narrative Technique/Theory (JNT) und Narrative Inquiry, in Israel Poetics Today. (Vgl. auch „RatschlĚge“ im Anhang.)

Heute

Die Erzählforschung hat in den letzten Jahren ihre Interessen über die theoretische Frage „Was ist Erzählung?“ sowie die systematische Beschreibung und Typologisierung von Erzählverfahren hinaus erweitert und die feministischen und poststrukturalistischen Theoriedebatten aus den USA absorbiert. Obwohl die Narratologie in den letzten zwanzig Jahren oft totgesagt wurde, lässt sich derzeit ein Boom feststellen, der neben der Vielzahl der Monografien, die erscheinen, auch an der Beliebtheit der Jahrestagung der Society for the Study of Narrative Literature (SSNL) abzulesen ist sowie an der Publikation zahlreicher Einführungen und Nachschlagewerke: Cobley (2001), Abbott (2002), Keen (2003), Luc Herman und Bart Vervaeck (2005) sowie der Routledge Encyclopedia of Narrative Theory (Herman et. al. 2005) und des Companion to Narrative Theory (Phelan/Rabinowitz 2005) bei Blackwell. Ein Cambridge Companion to Narrative (Hrsg. David Herman) ist in Arbeit. Dieser Boom wird in Deutschland durch die beinahe vollständig narratologisch ausgerichtete Reihe WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium wie auch durch zahlreiche Bände zu erzähltheoretischen Fragen von Ansgar und Vera Nünning bedient (vgl. Bibliografie). Die Internationalisierung der Erzähltheorie zeigt sich insbesondere daran, dass die Erzähltheorie Gérard Genettes nunmehr auch in Deutschland heimisch geworden ist (sowohl Martínez/Scheffel wie auch Wenzel lassen Genette in ihren Einführungen eine ausführliche Widmung seiner Theorie angedeihen). Darüber hinaus hat die Forschergruppe zur Narratologie in Hamburg durch die Organisation mehrerer internationaler Tagungen und mit der Initiierung einer neuen Reihe Narratologia beim de-Gruyter-Verlag die amerikanische, französische und deutsche Erzählforschung dezidiert miteinander verschränkt. Die Narratologie ist also derzeit eine international anerkannte Wissenschaftsdisziplin, die sich im Rahmen des ‚narrative turn‘ – der Wiederentdeckung des Erzählens als Methode in den Sozialwissenschaften – interdisziplinären Interesses erfreuen darf.

Erzähltheorie

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